Der Querdenker Jorge Oteiza
Jorge Oteiza gilt als einer der großen baskischen Künstler des 20.Jhs und als maßgeblicher Vertreter der baskischen Bildhauerschule. Im Gegensatz zu seinen Kollegen Eduardo Chillida und Nestor Basterretxea begnügte sich Jorge Oteiza nicht mit Kunst allein. Zeit seines Wirkens war er auf der Suche nach dem baskischen Wesen, nach der ästhetischen Essenz des Lebens im Baskenland, nach einer baskischen Philosophie. Auf diesem Weg schrieb Oteiza einige Werke, die seine Nachwelt bewegten.
Geboren 1908 in Orio (Gipuzkoa) begann Jorge Oteiza in den 20er Jahren seine künstlerische Laufbahn in San Sebastian (bsk: Donostia). Sein Weg führte ihn aus dem Baskenland nach Südamerika und Kanada, und später zurück nach Europa. Oteiza spielte eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der neu aufgebauten Basilika von Arantzazu in Gipuzkoa. Mitten im Franquismus war er mehrfach mit der Zensur konfrontiert, was ihn nicht davon abhielt, über Jahrzehnte hinweg verschiedene Künstler-Kollektive zu gründen, die den Weg zu einer baskischen Kunstschule ebnen sollten. Jorge Oteiza starb im Jahr 2003 und hinterlässt neben einer großen Zahl von öffentlich ausgestellten Werken ein Museum in Alzuza (Navarra), in dem er bis zuletzt lebte und arbeitete. (31.07.2014)
Wer Jorge Oteizas Werke in einer Ausstellung sieht – zum Beispiel in der ständigen Ausstellung im Museum der Schönen Künste in Bilbao – erkennt in seinen Werken eine Entwicklung. Die ersten Skulpturen sind massive, zusammenhängende Figuren oder Figurengruppen, deren Elemente kaum voneinander zu unterscheiden sind. Dann sehen wir Zwischenräume, Löcher, Durchblicke. Langsam weicht die Masse und macht der Leere Platz, der Nichtbesetzung, dem Raum, der Desokupation, so der Titel einer Skulptur in Bilbao. In dieser Leere, dem "uts" (bsk: null, leer) sieht Oteiza die baskische Seele verkörpert, die megalitischen Dolmen und Cromlechs.
Jahre in Lateinamerika
Oteizas erste Werke waren stark beeinflusst vom Kubismus und Primitivismus jener Zeit. Mit der Umsiedlung nach Südamerika 1934 beginnt er das Studium der Ästhetik der prä-kolumbianischen Kultur. Bis 1948 bleibt er in Bolivien, Kolumbien, Argentinien und Chile, was ihm das Leiden des spanischen Krieges von 1936 bis 1939 erspart. Er steht in Kontakt mit Künstlern wie Edgar Negret und Joaquin Roca Rey und widmet sich neben der Bildhauerei den Studien der Ästhetik. Es folgen verschiedene Anstellungen als Dozent, unter anderem an der Keramik-Schule von Buenos Aires und später in Popayan, Kolumbien. In dieser Zeit verfasst er zwei Schriften, die für das Verständnis seines Werkes fundamental sind: im Jahr 1944 den Brief an die Künstler Amerikas (Carta a los Artistas de América), der in der Zeitschrift der Universität von Cauca publiziert wird, sowie "Ästhetische Interpretation der megalitischen Bildhauerei in Amerika" (Interpretación estética de la estatuaria megalítica americana), 1952 veröffentlicht.
Zurück im Baskenland
Nach seiner Rückkehr nach Europa und ins Baskenland erhält Oteiza den Zuschlag, den Fries und die Fassade der im Wiederaufbau befindlichen Basilika Nuestra Señora de Arantzazu bildhauerisch zu gestalten (1949-1951), ein Auftrag, der ihm viele Probleme einbringt, weil Oteizas Gestaltungsideen weder beim Regime noch dem Vatikan Wohlwollen finden. Bei der Arbeit in Arantzazu – zusammen mit dem Architekten Franzisco Javier Saenz de Oiza – setzt er seine Theorien von der Schwächung des figürlichen Ausdrucks um und stellt sie in einen religiösen
Rahmen. Die Kirche verbietet die Gestaltung, der Bau wird erst 1969 vollendet, als die Figuren der 14 Apostel unterhalb der Darstellung der Jungfrau Maria mit dem toten Sohn installiert werden. Ein brisantes Konzept, denn der tote Knabe ist Oteizas künstlerische Umsetzung des ersten toten ETA-Mitglieds.
Ende der Bildhauerei
Nach dieser europäischen Erfahrung macht sich Oteiza erneut auf den Weg nach Lateinamerika, diesmal nach Brasilien, um an seinem "Experimentellen Vorschlag" zu arbeiten (1955). Mit diesem Titel stellt er sich 1957 bei der Biennale von São Paulo vor, eine seit 1951 veranstaltete Welt-Kunstausstellung und neben der Biennale von Venedig die zweitgrößte Kunst-Biennale der Welt. Oteiza erhält den Sonderpreis für Bildhauerei. In jenen Jahren wendet sich Oteiza der europäischen Geometrie-Tradition zu und steht unter dem Einfluss des Neoplastizismus und des sowjetischen Konstruktivismus. Die Wiederaneignung der europäsichen Geometrie-Ästhetik und Oteizas Einfluss auf die baskische Kultur schaffen die Basis dessen, was später die baskische Bildhauer-Schule genannt wird. Eduardo Chillida wird auf dem Kunstmarkt der bekannteste Vertreter dieser Schule. Nach dieser Phase erklärt Oteiza seinen Zyklus als Bildhauer für beendet (1959).
Der Künstler verkörpert die Verbindung zwischen der Zeit der Avantgarde und der Nachkriegs-Generation, sein Einfluss bezieht sich nicht allein auf die Kunst, sondern ebenfalls auf Kultur und Politik. Dennoch bewahrt er sich seine distanzierte und kritische Haltung gegenüber offizieller Anerkennung und seinen Charakter als Ikonoklast (Bilderstürmer) in ideologischer und politischer Hinsicht.
Sprache und Identität
Die baskische Sprache, das Euskara, spielte in den philosophischen, ästhetischen und anthropologischen Überlegungen von Jorge Oteiza eine wichtige Rolle. Vor allem untersuchte er das prähistorische Euskara als linguistische Quelle der baskischen Spiritualität und Ästhetik der Leere. Dabei wuchs Oteiza nicht mit dem Euskara auf. "Das Baskische war nicht meine Muttersprache und für diese nicht wiedergutzumachende Ungnade beschuldige ich meine Familie und mein Land", sagte er später in einem Interview. "Sprachlich bin ich ein verstümmelter Baske, die gefährlichste Spezies unter den Basken, aber auch die ehrenwerteste und revolutionärste, wenn sie es schafft, sich zu erholen, denn das Baskische erneuert sich selbst." – "Meine Kindheit hat mich fürs Leben geprägt. Ich war kein baskischer Junge. Manchmal hörte ich meine Eltern baskisch reden, aber mit uns Kindern haben sie nie baskisch gesprochen. Sie betrachteten es als minderwertige Sprache, die nur für die Bauern taugt. Erst als ich aus dem Baskenland weg gegangen bin, habe ich mich als Baske gefühlt." – "Wir lebten in San Sebastian, die Sommer verbrachten wir in Orio, das war für mich ein regelrechtes Leiden. Immer an der Hand des Großvaters, nie haben wir mit anderen Kindern gespielt, ich litt an fehlender Kommunikation, alles erschreckte mich, alles kam mir brutal vor, die Stimmen, die Spiele, die Feste". – "Als Kind war ich sprachlich verstümmelt, aber ich habe verstanden, dass meine Eltern vorher eine Verstümmelung schlimmerer Art erlitten hatten, sie haben ihr baskisches Bewusstsein verloren, ihre Mentalität".
Oteizas Erbe
Bereits elf Jahre vor seinem Tod, im Jahr 1992, vermachte Oteiza seinen Nachlass dem Volk von Navarra, in Form einer Stiftung mit seinem Namen. Im Dorf Alzuza, nördlich von Pamplona (bsk: Iruña), wurde das Oteiza-Museum eröffnet, direkt neben dem ehemaligen Wohnhaus und Atelier des Künstlers. Die Sammlung in Alzuza besteht aus 1650 Skulpturen, 2000 experimentellen Werkstatt-Arbeiten, Zeichnungen und Collagen, sowie seiner persönlichen Bibliothek. Die meisten Skulpturen des Meisters waren ursprünglich von kleinem Format. In seinen letzten Lebensjahren wurden von einigen dieser Entwürfe monumentale Skulpturen hergestellt, wie zum Beispiel jene, die vor dem Rathaus in Bilbao steht, die "Eiförmige Variante der Leerwerdung der Sphäre" (Variante ovoide de la desocupación de la esfera), deren erster Entwurf aus dem Jahr 1958 stammt. Dieser Monumentalismus stößt nicht nur auf Wohlwollen.
Der wahrscheinlich wichtigste Preis, den Oteiza für sein Werk erhielt, ist die Ehrung für Bildhauerei auf der 4.Biennale von Sao Paolo in Brasilien im Jahr 1957. Immer fühlte sich Oteiza in der avantgardistischen und experimentellen Kunst zu Hause. Die Verbindung zu diesen progressiven Sparten der Kunst brachten Oteiza in ideologischer und politischer Hinsicht in Konflikt mit der nationalistischen Ideologie, die zu jener Zeit im Baskenland vorherrschte. Oteiza entwickelte eine mythische und symbolische Philosophie, die sich immer wieder auf anthropologische, ethnische, und traditionelle Aspekte der baskischen Geschichte bezieht. Diese Gedanken über Kunst und kulturelles Leben der baskischen Gesellschaft fanden ihren Niederschlag in seinem Buch "Quousque tandem...!", das zuerst 1963 erschien und den Untertitel "Versuch der ästhetischen Interpretation der baskischen Seele" trägt (Ensayo de interpretación estética del alma vasca). Dieses Buch wurde zum Lehrbuch und Impuls für eine ganze Generation junger Baskinnen und Basken. Im Jahr 1988, achtzigjährig und 30 Jahre nach dem Ende seiner bildhauerischen Tätigkeit, erlebt Oteiza in Madrid seine erste antologische Ausstellung. Auch in Form von Poesie verdeutlichte Oteiza seine persönliche Reife. Zuerst im Jahr 1954 mit der Herausgabe des Buches "Androcanto y sigo" mit dem Untertitel "Ballett auf den Steinen der Straßenapostel" (Ballet por las piedras de los apóstoles en la carretera). Diese Publikation umging mit einer kleinen Auflage die Zensur, was jedoch gleichzeitig verhinderte, dass sie einem größeren Publikum bekannt wurde. Das Werk besticht durch seinen symbolischen und ästhetischen Charakter.
Jorge Oteiza – biografische Daten
1908. Geburt am 21.Oktober in Orio in Gipuzkoa.
1931: Donostia. Erster Preis für junge Künstler aus Gipuzkoa. Im dritten Kurs gibt er das Medizinstudium auf.
1933: Donostia. Zweiter Nachwuchspreis.
1934: Donostia. Ausstellung mit den Malern Lekuona und Balenciaga. Übersiedlung nach Südamerika.
1935: Buenos Aires. Ausstellung mit Balenciaga.
1936: Santiago de Chile. Gründung des experimentellen politischen Theaters und Mitarbeit bei der Volksfront.
1937: Die Volksfront verliert die Wahlen. Rückkehr nach Buenos Aires.
1941: Buenos Aires. Dozent an der Nationalen Keramik-Schule.
1942: Bogota. Anstellung bei der kolumbianischen Regierung zur Organisierung der staatlichen Keramik-Ausbildung.
1944: "Brief an die Künstler Amerikas über neue Kunst in der Nachkriegszeit". Idee einer neuen globalen Kunst. Kritik am mexikanischen Muralismus. Funktionale Erweiterung des Raums, ästhetisches Konzept von Zeit und Dimension.
1946: Bogota. Konferenzen über die Bedeutung des Raumes von El Greco bis Goya und Picasso, sowie über Volkskunst.
1947: Bericht über objektive Ästhetik und die Untersuchung der megalitischen Bildhauerei in Amerika. Gründung der Gruppe Raum für Experimente, mit Bildhauern und Malern.
1949: Donostia. Erster Preis beim Wettbewerb für ein Monument für Felipe IV auf dem Platz der Verfassung (nicht realisiert). Ausstellung in Bilbao: Fünf baskische Plastiken.
1950. Arantzazu. Zuschlag für die Gestaltung aller Skulpturen der neuen Basilika, 1953 zensiert, 1969 vollendet. Ausstellungen in Barcelona, Bilbao, Madrid.
1951: Mailand. Ehrendiplom bei der IX Biennale für eine Skulptur über Simultanität. Bericht über zeitgenössische Bildhauerei. Referat über die "Vertikale Leere oder die seitliche Leere" bei Henry Moore in der Sommer-Universität Santander. In den folgenden Jahren Experimente, über räumliche Desokupation (Nichtbesetzung) die Leere zu erreichen, entgegen dem Malevich-Konzept von der vorgegebenen Leere.
1952: Interpretation der Ästhetik der megalitischen Skulptur in Amerika.
1953: London. Einziger ausgewählter Spanier für das Monument "Der unbekannte Gefangene".
1954: Madrid. Nationaler Architektur-Preis (als Gruppe), gemeinsam mit den Architekten Saenz de Oiza und Romani. Publikation von "Androcanto y sigo. Ballett auf den Steinen der Straßenapostel"
1955: Madrid. Ausstellung. Reliefs, positiv und negativ in nacktem Zement. Skulptur, innen und außen.
1956: Madrid. Phase von Experimenten und Konzentration. Dank Juan Huarte verfügt Oteiza über große Räume für seine Arbeit und einen Helfer bei seinen Steinarbeiten. Herstellung der Eisenskulpturen für Brasilien.
1957: Sao Paulo, Brasilien. Großer internationaler Preis für Bildhauerei bei der IV. Biennale.
1958: Agiña, Lesaka, Gipuzkoa. Monument für den Pfarrer Aita Donostia. Ende der Experimente mit Skulptur der Leere. Ausstellung in Washington. Skandal um den Import von Skulpturen am UU-Zoll, Skulpturen dürfen nicht als Kunstwerke eingeführt werden, sondern müssen als Eisen versteuert werden.
1959: Ausstellungen in Montevideo und Madrid.
1960: Erste Ausstellung in Madrid von Basterretxea als Bildhauer und letzte von Oteiza. Projekt öffentliche Skulptur für Cesar Vallejo in Lima. Vorträge in Montevideo.
1962: Ausstellungen in USA und Kanada, organisiert vom MOMA.
1963: Veröffentlichung von "Quousque Tandem...!" Vorschlag an den französischen Schriftsteller und Kulturminister André Malraux, ein Internationales Institut für Vergleichende Forschung zu gründen.
1964: Donostia, Madrid. Vorschlag, ein Laboratorium Ästhetischer Forschungen zu gründen.
1965: Mitgründer der Kulturgruppe "Ez dok amairu" (Wir sind keine dreizehn). In Paris Suche nach Unterstützung für ein Institut für Prähistorische Forschung.
1966: Verbot seines Buches "Spirituelle Übungen in einem Tunnel" (Ejercicios espirituales en un tunel). Gründung der Gruppe "Gaur" (Heute), einer Baskischen Kunst-Gruppe, zusammen mit Chillida, Basterretxea, Amable Arias, Mendiburu, Ruiz Balerdi, Zumeta und Sistiaga. In Pamplona Vorschlag, eine Baskische Künstler-Universität zu gründen.
1968: Publikation von "Ästhetik des Eis. Baskische Mentalität und Labyrinth (Estetica del huevo. Mentalidad vasca y laberinto). Das ETA-Mitglied Txabi Etxebarrieta wird getötet, am 1.November fügt Oteiza der Marienfigur von Arantzazu einen Sohn bei, als Erinnerung an den jungen Kämpfer.
1969: Teilnahme an der Gründung der Kunst-Schule in Deba. Vollendung der Skulpturen an der Basilika Arantzazu.
1971: Erneut experimentelle Arbeiten. Mit dem "Kreide-Laboratorium" wendet er sich wieder der Bildhauerei zu. Von nun an erneute Ausstellungen.
1977: Kandidat für den Senat für die Koalition Euskadiko Ezkerra (Baskische Linke).
1980: Weist den Vorschlag zurück, sein Gesamtwerk der baskischen Regierung in Gasteiz (spn: Vitoria) zu vermachen. Bekanntmachung seiner Vorstellungen und seines Organigramms eines Autonomen Ministeriums für Baskische Kunst.
1987: Veröffentlichung verschiedener Artikel in der Presse, in denen er die Kultur-Politik der baskischen Regierung kritisiert.
1988: Die Jury des "Preises Prinz von Asturien" (Premio Principe de Asturias) betrachtet Oteiza als "Beispiel für kreative Leidenschaft". Die baskische Regierung erwirbt zwölf seiner Skulpturen.
1989: Oteiza will den Skulpturen-Kaufvertrag mit der baskischen Regierung aufkündigen.
1991: Tod der Ehefrau Itziar Karreño in Alzuza.
1992: Bekanntgabe seiner Entscheidung, sein Lebenswerk und Erbe dem Volk von Navarra zu hinterlassen.
2002: Bis zu diesem Jahr Teilnahme an zahlreichen internationalen Ausstellungen, Aufstellung vieler Werke im Baskenland. Zuletzt die "Eiförmige Variante der Leerwerdung der Sphäre" (Variante ovoide de la desocupación de la esfera) in Bilbao und "Leere Schöpfung" (Creación vacía) in Donostia (San Sebastián).
2003: Oteiza stirbt am 9.April in Donostia.
Quellen und Nachweise:
Wikipedia Jorge Oteiza
Enzklopädie Auñamendi
Jorge Oteiza, profeta y conspirador / Colección Erroak, 2007
FlickR-Fotoserie Basilika Arantzazu
FlickR-Fotoserie Oteiza Museum Alzuza
Fotos: Txeng (Arantzazu, Bilbo, Alzuza)