Was in Euskal Herria geschah
Regierungswechsel, Korruption, Feminismus, Neofaschismus und Massentourismus – der Baskultur.info-Jahresrückblick fasst zusammen, was die baskische Gesellschaft beschäftigt. Zwei Jahre nach der Selbstauflösung von ETA ist die Organisation seltsamerweise so präsent wie nie zuvor. Offenbar finden sich spanische Politiker nicht mit dem Verlust des Feindbildes ab, mit dem jahrzehntelang andere Probleme gedeckelt wurden. Hauptprobleme der baskischen Gesellschaft sind die Armut und der Massentourismus.
Der Rückblick von BASKULTUR.INFO stellt kein vollständiges Abbild des Jahres 2019 dar, er vermittelt jedoch einen realistischen Überblick über die Ereignisse in Politik, Sport, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft des Baskenlandes.
AKADEMIE DER BASKISCHEN SPRACHE
100 Jahre Bestehen feierte die Akademie der Baskischen Sprache, Euskaltzaindia. Seit ihrer offiziellen Anerkennung im Jahr 1976 (ganze 57 Jahre nach ihrer Gründung!) darf sie sich Königliche Akademie nennen. Euskaltzaindia (baskisch, wörtlich: Hüterin der baskischen Sprache) besteht aus verschiedenen Kommissionen, die sich mit Fragen von Grammatik, Lexigrafie, einem linguistischen Atlas, Literatur und dem Gebrauch des Euskara im Alltag beschäftigen. Dafür sind 23 Sprachwissenschaftler*innen angestellt. Hinzu kommt ein Beratungs-Ausschuss, Miren Azkarate war 1992 die erste Frau in diesem Gremium. Im Franquismus war die Akademie ebenso wie die Nutzung der baskischen Sprache verboten, die Arbeit musste auf Iparralde, den baskischen Norden beschränkt werden.
ARCHITEKTUR
Die wichtigste Nachricht zum Thema Architektur ist, dass in Bilbao das Museum der Schönen Künste (Arte Ederren Museoa) ausgebaut werden soll. Für die Stadt, die jedes Jahr europäische Hauptstadt von irgendwas sein will, reicht ein Museum von internationalem Renommée nicht aus. Um dem in den vergangenen Jahren aufgekommenen Attribut “Architekturstadt“ Vorschub zu leisten, wurde kein geringerer als der Engländer und Pritzker-Preisträger Norman Foster beauftragt, die gestalterische Zukunft des Gebäudes in Angriff zu nehmen. Foster hatte in Bilbao bereits der Metro ihr Gesicht verpasst. Einen gern gesehenen Treffer hat Foster, der sich einen baskischen Architekten als Adjutanten leistet, schon gelandet. Denn ursprünglich war davon die Rede, dass das Museum wegen Umbaus 18 Monate schließen sollte. Nach Fosters Vorstellungen spielt sich der Neubau jedoch nur in einer zukünftigen zweiten Etage ab, unten soll weiter offen bleiben. Das freut die Verantwortlichen.
AUTONOMIE-STATUT
1979, nach drei Jahren Verhandlungen in Madrid, wurde nach einem Referendum das auch “Gernika-Statut“ genannte Gesetz verabschiedet. Es regelt die Kompetenzen der baskischen Autonomie-Regierung. Insgesamt existieren im spanischen Staat vier autonome Regionen, die mehr Kompetenzen haben als andere Regionen. Es sind die “historischen Nationen“ Katalonien, Galicien, Baskenland und eingeschränkt auch Navarra. Das Statut ist umstritten. Rechte Spanier würden es am liebsten kappen, für die baskische Unabhängigkeits-Bewegung ist es viel zu wenig. Tatsache ist, dass 33 der Artikel des damaligen Gesetzes nicht erfüllt sind, das heißt, 33 Kompetenzen, die laut Statut der baskischen Regierung zustehen, wurden bisher nie übertragen. Was die “demokratische“ Haltung der Zentralregierungen unterschiedlicher politischer Couleur deutlich macht.
BETRUG BEI STELLENBESETZUNGEN
Im Laufe des Jahres gelangte ans Tageslicht, dass bei Bewerbung-Verfahren für Jobs im öffentlichen Dienst manipuliert wurde. Um den Skandal zu verstehen: derartige Bewerbungen funktionieren hier nicht wie etwa in Deutschland mit dem Einreichen eines passenden Curriculums. In der Regel werden hunderte (oder tausende) Stellen ausgeschrieben, die Kandidat*innen müssen eine oder mehrere Prüfungen absolvieren, die nicht unbedingt mit dem entsprechenden Arbeitsprofil zu tun haben. Die Interessierten bereiten sich monatelang auf diese Prüfungen vor, OPE genannt. Nun stellte sich heraus, dass Teile dieser Prüfungsunterlagen unter der Hand an Prüflinge weitergegeben wurden. Nicht klar ist, ob gegen Bezahlung, oder weil die Prüfer ein Interesse an der Anstellung bestimmter Kandidat*innen hatten. Möglicherweise werden nun hunderte oder tausende von Prüfungen annulliert und wiederholt.
EROSKI
Erosi heißt kaufen auf Baskisch – Eroski ist eine Konsum-Kooperative mit Sitz in Elorrio (Bizkaia), die ihren 50. Geburtstag feierte. Sie geht auf den Zusammenschluss von 10 Konsum-Genossenschaften im Jahr 1969 zurück und gehört zum Kooperativen-Verbund MCC aus Arrasate-Mondragon in Gipuzkoa. Eroski beschäftigt 35.000 Personen, die in 2.000 kleinen und großen Supermärkten arbeiten. Die konzentrieren sich im Baskenland, größere Läden sind aber auch im ganzen Staat zu finden.
EUROPA-MEISTERSCHAFT
Die Nachricht, dass in Bilbao vier Spiele der Fußball-Europameisterschaft 2020 gespielt werden, müsste die Fußball-Gemeinde eigentlich in Freudentaumel versetzen. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Denn erstens spielt drei Mal ausgerechnet die verhasste spanische Auswahl, während der baskischen Auswahl nach wie vor die offizielle Anerkennung verweigert wird. Zweitens ist dieser Event, der sich im Juni etwa zwei Wochen über die Stadt ausbreitet, ein weiterer Schritt Richtung Massentourismus und Gentrifizierung. Dies bedeutet Preiserhöhungen, mehr Tourismus-Wohnungen, neue Hotels und schlecht bezahlte Arbeitsplätze, die zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben abwerfen. Das ablehnende Motto lautet nicht: “Keine Europa-Meisterschaft!“, sondern “Diese Europa-Meisterschaft nicht!“.
FASCHISMUS
Alle reden von Vox, nur wir nicht – könnte ein Wahlspruch aus dem Baskenland sein. Das wäre zu oberflächlich. Tatsache ist, dass die ultrarechte Partei, die sich mittlerweile offen zum Franquismus bekennt, im Baskenland keinen Fuß in die Tür bekommt. Praktisch im ganzen Staat hat die Partei auf allen Ebenen Räte und Abgeordnete erzielt, nur nicht im Baskenland, dem eine gewisse Faschismus-Resistenz nicht abzusprechen ist. Genau deshalb organisiert die Partei besonders gerne Veranstaltungen im Baskenland, die dann jeweils mit viel Polizei gedeckt werden müssen und regelmäßig zu Auseinandersetzungen führen. Die Situation in Navarra ist etwas anders, dort konnten die Ultrarechten auf kommunaler Ebene Abgeordnete gewinnen. Nicht jedoch im Regionalparlament.
FEMINISMUS
“Un Violador en tu camino” (Ein Vergewaltiger auf deinem Weg) hat auch im Baskenland eindrucksvolle Spuren hinterlassen. Die von chilenischen Feministinnen kreierte Tanz-Choreografie wurde in Pamplona und Bilbao aufgeführt – nicht zuletzt als Ausdruck einer Bewegung, die seit Jahren kräftig wächst. Im März gab es am “Internationalen Tag der arbeitstätigen Frauen“ den zweiten Generalstreik, der erneut im ganzen Staat zu zahlreichen und großen Mobilisierungen führte. Thema war erneut das Urteil gegen die Gruppen-Vergewaltiger von Pamplona, die nun endlich sitzen, wo sie hingehören und derzeit einem zweiten Prozess ins Auge sehen mit denselben Vorwürfen. Skandale um Vergewaltigungen, absurde Gerichtsentscheidungen, regelmäßige Femizide, Missbrauch und sexistische Belästigung haben die Öffentlichkeit etwas sensibler gemacht für die Sache der Frauen. Die Bewegung im Baskenland greift in ihren Ausführungen nicht nur die patriarchale Gesellschaft an, sondern verbindet diese mit antikapitalistischen Ansätzen. Im gewerkschaftlichen Bereich haben Frauen-dominierte Streiks zu Erfolgen geführt. Die Altersheim-Pflegerinnen konnten nach langem Arbeitskampf Verbesserungen erreichen, die Fußballerinnen ebenfalls. Auch der erfolgreiche Streik der Lehrkräfte von Privatschulen war stark von Frauen geprägt.
GEWERKSCHAFTEN
Die beiden großen baskischen Gewerkschaften ELA (35% der Betriebsräte) und LAB (20%) haben neue Generalsekretäre gewählt. Bei ELA wurde der bisherige Vorsitzende Txiki Muñoz altershalber von Mitxel Lakuntza ersetzt, die Fortsetzung der neoliberalismus-kritischen Haltung der Gewerkschaft ist gesichert. Bereits ein Jahr zuvor wurde bei der abertzalen Abeitnehmer*innen-Vertretung LAB Ainhoa Etxaide als erste Vorsitzende nach neun Jahren abgelöst von ihrer Kollegin Garbiñe Aranburu, was als deutliches Zeichen der Gewerkschaft Richtung Feminismus zu verstehen ist.
HAUSBESETZUNG
Hausbesetzung ist in die Schlagzeilen geraten, jedoch unter ganz besonderen Umständen. Einerseits wächst in der baskischen Bevölkerung die Armut. In der Folge – und verschärft durch massiven Tourismus – wird es immer schwieriger, bezahlbare Mietwohnungen zu finden. Deshalb treten neben jüngeren Leuten, die leere Häuser als Kommunikationsorte besetzen, immer mehr arme Familien auf den Plan, die Wohnungen zum Wohnen besetzen. Eine logische und moralisch vertretbare Entwicklung.
Erstes Problem ist, dass in der jüngeren Vergangenheit auch Wohnungen besetzt wurden, die nicht, oder nur vorübergehend leer standen. In einem Fall stand eine Frau nach einem längeren Krankenhaus-Aufenthalt vor ihrer besetzten Wohnung. In einem anderen Fall konnte eine Wohnung nicht genutzt werden wegen Wasserschadens und der notwendigen Reparatur. Zweites Problem: Um wieder in ihre Wohnungen zu kommen, reicht es nicht, die Polizei zu rufen. Erforderlich ist eine gerichtlich angeordnete Räumungsklage, die Monate dauern kann, besonders schwierig wird es, wenn die Besetzer*innen mit Kindern einziehen. Unklar ist, wie viele solcher Fälle vorkommen, denn die rechte Presse stürzt sich gerne auf solche Themen, um sie auszuschlachten. Schließlich geht es um die heilige Kuh des Kapitalismus: das private Eigentum. Damit nicht genug, ein drittes Problem tritt auf den Plan. Mittlerweile gibt es Leute, die sich darauf spezialisiert haben, nach leeren Wohnungen Ausschau zu halten, um sie an Suchende zu “vermitteln“. Dafür kassieren sie eine niedrige Miete. Für eine Wohnung, die nicht ihre ist. Der Begriff Mafia bestimmt die Schlagzeilen.
Das Fass zum Überlaufen brachte ein Fall in Portugalete, Industriestadt am Fluss vor Bilbao. In einer Arbeitersiedlung hatten Okupas die Wohnung einer 90-jährigen nach deren kurzzeitiger Abwesenheit in Beschlag genommen. Eine Anzeige half nicht. Dafür reagierte die Nachbarschaft, das Haus wurde belagert, die Drohung, die Wohnung zu stürmen lag in der Luft. Polizei sperrte das Haus ab. Weil die Belagerung den Besetzern das Leben unmöglich machte, zogen sie schließlich ab. Ein Problem war gelöst. Das nächste kam. Vom Auftauchen einer Gruppe von Ent-Besetzern ist die Rede. Solche Trupps sind aus Barcelona bekannt, im Auftrag von Hausbesitzern vertreiben sie Besetzer. Mit allen Mitteln. Für die traditionelle Hausbesetzungs-Bewegung, in Bilbao und Vitoria-Gasteiz gut vertreten, ist die Entwicklung problematisch, denn Politik und rechte Medien machen keine Unterschiede bei der Legitimität von Besetzungen. Sie fordern neue Gesetze gegen Besetzungen. Mehr Mietwohnungen für Einkommensschwache fordern sie nicht.
KATALONIEN
Deutlich mehr als die Hälfte der baskischen Bevölkerung empfindet Solidarität für die republikanische Bewegung in Katalonien, die ein eigenes republikanisches Gemeinwesen gründen will. Mit Besorgnis wurde im Baskenland deshalb das Urteil im Prozess gegen 11 ehemalige katalanische Regierungs-Mitglieder aufgenommen, die zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Der Ursprung dieser demokratischen Revolte lag unter anderem darin, dass die katalanische Regierung ihr Autonomie-Statut ändern und Passagen einbauen wollte, die auch im baskischen Autonomie-Statut enthalten sind. Dazu sollte Katalonien als historische Nation anerkannt werden. Nachdem spanische Instanzen diesen Wunsch zurückwiesen, entstand die außer- und innerparlamentarische Bewegung zur Abspaltung. Zum Jahresende entschied die juristische Abteilung des Europa-Parlaments, es sei nicht rechtlich, dass katalanischen Politikern verweigert werde, ihre Sitze als gewählte Europa-Parlamentarier anzutreten. Dies betrifft den ehemaligen Präsidenten Carles Puigdemont und einen weiteren Politiker, die sich beide in Belgien im Exil befinden. Es betrifft auch den verurteilten und eingesperrten Oriol Junqueras.
KORRIKA 21
Die 21. Korrika – ein seit 1980 organisierter Solidaritätslauf für die baskische Sprache – durchlief in seiner 21. Ausgabe vom 4. bis zum 14. April über mehr als 2.000 Kilometer eine Vielzahl von Orten im gesamten historischen Baskenland: Navarra, Hegoalde und Iparralde, diesseits und jenseits der Staatengrenzen. Ständig sind dabei Euskara-Freund*innen hinter dem anführenden Lautsprecherwagen unterwegs. Der Lauf hält 10 Tage lang keinen Moment an, auch nicht nachts, wenn sich lediglich ein paar Unentwegte daran beteiligen. Das Prinzip der Korrika ist: jeder Kilometer wird von einer Organisation oder Institution, einem Verein oder Unternehmen “gekauft“, was diesen das Recht gibt, das offizielle Staffelholz von Anfang bis Ende dieses Kilometers zu tragen. Am Ende, jeweils abwechselnd in den baskischen Hauptstädten, findet ein großes Volksfest statt.
KORRUPTIONS-NETZ
Seit 30 Jahren wird der spanische Staat von einer Vielzahl von Korruptionsfällen erschüttert, die zu einer Vielzahl von Prozessen führten. In der Mehrzahl dieser Fälle sind Politiker*innen der rechten postfranquistischen PP (Partido Popular) verwickelt. Aber auch Sozialdemokraten haben Gefängnisse von innen kennengelernt. Das Baskenland galt in dieser Hinsicht als sauber. Alle Welt wusste, dass ein PNV-Parteibuch vorteilhaft ist, um eine Firma zu eröffnen, öffentliche Aufträge an Land zu ziehen, oder auf gute Posten der Verwaltung zu kommen. Vetternwirtschaft ist die Bezeichnung, nicht unbedingt Korruption. Doch nun ist die Scham vorbei. In den vergangenen Jahren haben sich Verfahren gegen diverse PNV-Bürgermeister wegen illegaler Machenschaften gehäuft.
Ende des Jahres ging ein Prozess zu Ende gegen eine Gruppe von PNV-Politikern und ihre Ehefrauen. Unter der Leitung eines einflussreichen Provinz-Vorsitzenden wurde ein Netz von Scheinfirmen gegründet, mit dem Geld beschafft wurde. Firmen, die öffentliche Aufträge erhielten, sollten Prozente abgeben. Bis es einer Firmenchefin zu dumm wurde und die Sache vor 10 Jahren aufflog. Nun wurden hohe Haftstrafen ausgesprochen, der Zauber der baskischen Unbestechlichkeit (PNV) ist vorbei.
LITERATUR
Aus der baskischen Literatur-Welt seien zwei Nachrichten hervorzuheben: Atxaga und die Krimiserie. Bernardo Atxaga, in Deutschland bekannt durch die Erzählungen “Obabakoak. Gänsespiel“, “Ein Mann allein“ und “Der Sohn des Akkordeonspielers“ hat den spanischen Nationalpreis für Literatur erhalten. Der wird an Schriftsteller*innen verliehen, die in einer der offiziellen Sprachen des Landes besondere Arbeit geleistet haben. Im Falle Atxagas ist es die baskische Sprache, er selbst übersetzt sich gelegentlich ins Spanische. Sein Verdienst, so die Preisverleiher, liege in der Modernisierung und der internationalen Projektion der baskischen und der kastilischen Sprache. / Vom Nationalpreis weit entfernt, aber an Spannung kaum zu überbieten sind die in der baskischen Provinz Araba (span: Alava) angesiedelten Krimis der jungen Schriftstellerin Eva García Sánz de Urturi. Sie arbeitet mit Original-Schauplätzen, die das Krimigeschehen vor allem für Ortskenner*innen interessant machen. Dazu entwarf sie eine komplizierte Trilogie um den Kommissar Unai López de Ayala, die seit 2016 publiziert wurde. Interessant, dass der Fischer-Verlag 2019 mit einer deutschen Ausgabe begonnen hat, die im April 2020 abgeschlossen wird. Ayala und seine unglaublichen Mordfälle gibt es somit auch auf Deutsch: “Die Stille des Todes“, “Das Ritual des Wassers“ und “Die Herren der Zeit“. Seit 2018 wird aus dem ersten Fall auch eine TV-Serie gemacht.
MASSENTOURISMUS
Bilbao (wegen des Guggenheim-Museums) und Donostia-San Sebastian, nicht zuletzt wegen der Rolle als Europäische Kulturhauptstadt 2017, erleben derzeit einen Massentourismus, der das öffentliche Leben, den Mietwohnungs-Markt und die Arbeitswelt stark verändert. Vor allem die Altstädte werden zu Erlebnisparks, durch die Tausende von Reisende ziehen, meist in großen Gruppen. Die Ladenstruktur orientiert sich zunehmend an den Kaufinteressen der Touristen, die Bedürfnisse der Einheimischen treten in den Hintergrund. Arbeitsplätze im Zusammenhang mit Tourismus sind prekär, befristet und schlecht bezahlt. Über hunderte von Events werden die Städte an den Tourismusmarkt verkauft.
Doch nicht nur die beiden Hauptstädte leiden unter den Besuchszahlen. Dreharbeiten zu weltbekannten Filmserien haben Zumaia (Gipuzkoa) und Gaztelugatxe (Bizkaia) derart berühmt gemacht, dass ihr Charakter als Naherholungs-Gebiet für die baskische Bevölkerung praktisch verloren ist. Dafür werden sie von Zehntausenden Tourist*innen heimgesucht, die Fotos machen, Bausteine abreißen und ihren Müll zurücklassen. Die bürgerlichen Parteien unternehmen bislang keine Anstrengungen, zu einem Ausgleich zwischen den Interessen von Reisenden und Einheimischen zu kommen. Letztere werden durch Spekulation und Preistreiberei aus den neutouristischen Stadtteilen vertrieben.
MUSIK
Wichtigstes Ereignis der baskischen Musikszene war die Abschiedstour der aus Navarra stammenden Rockgruppe Berri Txarrak (baskisch: Schlechte Nachrichten). Die Bekanntgabe des Rücktritts nach einer 25-jährigen Karriere ließ ein Jahr Zeit für ausgedehnte Abschieds-Vorstellungen. Die wegen ihres Eintretens für linke Themen und für die baskische Sprache bekannte und äußerst beliebte Gruppe (Anti G7, Iñigo Cabacas) war eine der wenigen baskischen Bands, die auch im Ausland einen Namen hatte und bis Japan tourte. Zur Krönung des Abschieds ließ sich Berri Txarrak zum größten baskischen Rockfestival nach Kobetamendi in Bilbao einladen, den Schlusspunkt setzte jedoch ein Konzert im heimatlichen Pamplona, baskisch Iruñea.
Iñigo Muguruza starb – für Musiker etwas unüblich – nicht an Drogen oder anderen Exzessen, sondern im Alter von nur 54 Jahren an der degenerativen Krankheit Multiple Sklerose. Bei verschiedenen bedeutenden baskischen Bands spielte der jüngere Bruder des legendären Fermin Muguruza Bass oder E-Gitarre: Desband, Beti Mugan, Kortatu, Delirium Tremens, Negu Gorriak, Joxe Ripiau und Sagarroi. / 2019 waren es 35 Jahre nach dem Erscheinen der legendären baskischen Punkgruppe Cicatriz (span: Narbe). Seit 1984 spielte sie nicht nur diese existenzialistische Musikrichtung, die Bandmitglieder lebten sie auch. Vier der Gründungsmitglieder starben an Aids und Heroin-Überdosis, was zu einer posthumen Legenden-Bildung führte.
NAVARRA
Die Regionalwahlen in Navarra führten zu einem Wechsel. Obwohl die rechten Regionalisten stärkste Partei wurden, ließ sich die Kandidatin der Sozialdemokraten mit Hilfe der baskischen Nationalisten zur Ministerpräsidentin wählen. Das bedeutete böses Blut unter den hispanophilen Reaktionären, die ihr vorwarfen, sich von “Terroristenfreunden“ wählen zu lassen.
NEONAZIS
Kopfzerbrechen machen im Baskenland die Umtriebe von Neonazi-Gruppen. Allen voran die Falange, die sich mit immer neuen Gesichtern präsentiert. Dass bekannte Linke mit dem Tod bedroht werden, in Städten rassistische und faschistische Parolen gesprüht werden, linke Läden angegriffen werden, beeindruckt die Polizei wenig. Dagegen organisieren sich an der Basis antifaschistische Gruppen, eine relativ neue Erscheinung im Baskenland, weil Neonazis – selbst unter Fußballfans – bisher kein großes Thema waren.
ÖKOLOGIE
Die baskische Regierung der PNV setzt weiter auf Müllverbrennung und nicht auf Mülltrennung und Recycling. Zu diesem Zweck wurde in Zubieta, Gipuzkoa eine zweite Verbrennungsanlage gebaut, obwohl die erste, Zabalgarbi bei Bilbao, lange nicht ausgelastet ist. Antiökologische Zementpolitik. Die Befürchtungen der Anwohner*innen von Zubieta, dass sie giftigen Emissionen ausgesetzt werden, wurden nicht ernst, die Anlage in Betrieb genommen. / 40 Jahre nach dem Scheitern des fertiggebauten AKW Lemoiz (Lemoniz) erhielt die Provinzregierung formal die Ländereien zurück vom Energieriesen Iberdrola. Der ist nun aus dem Schneider was die Konsequenzen des AKW-Baus und etwaige Entseuchungsmaßnahmen anbelangt. Unklar ist, was mit dem AKW-Gelände geschehen soll. Regierungsstellen sprechen von einer Fischzucht-Anlage, Ökolog*innen wollen eine Re-Naturalisierung.
In Bilbao wird eines der letzten Naturgebiete zerstört. Bolintxu heißt ein kleines Tal, durch das vom Pagasarri-Berg ein Bach runterfließt. Die Autobahn-Umgehung von Bilbao (Supersur) soll mit der Autobahn Richtung Vitoria-Gasteiz direkt verbunden werden. Dazwischen liegt das Bolintxu-Tal, dessen Tage gezählt sind, mitsamt der besonderen Tier- und Pflanzenwelt, die das schwer zugängliche Tal charakterisiert. Zementpolitik. / Ständig wird die Inbetriebnahme des Hochgeschwindigkeitszugs AHT-TAV, der in Y-Form das Baskenland durchqueren soll, aufgeschoben. Die Linie dient allein europäischen Direktverbindungen, löst aber die Transport-Probleme im bergigen Baskenland nicht. Mit hunderten von Tunnels und Brücken stellt sie den größten ökologischen Eingriff in der Geschichte des Baskenlandes dar, viele bislang kaum berührten Gebiete werden beschädigt oder zerstört. Dazu soll in jeder der drei Hauptstädte ein neuer Bahnhof gebaut werden. Das bedeutet riesige Bauprojekte mit viel Raum für Spekulation.
PÄDAGOGISCHE GESCHICHTSAUSLEGUNG
Herenegun (baskisch: vorgestern) heißt das künftige Lehr-Curriculum für die Schulen, das die Geschichte des baskisch-spanischen Konflikts aufarbeiten soll. Dabei krachen Welten unterschiedlicher Geschichts-Interpretationen aufeinander. Die spanien-orientierte Rechte will dokumentiert sehen, dass ETA 60 Jahre Terrorismus betrieben hat, Franquismus gibt es in dieser Darstellung nicht. Die Opfer der spanischen Todesschwadrone (GAL, BVE) wollen ebenfalls als Opfer von Terrorismus anerkannt werden, in diesem Fall von Staatsterrorismus, was den “Españolistas“ verständlicherweise gar nicht gefällt. Die baskische Linke findet nicht alles gut, was ETA während ihrer Existenz betrieben hat, ist aber nicht bereit, alles unter dem Thema Terrorismus zu subsumieren. Die Rede ist von einem politischen Konflikt, der Opfer auf beiden Seiten gefordert hat – davon will die postfranquistische Rechte nichts wissen. Unabhängige Expert*innen und die UNO haben festgestellt, dass in Spanien systematisch gefoltert wurde und unter dem Vorwand ETA die Menschenrechte verletzt wurden. Die Rechte stellt auf Durchzug. Die Regierung der baskischen Christdemokraten steht scheinbar neutral über den Dingen und sucht einen Kompromiss. Doch jeder von Experten-Kommissionen bislang vorgelegte Entwurf wird von der Rechten erneut verteufelt, obwohl die Linke bereits mehr als eine Kröte geschluckt hat.
PAMPLONA
Wahlen für Europa und das spanische Parlament, in Navarra daneben auch zum Regionalparlament und kommunal. Die Wahlen zu den Stadt- und Gemeinderäten in Navarra und der Region Baskenland brachten nicht viel Neues. Nennenswert der Wechsel in Pamplona (Iruñea), wo die linksliberale baskische Koalition abgewählt wurde und die alte Garde der rechten Regionalisten wieder ans Ruder kam. Konsequenz: Sofort wurden Maßnahmen zur Förderung der baskischen Sprache zurückgenommen, die baskische Flagge ist wieder illegal, linke Clowns werden zensiert.
PENSIONÄRE
Seit mehr als zwei Jahren treffen sich die Pensionärinnen und Pensionäre des Baskenlandes jeden Montag zur Kundgebung vor den Rathäusern der baskischen Hauptstädte. Gefordert wird ein Minimum von 1.080 Euro zur Absicherung einer würdigen Existenz, die insbesondere bei Frauen häufig nicht gegeben ist. Eine Abspaltung dieser Bewegung um Podemos und die sozialdemokratischen Gewerkschaften organisierte einen Marsch nach Madrid, der aber als “Eintagsfliege“ wenig beachtet wurde. Die baskischen Gewerkschaften haben nun für den 30. Januar 2020 zu einem Generalstreik aufgerufen, in dessen Mittelpunkt unter anderem die Forderungen der Rentner*innen stehen.
PODEMOS
Einen politischen Hit gelandet hat die Bewegungspartei Podemos (Wir Können). Sie hat den Haushalt der baskischen Regierung (Christdemokraten und Sozialdemokraten) abgesegnet, ohne dafür Gegenleistungen zu erhalten. Vor wenigen Jahren hatte sie die PNV noch als “Kasten-Partei“ beschimpft, nun pflegt man Shakehands mit dem Ministerpräsidenten. Die Protestpartei ist definitiv im Establishment angekommen. Gleichzeitig hat sie der baskischen Linken Wind aus den Segeln genommen, denn diese wollte härter verhandeln und Ergebnisse erzielen. Das ist nun überflüssig. Jedoch sind nicht alle glücklich bei Unidos Podemos, eine Reihe von Vorstandsmitgliedern ist ausgetreten. Wie alle Parteien tendiert auch die Protestpartei nach rechts.
POLITISCHE GEFANGENE
Wie immer begann das Jahr mit einer Groß-Demonstration in Bilbao für die Rechte der baskischen politischen Gefangenen, die meisten davon im Zusammenhang mit ETA. Dabei ging es insbesondere um die sofortige Freilassung der schwer kranken Gefangenen, die Beendigung der Zerstreuungs-Politik und ein Programm zur stufenweisen Freilassung der Gefangenen. 10 Jahre nach der letzten bewaffneten Aktion von ETA, acht Jahre nach dem definitiven Waffenverzicht, zwei Jahre nach Waffenabgabe und ein Jahr nach Auflösung der Organisation waren nach wie vor mehr als 200 Gefangene in spanischen Gefängnissen, im Durchschnitt weiter von der Heimat entfernt als je zuvor. Die französische Regierung hat die einsitzenden baskischen Gefangenen neu eingestuft und fast alle in Baskenland-nahe Gefängnisse gebracht – trotz des erbitterten Widerstandes der spanischen Opferverbände. Die von der neuen PSOE-Regierung in Aussicht gestellten Änderungen in der Gefangenen-Politik kommen tropfenweise. Immerhin wurden zwei Gefangene wegen Krankheit entlassen, eine Reihe von Gefangenen hat den Status bekommen, der Wochenend-Ausgänge erlaubt
POLITISCHE JUSTIZ
Die spanische politische Justiz hat nur noch wenig mit ETA zu tun, stattdessen hat sie neue Opfer gefunden. Nach wie vor vertritt sie einen reaktionären Staat, dessen Justiz, Militär und Polizei von ultrarechten Elementen bestimmt werden. Für Katalonien gilt: harte politisch-juristische Bestrafung statt Dialog und Verhandlungskultur. Die Bestraften sind in diesem Fall nicht radikale Linke, sondern bürgerliche Politiker*innen. Viele Richter sind rechte Hardliner mit PP-Parteibuch in der Tasche. Auch das von höchster juristischer Ebene bestätigte Urteil gegen 9 Jugendliche aus Altsasua, wegen eines angeblichen Angriffs auf Guardia Civiles, ist ein Rückfall in franquistisches Justizgebaren.
Das Urteil im sogenannten 13/47-Verfahren ermöglicht verschiedene Lesarten. Angeklagt waren Baskinnen und Basken, die Solidaritätsarbeit mit politischen Gefangenen praktizierten. Ihnen wurde Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen, zu einem Zeitpunkt, an dem ETA bereits zu existieren aufgehört hatte. Langjährige Haftstrafen drohten. Der Prozess endete mit einem Kompromiss: die Angeklagten räumten die ihnen vorgeworfenen Verbrechen ein, nämlich ETA unterstützt zu haben; im Gegenzug verzichtete das Gericht auf harte Urteile und ließ die Strafen bei einem Maß, das nicht zum Gefängnisantritt zwingt. Nur zwei Personen mussten höhere Strafen akzeptieren, die ein halbes Jahr Gefängnis nach sich zogen. Prompt wurden sie in weit entfernte Knäste außerhalb des Baskenlandes verlegt. Die Lesarten des Urteils sind: 1. Die Justiz hat einmal mehr erreicht, was der Staat immer wollte: alles ist ETA. 2. Die Verurteilten haben Vergehen zugegeben, die sie nicht begangen haben, eigentlich haben sie sogar vor Gericht gelogen. 3. Die baskische Linke ist trotz des politischen Preises hochzufrieden, dass nicht erneut 47 Personen in die Gefängnismühlen geraten.
PREKARITÄT
Prekarität ist heute das entscheidende Kriterium für neue Arbeitsverhältnisse, egal ob im Guggenheim-Museum, als Pizzaverteiler, als Kellner oder bei Amazon. Tourismus, Dienstleistung und Gastronomie sind im Baskenland derzeit die aufstrebenden Branchen. Kontinuierliche Arbeit und eine Existenzgrundlage bieten sie nicht. Nahe Bilbao wurde vor Kurzem ein großes Amazon-Lager eröffnet. Nach offiziellen Zahlen gelten 30% der baskischen Bevölkerung als arm, 10% sind von gesellschaftlichem Ausschluss bedroht.
SPAIN IS DIFFERENT
Im spanischen Staat wurde gewählt und gewählt, nur Demokratie will sich nicht einstellen. Europa oder auf staatlicher Ebene, die Rechte macht Fortschritte. Das alte Zwei-Parteien-System ist am Ende, Mehrheiten klingen heute anders. Ciudadanos wollte das Zünglein an der Waage spielen und hat sich verwettet. Podemos auf dem absteigenden Ast kann diese Rolle gerade noch übernehmen. Trotz Rechtstendenz haben die Sozialdemokraten eine relative Mehrheit erreicht. Nun sind sie ausgerechnet auf die ungeliebten peripheren Nationalisten angewiesen, aus Galicien, dem Baskenland, Navarra und den Kanaren. Das Schlimmste: abhängig auch von Stimmen aus Katalonien, von jenen, die die spanische Justiz gerade für 10 Jahre hinter Gitter gebracht hat. Die Regierungsbildung verspricht Spannung. Mehrheiten werden nicht mehr nach politischen Inhalten verhandelt, sie sind zum Feilschen geworden: gib mir, dann kriegst du. Die Basken (PNV) haben daran immer verdient. Viel Auswahl haben sie diesmal nicht: die Neo-Franquisten fordern bereits ihre Illegalisierung und die Liquidierung der Autonomie-Statute. Die Zugeständnisse der PSOE an die “Sezessionisten“ von der Costa Brava könnte vor diesem Hintergrund für die noch nicht gebildete Regierung bereits der Todesstoß sein.
SPIONAGE
Ein Skandal, bei dem es um Macht, Geld und Politik geht. Er hat seinen Ausgang im Staat und seine Ausläufer im Baskenland. Ein ehemaliger Polizist und späterer Agent im Verteidigungs-Ministerium legte sich eine Vielzahl von Deckfirmen zu. Er arbeitete nicht nur für seine Arbeitgeber, sondern im Auftrag Dritter. Oder in eigenem Interesse spionierte er Politiker, Journalisten, Richter und Unternehmer aus. Was sich so oder so in barer Münze auf seinen verschiedenen Konten bemerkbar machte. Zu seinen Kunden gehörten auch Vorstandsmitglieder der baskischen Vorzeigebank BBVA. Die ließen sich von Comisario Villarejo die Konkurrenz ausspionieren. Seit 2 Jahren sitzt er in U-Haft, die Banker wehren sich gegen die Vorwürfe.
SPORT
Alle sprechen von der Eurocopa, der ersten dezentralen Fußball-Europameisterschaft, die Bilbao in der ersten und zweiten Runde vier Spiele bescheren wird. Dennoch ist die Mehrheit der Fans entsetzt, weil an drei Spielen die verhasste spanische Auswahl beteiligt ist. Zudem werden rechtsradikale Fans aus Spanien und Polen erwartet. Nach dem Wiederaufstieg von Osasuna (Pamplona) sind wieder fünf Clubs in der ersten Kickerliga vertreten, das Besondere: alle haben baskische Trainer. Den einzigen Fußball-Titel holten überraschend die Frauen von Real Sociedad San Sebastian, die im Cupfinale den haushohen Favoriten Atletico Madrid schlugen. Im baskischen Nationalsport Pelota deutet sich ein Generationswechsel an: Joseba Ezkurdia, Iker Irribarria, Jokin Altuna statt Aimar Olaizola und Oinatz Bengoetxea. Im Basketball ist neben Vitoria-Gasteiz auch Bilbao wieder erstklassig, Gipuzkoa Basket stieg ab. Für die meisten sportlichen Schlagzeilen zeichnet der Golfer John Rahm aus Barrika verantwortlich, falls Golf als Sport gelten darf. Um Titel beim Boxen in verschiedenen Leichtgewichts-Klassen streiten drei aus Bizkaia: Andoni Gago aus Bilbao-Otxarkoaga, Kerman Lejarreta aus Morga und Jon Fernandez aus Etxebarri. Nach ersten Erfolgen, u.a. bei einer Europameisterschaft, werden viele Kämpfe nun in Bilbao ausgetragen.
STREIK
Das Jahr war von Streiks geprägt, bei denen die baskischen Gewerkschaften federführend waren: ELA, LAB, STELAS, ESK, CNT und CGT – weniger die spanischen Gewerkschaften CCOO und UGT. Den Start machten Feministinnen am 8. März, dem Internationalen Tag der arbeitenden Frauen, mit einem Generalstreik, zu dem die linken Gewerkschaften aufgerufen hatten. Des Weiteren gab es länger dauernde Arbeitskämpfe und Streiks der Pflegerinnen in Altersheimen, der Metaller in Bizkaia, der Fußballerinnen im ganzen Staat, der Angestellten von Sportanlagen in Bilbao, bei Volkswagen in Pamplona, bei der ehemals staatlichen Renfe-Bahn, der Ladekräfte im Hafen und am Flughafen. Für den 30. Januar 2020 wurde von den baskischen Gewerkschaften ein Generalstreik für würdige Lebensverhältnisse ausgerufen. Bei den Streiks geht es nicht immer um Geld, teilweise auch um größere Arbeitskontingente, Neueinstellungen und bessere Vertretungsregelungen. Denn Minimalverträge ermöglichen keine Existenzgrundlage und der Arbeitsstress durch ausfallende Kolleg*innen wird unerträglich. Vor allem in privatisierten Bereichen.
TERRORSCHWADRONE
Vor 35 bzw. 30 Jahren ereigneten sich die bekanntesten Morde der Todesschwadrone GAL (Grupos Antiterroristas de Liberación). 1989 wurde in Madrid der eben ins spanische Parlament gewählte Politiker Josu Muguruza beim Abendessen erschossen. Genau fünf Jahre zuvor erlitt der Kinderarzt und Politiker von Herri Batasuna, Santiago Brouard, in Bilbao dasselbe Schicksal, zu diesem Zeitpunkt war er Abgeordneter im baskischen Parlament. Diese Todesschwadrone, die auch im Nordbaskenland agierten, setzten sich zusammen aus spanischen Polizisten, Militärs, Neonazis und Auftragskillern. Koordiniert wurden sie von der Guardia Civil, finanziert aus Geheimfonds der spanischen Regierung des Sozialdemokraten Gonzalez.
TODESANZEIGE
Im Alter von 86 Jahren starb Xabier Arzalluz, ein Politiker der christdemokratisch-nationalistischen Partei PNV. Nach dem Franquismus war er als Vorsitzender jahrzehntelang die entscheidende Stimme der Partei. Als Abgeordneter im spanischen Parlament verhandelte er das baskische Autonomie-Statut, dabei war er ein Vertreter des souveränen Flügels der Partei, der die Option einer baskischen Unabhängigkeit immer offenhielt. In jungen Jahren ging er ins Priesterseminar, wurde als Priester geweiht. Später studierte er Jura, Literatur und Philosophie und widmete sich seit 1970 der Politik.
TOURISMUS
Altstadt, Guggenheim, Gaztelugatxe, Game of Thrones, Eurocopa und Tour de France sind die kritischen Begriffe für den Bereich. In Bilbao wurden über das Jahr drei neue Hotels eröffnet, die Preise steigen, Mietwohnungen für Einheimische werden knapp wegen Airbnb. Der Tourismus schrieb auch 2019 wieder Rekordzahlen, nur im Guggenheim gingen die Ziffern etwas zurück. In Bilbao wurde ein neuer Bus-Terminal fertiggestellt, eine Erweiterung des Flughafens wird ebenso gefordert wie ein zweites Guggenheim-Museum im Naturschutzgebiet Urdaibai. Die Fußball-Europameisterschaft mit vier Spielen wird einen fragwürdigen Run auf die Stadt verursachen. Die Rede ist von der Tour de France, die durch Bilbao kommen soll.
WAFFENHANDEL
Die baskische Regierung geriert sich gerne als treue Verteidigerin der Menschenrechte. Die Praxis hat ein anderes Gesicht: das von ausgebombten Kindern im Jemen. Baskische und spanische Waffenlieferungen werden ausgerechnet von Bilbao aus regelmäßig nach Saudi-Arabien verschifft. Die gut situierte baskische Waffenindustrie kann zufrieden sein, sie erhält von der Regierung Subventionen und Produktionskredite. Dagegen arbeitet eine viele Hunderte Aktivist*innen zählende Pro-Flüchtlings-Bewegung gegen Rassismus und Krieg. Sie versucht, über die Ursachen des Krieges aufzuklären. Auch 2019 reiste eine Solidaritäts- und Aufklärungs-Brigade in den Süden. Nach Griechenland und Andalusien war diesmal die auf dem afrikanischen Kontinent liegende Enklave Ceuta Ziel der Kampagne.
WETTEN
Die baskische Gesellschaft hat ein neues altes Thema entdeckt: Das Wetten und seine Gefahren. Eine alte Tradition baskischer Männer ist es Haus, Hof, oder viel Geld beim Sport oder Wettkampf zu verwetten. Dazu werden unrühmliche Geschichten erzählt. Eine Statistik besagt, dass Leute aus Bizkaia für die Reyes-Lotterie im Januar durchschnittlich 30 Euro ausgeben. In Anbetracht der vielen Nichtspieler*innen muss es ein Wahnsinn sein, den die übrigen ausgeben. Das Phänomen ist Teil der herrschenden Ideologie: wenn schon nicht reich durch Arbeit, dann eben mit Glück.
Das neue Wetten hat ein anderes Gesicht. Es hat nichts mehr mit Stieren oder Holzhacken zu tun, sondern versteckt sich hinter Internet und neuen Technologien. Unzählige Wett-Unternehmen drängen auf den Markt und öffnen Spielsäle. Auffällig ist, dass dies bevorzugt in Stadtteilen mit ökonomisch benachteiligter Bevölkerung geschieht. Nicht zufällig sind arme Leute stärker von Wetten und der daraus entstehenden Sucht betroffen, weil sie nichts zu verlieren haben und im Wetten ihre einzige Chance sehen. Stadtteil-Initiativen fordern nun als ersten Schritt, dass im Sicherheitsabstand von Schulen und anderen Bildungseinrichtungen keine Spielsäle stationiert sein sollen. Symptomatisch für das Fortschreiten der Wett-Walze sind die Trikots von Profi-Sportlern. Die Hälfte der spanischen Fußball-Liga trägt Wett-Werbung, im Basketball ist es ähnlich. Berichte über Süchtige und Therapien häufen sich in den Medien.
WIRTSCHAFT
Der letzte G7-Wirtschafts-Gipfel fand – mit dem Faschisten Trump – im nordbaskischen Biarritz (bask: Miarritze) statt. Für Gegendemonstrant*innen bedeutete es Tage von Ausnahmezustand. Zeitweise wurde die Grenze gesperrt, jugendliche Reisende aus Deutschland wurden auf dem Weg zum Urlaubsort verhaftet und monatelang in Vorbeugehaft genommen. Alles im Zeichen von polizeilicher Normalität. Auf Hamburg folgte Biarritz. / Die von der baskischen Regierung gepuschte Telefongesellschaft Euskaltel (ehemals mit Vertretung bei der Tour de France) wurde vom britischen Risiko-Kapital-Fond Zegona teilübernommen. Dies führte zu Hauen und Stechen um Vorstandsposten, Ausgang unklar. / Der gipuzkoanische Vorzeige-Zughersteller CAF, der jedes Jahr mit Aufträgen aus anderen Ecken der Welt glänzt, hat ausgerechnet einen Auftrag der israelischen Regierung angenommen, eine Straßenbahn für das Westjordanland zu bauen. Nicht für palästinensische Passagiere versteht sich. Eine UNO-Kommission sieht das problematisch, baskische Gewerkschaften und die Internationalismus-Bewegung mobilisieren dagegen. Sogar der Betriebsrat des Unternehmens hat sich deutlich gegen den Auftrag ausgesprochen – das übliche Totschlags-Argument Arbeitsplätze hat an dieser Stelle keine Bedeutung, weil es um zionistische Kolonisierungspolitik geht. / Die beiden großen Auto-Hersteller im Baskenland und Navarra haben ihrer Belegschaft Produktions-Sicherheit versprochen. VW in Pamplona und Mercedes in Vitoria-Gasteiz bauen neue Modelle. / Die Abwicklung der letzten baskischen Großwerft La Naval in Sestao, vor den Toren Bilbaos ist vollzogen. Verrentungen, Abfindungen oder Übernahmen von Arbeitnehmern durch andere Zweigstellen des Unternehmens haben die Liquidierung perfekt gemacht. Der Großraum Bilbao verliert eine weitere industrielle Bastion. / Nicht pessimistisch, aber mit einer gewissen Sorge werden die Wirtschafts-Prognosen für das Baskenland gesehen. Die Unsicherheit des Brexit hat ebenso negative Folgen wie die Handelsstreits zwischen USA, Europa und China. Dabei steht die baskische Wirtschaft besser da als sie spanische.
ZORROTZAURRE, BILBAO
“Vor der Spitze“ heißt die Halbinsel in Bilbao, die im vergangenen Jahr zur Insel gemacht wurde, indem die letzte Landverbindung abgebaggert wurde. Nun wird das lange schmale Eiland zum vorletzten großen Spekulations-Objekt der Stadt. Erst in der 1950er Jahren war die Halbinsel durch Aushebung eines Kanals auf der rechten Seite entstanden. Vor 15 Jahren durfte die berühmte irakische Architektin Zaha Hadid für Millionen von Euros einen Bebauungs-Plan erstellen. Davon ist wenig übrig. Was auf dem “Manhattan Bilbaos“, einem Schlauch von nicht mal einem Quadratkilometer Fläche gebaut werden soll, dazu zeigt sich die Stadtverwaltung wortkarg. Man folgt der Strategie der vollendeten Tatsachen. Vorerst wurde eine Brücke gebaut, eine zweite folgt. Die alten Fabrikgebäude und Werkstätten sind weitgehend abgerissen, der Neubau – zum Beispiel von Luxuswohnungen – soll an der Spitze beginnen. Bis dahin sind noch Probleme abzuarbeiten. Um die notorische Überschwemmungsgefahr zu reduzieren soll das Bodenniveau erhöht werden.
(Redaktioneller Tipp: Zu einigen der hier nur kurz angerissenen Themen gibt es bei BASKULTUR.INFO wie auch beim teilweise ebenfalls deutsch-sprachigen Blog BASKINFO.BLOGSPOT.COM Hintergrund-Artikel, die tiefer in die Thematiken einführen. Hervorragende regelmäßige Informationsquellen zu baskischen und katalanischen Themen sind HEISE.DE bzw. TELEPOLIS.)
ABBILDUNGEN:
(1) AKW Lemoiz (vanguardia)
(2) Euskaltzaindia (elcorreo)
(3) Eurocopa (collage)
(4) Feministinnen (publico)
(5) Korrika (logo)
(6) Berri Txarrak (elcorreo)
(7) Rentner*innen (elcorreo)
(8) Altsasu-Fall (elcorreo)
(9) GAL + ETA (youtube)
(10) Waffen gegen Jemen (radioklara)
(11) Wetten (diariovasco)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-01-19)