12ok01Symbol des spanischen Kolonialismus

Vor 530 Jahren landete die Kolumbus-Expedition im Auftrag der kastilischen Krone zum ersten Mal auf lateinamerikanischem Boden. Vor der Ankunft der Konquistadoren lebten auf dem Kontinent 70 Millionen Menschen in Urvölkern. 150 Jahre später waren es nur noch 3,5 Millionen. Die Hälfte von ihnen starb an Krankheiten. Die übrigen wurden in den Eroberungs-kriegen getötet oder verloren ihr Leben bei der Zwangsarbeit in den Minen. Spanien feiert diesen historischen Völkermord jedes Jahr am 12. Oktober.

Ein Großteil der Bevölkerung Amerikas ausgelöscht, Millionen Afrikaner*innen als Sklaven verschleppt, ungezählte indigene Frauen vergewaltigt, die Urvölker ihrer Ländereien und Kulturen beraubt und zu Millionen von Minenarbeitern gemacht – am 12. Oktober gibt es nichts zu feiern. Weder in Spanien noch auf dem Subkontinent.

Eroberung und Kolonisierung haben zur Folge, dass Tausende von Menschen getötet, ihr Land genommen, ihre Sprachen und Kulturen verdrängt und eliminiert werden. Eroberung und Kolonisierung sind niemals zivilisatorische Akte. Ohne historische Ausnahme sind sie Akte der Herrschaft und der Barbarei. (1)

Hispanität - Spanischtum

In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelten der Priester Zacarías de Vizcarra (1879-1963), Ramiro de Maeztu (1874-1936, Schriftsteller und Diplomat), Manuel García Morente (Priester und Philosoph, 1886-1942) und Miguel de Unamuno (Philosoph, 1864-1936) den Mythos der “Hispanidad“ (Spanischtum, Hispanität), als Synthese zwischen katholischem Dogma und nationaler Einheit. (2)

Unter dem Begriff der “Hispanität“ wird die Gesamtheit der spanischsprachigen Welt verstanden, aber auch eine in Spanien und Iberoamerika anzutreffende Weltanschauung, wonach die spanisch-sprachige Welt eine Einheit bilde. Im Sinne der geografisch-kulturellen Bezeichnung wird der Tag der “Entdeckung Amerikas“ (12. Oktober 1492) bis heute als “Día de la Hispanidad“ (Tag der Hispanität, und spanischer Nationalfeiertag) begangen. (3)

Im politisch-ideologischen Sinne erlebte der Gedanke der “Hispanidad“ während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Blütezeit, besonders während der Franco-Diktatur, welche in Lateinamerika erhebliches Ansehen genoss und als Vorbild für eine Anzahl südamerikanischer Präsidenten diente, von Juan Perón bis hin zu Diktatoren wie Augusto Pinochet. Ein Historiker beschrieb die “Hispanidad“ als “Ideologie der Konservativen diesseits und jenseits des Atlantiks, und als im Wesentlichen rückschrittlich-nostalgisches, auf geistig-kultureller Ebene sich in hohler Rhetorik erschöpfendes Programm des längst obsoleten Imperialismus und Kolonialismus“ (Spanien-Lexikon). (3)

Spanischer Imperialismus

12ok02Diese Weltanschauung betonte den Umstand, dass bis heute die Gemeinschaft der spanisch-sprachigen Länder weitaus enger sei und die kulturellen Gemeinsamkeiten weit ausgeprägter als etwa zwischen den Ländern des früheren französischen oder englischen Kolonialreichs. Sie boten daher eine Anzahl von Anhaltspunkten, um als Einheit begriffen zu werden. Der Gedanke der “Hispanidad“ ging einher mit einer Spanien verherrlichenden Lehre von der Größe, Sendung und Auserwähltheit des Landes, was auf Spanisch mit “la vocación imperial“ (Berufung zum Imperium) umschrieben wird. (3)

Seit dem Spanienkrieg ist diese “Hispanität“ als Element des “National-Katholizismus“ (franquistische Eigenbezeichnung) und des spanisch-reaktionären Denkens geprägt. Das Fest wurde zusammen mit dem 18. Juli (Tag des Militärputschs 1936) zum wichtigsten Erinnerungs-Datum der Franco-Diktatur, die Bezeichnung des Tages war “Día de la raza“ – “Tag der Rasse“ – ein überaus aufschlussreicher Name. Nachdem der Massenmörder Franco 1975 an Altersschwäche starb und der Staat auf einen pseudo-demokratischen Kurs gebracht war, wurde der 12. Oktober als Feiertag umbenannt. Um sie ihm den ranzig-reaktionären Beigeschmack zu nehmen und ihn mit den neuen, in einer Demokratie akzeptierten politischen Werten in Einklang zu bringen, wurden die national-katholischen Elemente der faschistischen Propaganda getilgt. Aus dem “Tag der Rasse“ wurde der “Tag der Hispanität“. Dieser Tag wird seltsamer- und bezeichnenderweise nicht nur im europäischen Kolonialland begangen, sondern auch in der Mehrheit der vor 500 Jahren geknechteten, versklavten und liquidierten Gesellschaften und den daraus entstandenen Nationalstaaten. (1)

Kritik aus Lateinamerika

Während des sogenannten “demokratischen Übergangs“ (Transition) von der Diktatur in eine parlamentarische Demokratie war diese propagandistische Reinwaschung erfolgreich, seine Mythen wurden vor einer kritischen Analyse bewahrt. Heute hingegen ist diese Operation bloßgestellt und entlarvt. Niemand kann mehr ignorieren, dass der Festtag weiterhin die Eroberung und Kolonisierung hochleben lässt (ein militaristisches Spektakel), den folgenden Völkermord unausgesprochen mit einbegriffen. Die Geschichten werden nicht beim Namen genannt. Zumindest nicht von der herrschenden Klasse im Staat.

Andere Töne werden aus einigen ehemaligen Kolonien angeschlagen. Hugo Chavez fand mehrfach deutliche Worte zu den blutigen Ereignissen während der 500 Jahre Kolonisierung, der aktuelle Präsident Mexikos, Andrés Manuel Lopez Obrador, nannte das Verhältnis seines Landes zu Spanien “schlecht“ und geprägt von einer fortgesetzten “Ausplünderung“. Gemeint ist damit die aktuelle Ausbeutung durch multinationale Konzerne wie den Energieriesen Iberdrola (4). Generell sind die Meinungen im Subkontinent gespalten: Linke Politiker*innen benennen das historische Massaker, Rechte ignorieren es und folgen dem reaktionären spanischen Ultranationalismus.

In Lateinamerika gab es vor der Ankunft der kastilischen Konquistadoren 70 Millionen Ureinwohnerinnen und Ureinwohner. 150 Jahre später waren es nur noch 3,5 Millionen. Die Hälfte von ihnen starb an von den Europäern eingeschleppten Krankheiten. Die übrigen wurden in den Eroberungskriegen getötet oder verloren ihr Leben bei der Zwangsarbeit in den Minen. Die Historiker Cook und Borah haben gezeigt, dass allein die Bevölkerung Mexikos von 25,2 Millionen im Jahr 1518 auf 700.000 im Jahr 1623 zurückging – nach 105 Jahren Gemetzel und Vernichtung blieben nur weniger als 3% der ursprünglichen Bevölkerung übrig. (3)

Wenn von Ausrottung die Rede ist, haben wir es nicht mit einem ideologischen Konzept zu tun oder dem Propaganda-Slogan eines Kulturkrieges. Der US-amerikanische Anthropologe H. F. Dobyns schätzt, dass 95% der Gesamtbevölkerung des später Amerika genannten Kontinents in den ersten 130 Jahren nach der Ankunft von Kolumbus aus unterschiedlichen Gründen starben oder ausgelöscht wurden.

Historisch einmaliges Massaker

Ohne zeitliche Unterbrechungen kam das gesamte Repertoire an Enteignung und Gewalt gegen die indigene Bevölkerung zum Einsatz. Erst durch den Rückgang der Edelmetall-Gewinnung infolge der Erschöpfung der Minen wurde es abgeschwächt. Ausbeutung und Ausplünderung von Eigentum und Leben wurden weder durch die Gesetze von Burgos noch durch die eroberungs-kritischen Berichte des Priesters Bartolomé de las Casas gemildert. Die Gesetze von Burgos von 1512 und 1542 waren ein Tropfen auf den heißen Stein. Ohne praktische Auswirkungen und ohne die Mittel zu ihrer Durchsetzung konnten sie die Ausplünderung durch die Söldner und Beauftragten der Krone Kastiliens nicht verhindern. Die Beute – das darf nicht vergessen werden – war für die kastilische Krone unentbehrlich, um ihre europäischen Kriege für die Dauer von mehr als zwei Jahrhunderten bezahlen zu können und in überschwänglicher Dekadenz zu leben.

Rassistische "Zivilisation"

12ok03Die “kulturelle Angleichung“ war kein freiwilliger historischer Prozess, sondern mit Blut, Schweiß und Tod teuer bezahlt. Die Christianisierung war nicht das Ergebnis einer spontanen Akzeptanz, die sich aus der natürlichen Wahrnehmung der “Überlegenheit der spanischen Kultur“, der kastilischen Sprache und der katholischen Religion durch die einheimische Bevölkerung ergab (wie bis heute gerne behauptet wird). Gewalt war die unvermeidliche Geburtshelferin dieser “Zivilisation“, der Vergleich mit anderen Kolonisations-Prozessen sind Rechtfertigungen, mit denen rechte Parteien die spanische Monarchie von ihrer historischen Verantwortung entlasten.

Kolonialismus ist ein Phänomen von allumfassender Gewalt: kulturelle Gewalt und wirtschaftliche Gewalt, physische Gewalt und strukturelle Gewalt. Um dieses komplexe Phänomen zu verstehen, bedarf es nicht nur einer realen historischen Darstellung, sondern auch einer historischen Erinnerung, um die Geschichte bekannt zu machen. Eine Umkehrbarkeit der Vergangenheit ist nicht möglich. Möglich ist zumindest ein historisches Gedächtnis, dessen Ziel darin besteht, die Ereignisse und Verbrechen anzuerkennen.

Spanische Negation

Die Weigerung des spanischen Staates, sich für den räuberischen Charakter des kastilischen Imperialismus zu entschuldigen, distanziert Spanien von jenen Ländern, die dies (zumindest zum Teil oder punktuell) bereits getan haben: Belgien, die Niederlande, Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Auch im Gegensatz zur katholischen Kirche, die mit den Vergebungsbitten von Johannes Paul II. im Jahr 1992, von Benedikt XVI. im Jahr 2007 und von Papst Franziskus bei mehreren Gelegenheiten seit 2015 einen Teil ihrer Verantwortung übernommen hat.

Staaten haben im Gegensatz zu Einzelpersonen eine ererbte historische Verantwortung, die von der Vergangenheit auf die Gegenwart übertragen wird, so wie die Macht übertragen wird, die nicht bei den Individuen liegt, die sie ausüben, sondern bei dem Staat, der sie legitimiert.

Die Päpste wissen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, dass die Macht sich nicht selbst diskreditiert, wenn sie ihre historischen Fehler eingesteht. Im Gegenteil: Selbstkritik ist in modernen Gesellschaften kein Zeichen von Schwäche, sondern von moralischer Stärke. Was für die Kirche einfach ist, sollte auch für die spanische Monarchie einfach sein. Der Völkermord in Lateinamerika sollte Teil der normalisierten historischen Darstellung der von der Monarchie erworbenen Verantwortung sein. Doch hat die spanische Monarchie nach wie vor ein autoritäres Prestigegefühl, das dem eines diktatorischen Staates ähnelt: man weiß, dass man es sich nicht leisten kann, den Bürgern gegenüber Schuld einzugestehen – und stellt sich so mit den damaligen Völkermördern auf eine Stufe.

Indigener Widerstand

Fortschritte sind zu verzeichnen bei der Verbreitung des historischen Wissens über den Völkermord in Lateinamerika. Parallel dazu haben die Proteste der indigenen Bevölkerung gegen die Gedenkfeiern zugenommen. Die indigenen Völker haben das Wissen über die Kolonisierung als ein Element ihrer Identität aufgenommen, auf das sie nicht verzichten können und wollen, da die Erinnerung an dieses Wissen notwendig ist, um zu politischen Subjekten zu werden und die ihnen zustehende Macht zu erlangen (Zapatistas, Evo Morales). In den heutigen Erinnerungs-Gesellschaften stehen die Opfer im Mittelpunkt des ethischen Diskurses der Demokratien. Diese zentrale Stellung konstituiert sie als kollektives Subjekt mit der Fähigkeit zum politischen Handeln. Diesen Akt von reiner Demokratie als eine "indigenistische Neuauflage des Kommunismus" zu bezeichnen – wie es die spanische postfranquistische PP kürzlich getan hat – ist das Ergebnis einer unfassbaren Ignoranz.

Das reaktionäre Spanien

12ok04Aus dem Blickwinkel der geschichtlichen Tatsachen und demokratischer Werte kann es am 12. Oktober nichts zu feiern geben. Nur die Sicht des rechten spanischen Patriotismus, der die wahren historischen Ereignisse nicht sehen will, gerät in Feierstimmung. Für die reaktionäre PP ist die Leugnung des Völkermords ein Propagandamittel im Dienste der symbolischen Aufrüstung des spanischen Nationalismus. In diesem Sinne hat die Leugnung der Kolonisierung durch die extreme Rechte große Ähnlichkeit mit der Leugnung der Franco-Diktatur.

Doch gibt es historische Realitäten, die weder negiert, noch ignoriert, noch verdrängt werden können – Realitäten, die sich durch die unaufhaltsame Entwicklung der historischen Wahrnehmung Raum schafft. Egal, wie stark die reaktionäre spanische Bewegung versucht, die Tatsache der Kolonisierung unter den Teppich zu kehren; egal, wie viele Propaganda-Kampagnen gestartet werden – die Kolonisierung wird anhand der vorliegenden Daten, der in Primärquellen nachgewiesenen Fakten und den aus der historischen Analyse abgeleiteten Schlussfolgerungen weiterhin mit der notwendigen wissenschaftlichen Strenge untersucht.

Die endgültige Absage der Feierlichkeiten zum 12. Oktober ist eine Schuld, die der spanische Staat spätestens seit 1975 gegenüber allen lateinamerikanischen Völkern hat. Sie ist auch eine Schuld gegenüber den ethischen Werten, die die eigene Demokratie untermauern und stärken könnte. Um eine Vorstellung von der Schwere dieses spanischen Defekts zu bekommen, stellen wir uns abschließend eine einfache, aber aufschlussreiche Frage: Können Sie sich einen nationalen Festtag vorstellen, der in England die Beherrschung Schottlands und Irlands feiert, mit der Rechtfertigung eines zivilisatorischen Prozesses?

Der Autor

Artikel von Lucio Martínez Pereda, Absolvent der Universität von Santiago de Compostela in Geografie und Geschichte, Geschichtslehrer am Gymnasium Valadares in Vigo. Er untersuchte die Nachhut Francos während des Spanienkriegs: Mobilisierung, politische Propaganda und administrative Säuberung und untersucht die Mobilisierung und Politisierung der Massen in der Anfangsphase der Diktatur in Galicien. Sein Werk “Medo político e control social na retagarda franquista” war 2016 Finalist für den Kritiker-Preis in Galicien.

ANMERKUNGEN:

(1) “El maldito 12 de octubre“ (Der verfluchte 12.Oktober), Eulixe.com, 2022-10-12 (LINK)

(2) Zacarías de Vizcarra y Arana (1879-1963) war ein spanischer katholischer Priester, der als treibende Kraft hinter dem Begriff "Hispanidad" gilt. Er war ab 1944 Generalrat der Acción Católica Española. Im Jahr 1947 wurde er zum Titularbischof von Ereso geweiht. (Wikipedia)

Ramiro de Maeztu y Whitney (1874-1936) war ein spanischer Romancier, Literaturkritiker und politischer Theoretiker. Als junger Mann Anhänger einer sozialdarwinistischen Weltanschauung. Gehörte zur Generation '98. 1905 als Korrespondent in Großbritannien. Wanderte schließlich in reaktionäre Positionen ab, während der Diktatur von Primo de Rivera (1923-1930) Botschafter in Argentinien. Förderer des Konzepts der "hispanidad", Bezugspunkt für eine Schule des reaktionären Denkens in Spanien. Überzeugter Militarist, in der Zweiten Republik führende Figur der Kulturgesellschaft und der konterrevolutionären und monarchistischen Zeitschrift Acción Española, die er später auch leitete. Seit 1933 Cortes-Abgeordneter für Gipuzkoa. Nach Franco-Putsch verhaftet, interniert und im Herbst 1936 ermordet. (Wikipedia)

Manuel García Morente (1886-1942) war spanischer Priester, Philosoph, Theologe und Übersetzer. Konvertierte zum Katholizismus und wurde 1940 Priester. Ordentliches Mitglied der Königlichen Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften. Die letzten Jahre seines Lebens Vollendung seiner Studien über die Philosophie der Geschichte Spaniens (1942, Ideas para una filosofía de la historia de España), in denen er die Existenz einer ewigen Idee von Spanien rund um den Begriff der “hispanidad“ postuliert. (Wikipedia)

(3) Hispanität, Wikipedia (LINK)

(4) Iberdrola S.A. ist ein baskisches Energie-Unternehmen mit Sitz in Bilbao. 2008 siebtgrößter europäischer Stromproduzent. Niederlassung der Iberdrola Energie Deutschland GmbH in Berlin. Wichtigster Stromlieferant in Lateinamerika. In den Forbes Global 2000 der weltweit größten Unternehmen belegt Iberdrola Platz 146 (Stand: 2017). Das Unternehmen kam Mitte 2018 auf einen Börsenwert von etwa 50 Milliarden US-Dollar. (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Kolonialismus (eulixe)

(2) Ureinwohner (naiz)

(3) Hispanität (naiz)

(4) Hispanität (naiz)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-10-19)

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