wahr01Über Verbrechen sprechen

Gewaltsame Konflikte zeichnen sich meist durch mehrseitige Gewaltanwendung aus. Das gilt für den spanisch-baskischen Konflikt genauso wie für jenen, der vor wenigen Jahren in Kolumbien mit “Friedensverhandlungen“ zu Ende gebracht wurde. Von Frieden zu sprechen ist dabei eine maßlose Übertreibung, solange die Ursachen des Konflikts nicht behoben sind und Paramilitärs weiter ihre Kreise ziehen. Aufarbeitung besteht nicht in der Anklage der Verbrechen der anderen, sondern im Eingeständnis der eigenen.

Wahrheitskommissionen können bei der Aufarbeitung von gewaltförmigen Konflikten helfen, doch nur wenn beide Seiten dazu bereit sind. Den konfliktbeteiligten Staaten und Sicherheitskräften fällt das besonders schwer, wenn dem “Terrorismus“ ein “Staatsterrorismus“ gegenüber steht. Südafrika und Kolumbien sind positive Beispiele, Spanien das Gegenteil.

Jahrelang hat die kolumbianische Regierung (Präsident Juan Manuel Santos) in Havanna (Kuba) mit der historischen kolumbianischen FARC-Guerrilla über eine Beilegung des militärischen Konflikts und eine Reintegration der Kämpfer*innen in die Zivilgesellschaft verhandelt. Nicht ganz überraschend wurde der erzielte Abschluss bei einem Referendum abgelehnt. Es folgte eine rechte Regierung und die Ermordung von Hunderten von demilitarisierten FARC-Kämpfer*innen. Erst Jahre später wurde eine international begleitete Wahrheits-Kommission eingerichtet, die Konflikt-Verbrechen aufklären und den Opfern eine verdiente Gerechtigkeit zukommen lassen soll. Nicht überall funktionieren solche Wahrheits-Kommissionen, in Kolumbien haben Militärangehörige und Guerrilla-Kommandanten einen vielversprechenden Anfang gemacht.

Militärs geben Morde zu

Zehn kolumbianische Militärangehörige und ein Zivilist erschienen vor dem Sondergerichtshof für Frieden, JEP. Diese “Jurisdicción Especial para la Paz“ (Ausnahme-Justiz für den Frieden) sucht die Wahrheit der historischen Ereignisse nicht, um Urteile im klassischen Sinne auszusprechen. Ihr Ziel ist, die Menschenrechts-Verletzungen für alle offen zu legen und eine Basis zu schaffen für eine künftige Koexistenz. (1)

wahr02Im vorliegenden Fall gaben die Militärs zu, eine Strategie der “Falschen Positiven“ (Falsos Positivos) durchgeführt zu haben. Dabei wurden Zivilist*innen getötet und im Anschluss als im Kampf getötete Guerillas ausgegeben, um finanzielle Belohnungen zu erhalten und so die offizielle Liste der toten Guerrilleros zu verlängern. Die elf Personen wurden vom JEP-Gericht wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Diesen Tatbestand der “Falschen Positiven“ hatten kolumbianische und internationale Menschenrechts-Organisationen und Friedensinitiativen jahrelang erfolglos beklagt. (2)

Der Obergefreite Néstor Guillermo Gutiérrez Salazar, einer der Angeklagten in diesem Fall, erschien vor der Untersuchungskammer des Sondergerichtshofs, bei dem es um die Aufklärung von Menschenrechts-Verbrechen geht, die im kolumbianischen Konflikt zwischen Armee, Paramilitärs und Guerrillagruppen von allen Seiten begangen wurden.

"Um es klar zu sagen. Wir haben die Region von Catatumbo mit Blut überzogen. Wir haben den guten Namen der Region geschädigt. Wir haben die Namen dieser Familien beschmutzt. Wir haben Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Ich übernehme die Verantwortung. Ich bitte Gott, meine Familie und meine Kinder um Vergebung. Ich habe feige gemordet, ich habe die Kinder ihrer Hoffnungen beraubt, ich habe ihren Müttern unter dem Druck falscher Ergebnisse das Herz aus dem Leib gerissen, um eine Regierung zufrieden zu stellen. Das ist nicht gerecht", sagte der Obergefreite vor den Opfern. Vom Sondergericht JEP wird er angeklagt als "Hauptverantwortlicher für die Morde und das Verschwindenlassen von Personen in der Region Norte de Santander, die als Gefechtsopfer dargestellt wurden". Zum Zeitpunkt der Ereignisse (zwischen dem 7. Februar 2007 und dem 19. Dezember 2008) war er Kommandeur einer Kompanie des Guerrilla-Abwehr-Bataillons Nr. 98 der Beweglichen Brigade Nr. 15.

Einer der Richter erinnerte daran, dass Gutiérrez Salazar "eine Liste von Personen erstellt hatte, die später hingerichtet wurden, dass er in mehreren Fällen Informationen über die Opfer zusammentrug, und dass er Waffen beschaffte, um Gefechte mit der Guerrilla zu simulieren. Er habe dazu beigetragen, dass einige Opfer in die Hände militärischer Einheiten fielen, die sie schließlich töteten".

"Wir haben Unschuldige getötet"

In seiner Rede bekannte sich der inzwischen pensionierte Soldat zu seiner "Verantwortung als Mitschuldiger an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie an der Ermordung einer geschützten Person. Es ist nicht leicht, hier vor den Opfern zu stehen. Ich werde nicht rechtfertigen, was ich getan habe, weil ich Verbrechen begangen habe. Wir haben unschuldige Menschen ermordet. Bauern. Als ich mit den Opfern zusammentraf, habe ich mich verpflichtet, die Öffentlichkeit und das ganze Land über die damaligen Ereignisse aufzuklären. Dass diejenigen, die wir getötet haben, Bauern waren", sagte er zu Beginn seiner Einlassung.

"Es gab Druck vom Oberkommando. Sie verlangten, dass wir Ergebnisse vorlegen (...). Wir mussten auf jede erdenkliche Weise nach Ergebnissen suchen, und wir hatten Kontakt zu paramilitärischen Gruppen in der Region, insbesondere in Aguachica, um Waffen zu bekommen. Die Liste, die ich in El Carmen (Region Norte de Santander) mit Hilfe von María Eugenia Ballena erstellt habe, umfasste 14 Personen. Sie wurde für jede Person, die sie auslieferte, bezahlt (...). Auf die eine oder andere Weise kannte sie viele Leute, denn sie war diejenige, die die Bar leitete (...) und wir begannen, unschuldige Menschen hinzurichten. Ich habe damals nicht an den Schaden gedacht, den ich anrichte", sagte er.

An eines der Opfer gerichtet, Sandra Barbosa, deren Bruder auf der Liste stand: "Ich nahm an, dass Javier Peñuela ein Bauer war, der um 5 Uhr morgens aufstand, um zu arbeiten, und dessen Sünde es war, mit Zahnschmerzen ins Dorf zu gehen, um sich den Zahn entfernen zu lassen. María Eugenia Ballena hatte ihn bereits in die Liste aufgenommen. Sie rief mich an, um mir zu sagen, dass Peñuela mit dem Fahrrad ins Dorf gefahren sei. Ich war nicht dort, sondern koordinierte mich mit einer anderen Einheit, die in der Nähe war. Die Armee kam und holte ihn gewaltsam aus dem Laden. Sie haben ihn mitgenommen“.

Peñuela wurde mit einem von paramilitärischen Gruppen gekauften Gewehr gefunden. "Wir haben ein Theater veranstaltet, um ein angebliches Gefecht zu zeigen, weil wir vom Oberkommando unter Druck gesetzt wurden. Ich habe Menschen exekutiert. Ich habe Angehörige derer getötet, die hier im Gerichtssaal sind; ich habe sie mit Lügen und Täuschung entführt, ich habe sie erschossen und ihnen dann eine Waffe in die Hand gelegt, um so zu tun, als hätte es einen Kampf gegeben und als hätte es sich um einen Guerrillakämpfer gehandelt".

Von Angesicht zu Angesicht

Ein weiterer Militär, der als Zeuge aussagte, war Hauptmann Daladier Rivera Jácome. Gegenüber Villamir Rodríguez, dem einzigen überlebenden Opfer der "Akte 03", erzählte er von der Operation gegen ihn und räumte ein, dass dieser "kein Kämpfer" gewesen sei. "Ich bin dafür verantwortlich, dass Sie nach den grausamen Ereignissen, die Sie gerade geschildert haben, einige Zeit inhaftiert waren. Ich habe falsche Geheimdienst-Dokumente erstellt, die ich an die Staatsanwaltschaft weitergegeben habe", sagte er und gab zu, dass demobilisierte Kämpfer für falsche aussagen bezahlt wurden. Major Juan Carlos Chaparro erinnerte sich, dass "viele Opfer zu meinem Bataillon kamen und ich sie belogen habe. Ich habe ihnen mit lauter Stimme gesagt, dass ihre Angehörigen in irgendeiner Guerrilla-Struktur verwickelt wären, was nicht stimmte, gleichzeitig waren die Untergebenen aktiv“.

Die Stimme der Angehörigen

In der mehr als neunstündigen Anhörung meldeten sich zahlreiche Opfer zu Wort. Unter ihnen Antonio María Peña, ein Bauer aus der Region El Tarra, der zwei Brüder als "Falsche Positive" verloren hat. "Haben sie Uniformen getragen, um einfache Bauern zu ermorden? Wie viele Vergünstigungen hat der Staat gewährt, um einen Zivilisten zu töten?" fragte er die anwesenden Militärs.

"Ich bin María Amparo Suárez, die Mutter von Luis Alberto Sandoval, der von denen, die hier sitzen, hingerichtet wurde, weil sie die Hinrichtung angeordnet haben. Wir bitten Sie um eine ehrliche Anerkennung, um den guten Namen der Menschen mit Namen und Nachnamen zu reinigen. Was Sie damals öffentlich behaupteten, war falsch. Wir fordern Sie auf, Ihre ungerechtfertigten Äußerungen zu widerrufen. Keiner von Ihnen verfügte über Informationen, dass unsere Verwandten Kriminelle waren", sagte diese Mutter, die seit 14 Jahren nach Wahrheit sucht.

Im Namen des JEP-Gerichtshofs sagte der Vorsitzende Eduardo Cifuentes, dass mit "Gerechtigkeit und Wahrheit eine andere Gesellschaft möglich sein wird. Die Tragödie, in die uns der Krieg hineingezogen hat, darf sich nicht wiederholen, wenn die Gerechtigkeit leuchtet und wenn ihr Glanz die Wahrheit ist. Kein Moment hat uns der Wahrheit und der Möglichkeit der Gerechtigkeit nähergebracht als diese Anhörung. Die Tatsache, dass zehn Angehörige der Nationalen Armee, darunter ein General, vier Obersten und fünf weitere Offiziere und Unteroffiziere sowie ein ziviler Rekrutierer in Catatumbo heute bereit sind, öffentlich ihre Verantwortung zu übernehmen, ist ein klarer Beweis für ihre Haltung. Aber auch ein Zeichen für die Großzügigkeit der Opfer und für eine Übergangsjustiz, die von der Wiederherstellung von Gerechtigkeit charakterisiert ist", bemerkte er.

"Vollständiges Bild der Falschen Positiven"

"Das JEP-Gericht hat dem Land die umfassendste Aufnahme der Fälle von ‘Falschen Positiven“ vorgelegt, in einer der am stärksten von diesem kriminellen Phänomen betroffenen Regionen, Norte de Santander. Zum ersten Mal stellte die Justiz fest, dass die Morde und das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen, die von den staatlichen Behörden als 'Kriegsopfer' dargestellt wurden, die Folge einer institutionellen Politik waren, bei der die Leiche eines im Kampf gefallenen Feindes als wichtigster Beweis für den Erfolg der militärischen Anstrengungen angesehen wurde", schloss Cifuentes. (2)

Guerrilla-Verbrechen

wahr03Der letzte Anführer der kolumbianischen FARC-Guerrilla, Rodrigo Londoño alias Timochenko, hat am 22. Juni 2022 in einer öffentlichen Anhörung in Bogotá die Verantwortung der Führung der demobilisierten Guerrilla für während des bewaffneten Konflikts begangene Entführungen und Morde an Zivilisten, Soldaten und Polizisten anerkannt. "Als letzter Kommandant der inzwischen aufgelösten FARC-EP und als Mitglied der FARC-Führungsspitze stelle ich mich, um die Durchführung der politischen Strategie von Entführungen anzuerkennen", sagte Londoño bei einer öffentlichen Anhörung, die von der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) in der Virgilio Barco Vargas-Bibliothek in Bogotá einberufen wurde. (3)

Neben Londoño erschienen Pablo Catatumbo Torres, Pastor Lisandro Alape Lascarro, Milton de Jesús Toncel, Jaime Alberto Parra, Julián Gallo Cubillos und Rodrigo Granda Escobar, alle Mitglieder des letzten FARC-Sekretariats, des höchsten Organs der Guerrilla und damit verantwortlich für die Aktionen dieser bewaffneten Organisation.

In einer verlesenen Erklärung fügte Londoño hinzu, sie seien gekommen, um "unsere kollektive Verantwortung für eines der schrecklichsten Verbrechen zu übernehmen, das von unserer Organisation begangen wurde, das Ergebnis einer Politik, die zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen geführt hat". Ein Eingeständnis, das in Bezug auf den im Juli 2018 eröffneten “Fall 01“ gemacht wird. An der Anhörung nahmen auch Opfer von Entführungen teil, die Gerechtigkeit und die Unterlassung von Wiederholungen forderten.

Die Untersuchungen des JEP-Sondergerichts zeigen, dass sich die Entführungsbefehle pauschal gegen Menschen aus allen sozialen Schichten richteten und in der Praxis nicht nach Territorien, Geschlechtern, Alter oder besonderer Gefährdung unterschieden. "Die Behandlung der Geiseln lag im Ermessen des Wachpersonals und des diensthabenden Kommandanten, und einige Opfer berichteten von schweren Fällen von Folter, grausamer Behandlung, sexueller Gewalt und Zwangsverschleppung während der Entführung", sagte Richterin Julieta Lemaitre, die die Sitzung leitete. Sie erklärte, dass die FARC-EP mit ihrer Entführungspolitik drei Ziele verfolgte: die Finanzierung der Organisation auf verschiedenen Hierarchie-Ebenen, den Austausch für inhaftierte Guerrilleros und Guerrilleras sowie die Kontrolle der Bevölkerung in den Gebieten durch Bestrafung aus verschiedenen Gründen.

Entführungen und Ermordungen

Das ehemalige Sekretariat der FARC-EP wurde im “Fall 01“ angeklagt, weil es Befehle erteilt hatte, die zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit, schwerer Freiheitsberaubung und Kriegsverbrechen der Geiselnahme führten, sowie für die daraus resultierenden Morde und das gewaltsame Verschwindenlassen (Verschleppungen). Dem Sekretariat wurde auch die Befehlsverantwortung für andere Verbrechen zugeschrieben, die von den Untergebenen während den Entführungen begangen wurden: Folter, grausame Behandlung, sexuelle Gewalt, Zwangsumsiedlung und Versklavung. Das JEP-Gericht hatte den “Fall 01“ am 4. Juli 2018 eröffnet und konnte im Rahmen seiner Ermittlungen anhand von Namen und Ausweisen 21.396 Entführungsopfer identifizieren.

Der Anerkennungs-Anhörung ging eine Anklageerhebung voraus, danach soll das JEP-Sondergericht die Eingeständnisse akzeptieren und ein Urteil fällen. Dieses Urteil richtet sich nach dem Umfang an Wahrheit und der Schuldanerkennung durch die Angeklagten, es muss nicht unbedingt eine Haftstrafe beinhalten und wird sich in jedem Fall auf eine Wiedergutmachung für die Opfer konzentrieren. (3)

Wahrheits-Kommission Kolumbien

wahr04Die Wahrheit soll zum Instrument werden, um einen "umfassenden Frieden" in Kolumbien zu erreichen. Nach drei Jahren Ursachen-Forschung und Suche nach Verantwortlichkeiten und Folgen des militärischen Konflikts in Kolumbien wurde im Juli 2022 in Bilbao der Abschlussbericht der “Kommission für die Aufklärung der Wahrheit in Kolumbien“ vorgestellt. Die UN-Kommissare Carlos Martín Beristain (gebürtiger Baske) als Koordinator des Abschlussberichts und Alejandro Valencia stellten den Bericht der Wahrheits-Kommission der Öffentlichkeit vor. (4)

Das Prinzip Wahrheit soll zum Instrument werden zur Beendigung der anhaltenden bewaffneten Auseinandersetzungen, zur Überwindung der Faktoren für das Fortbestehen dieser Auseinandersetzungen, zur Wiederherstellung des Vertrauens in der Gesellschaft und in den Institutionen, zur Förderung der Versöhnung und zur Gewährleistung der Nichtwiederholung des bewaffneten Konflikts. Das sind große Worte. Die Kommission erinnert an die Tragödie eines bewaffneten Konflikts, in dem 80% der Opfer nicht militarisierte Zivilisten waren und in dem weniger als 2% der Opfer bei militärischen Auseinandersetzungen zu Tode kamen.

"Nationales Projekt

In ihren Empfehlungen hebt die Kommission einen "umfassenden Frieden" als langfristige Priorität hervor. Er müsse zu einem "nationalen Projekt" werden, das allen Personen und den verschiedenen gesellschaftlichen Gemeinschaften gleichermaßen Rechte garantiert. Dialog müsse zum Hauptinstrument für den "Umgang mit Unterschieden und de Lösung von Konflikten" werden.

Andererseits wird es für unabdingbar bezeichnet, die Opfer des bewaffneten Konflikts in ihrem Schmerz, ihrer Würde und ihrem Widerstand anzuerkennen. Es sei notwendig, die Ungerechtigkeit des erlittenen und das kollektive Trauma als Gesellschaft anzuerkennen. Dies setzt voraus, dass man sich für eine umfassende Wiedergutmachung für die mehr als neun Millionen Opfer des bewaffneten Konflikts in Kolumbien einsetzt, einschließlich der im Abschlussbericht zum ersten Mal anerkannten Opfer des Exils.

Weitere Grundlage für den Aufbau eines "großen Friedens" ist die vollständige Umsetzung des endgültigen Friedensabkommens von 2016, das es mehr als 12.000 Männern und Frauen ermöglichte, den bewaffneten Kampf aufzugeben und sich in die Zivilgesellschaft zu integrieren. Die Chance, die das Abkommen eröffnete, ist nach den Worten der Kommission "gefährdet". Entsprechend fordert sie die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der ELN (Ejercito de Liberación Nacional), der zweiten bedeutenden und noch aktiven Guerrilla. (Entsprechende Gespräche haben nach der Wahl des linken Kandidaten Gustavo Petro zum Präsidenten im September 2022 begonnen).

Bruch mit der Vergangenheit

Die Wahrheits-Kommission drängt darauf, das Problem des Drogenhandels anzugehen und anzuerkennen, dass der sogenannte "Krieg gegen die Drogen" einer der wichtigsten Faktoren für das Fortbestehen des bewaffneten Konflikts war und dass dieser “Krieg“ äußerst negative politische, soziale und ökologische Auswirkungen hatte und hat.

Sie befürwortet auch eine andere Vision von Sicherheit als Grundlage für die Schaffung von Koexistenz. Sicherheit soll als öffentliches Gut betrachtet und von der "Logik des bewaffneten Konflikts" abgrenzt werden. In diesem Rahmen wird besonderes Gewicht auf die "Transformation" des Sicherheitssektors und insbesondere auf die Rolle der Sicherheitskräfte gelegt.

Der endgültige Ausschluss von Waffen aus der Politik wird als Schlüssel für die Zukunft betrachtet. Der Frieden brauche neue Instrumente, einen Bruch mit der Vergangenheit durch einen "positiven Schock". Um dieser Herausforderung zu begegnen, wird vorgeschlagen, eine Behörde zur Förderung entsprechender Maßnahmen zu schaffen.

DREI LEKTIONEN

Für die Wahrheits-Kommission gibt es drei wichtige Lehren: die Anerkennung des Schadens, unterstützt durch große symbolische Gesten der ehemaligen FARC-Guerrilla und des Staates; die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP) zur Anwendung von Übergangsjustiz und die Aufdeckung der Verbrechen durch die "Wahrheitskommission".

Die Wahrheits-Kommission ermutigt dazu, ihre Ergebnisse, Empfehlungen und Vorschläge als Grundlage für ein neuartiges soziales und politisches Handeln zu nutzen, für grundlegende Fragen der Geschichte, der Gegenwart und des Zusammenlebens in der Zukunft. Das Erbe dieses in Bilbao vorgestellten Berichts bleibt zugänglich "in seinem Archiv, seiner öffentlichen Verbreitung und einer Dauerausstellung im Museo de Memoria de Colombia" (Erinnerungs-Museum Kolumbien).

Und im Baskenland?

Die Kommission geht davon aus, dass eine Wahrheits-Kommission auch im spanisch-baskischen Konflikt ein "interessantes Instrument" sein könnte, um auf die Forderungen nach Wahrheit der Opfer staatlicher Repression und des “Staats-Terrorismus“ zu reagieren. Nach offiziellen Angaben handelt es sich dabei um 364 Tote (38% der Fälle sind ungelöst oder ungeklärt), sowie Hunderte von Verletzten und 4.113 Gefolterte (als Dunkelziffer ist von 10.000 die Rede). Bekanntlich war der “Friedensprozess“ im Baskenland eine völlig einseitige (unilaterale) Veranstaltung, an der nur die bewaffnete Organisation ETA, die Unabhängigkeits-Linke, baskische Parteien und Gewerkschaften sowie internationale Konfliktvermittler beteiligt waren; das spanische Establishment, von PSOE bis PP, verweigerte sich diesem Prozess vollständig. (4)

ANMERKUNGEN:

(1) JEP – “Jurisdicción Especial para la Paz“ (Sonder-Justiz für den Frieden): Was ist der JEP-Gerichtshof und wer sind seine Mitglieder? Der JEP verfügt über drei Kammern, die sich aus 18 Richter*innen und 6 Amicus Curiae zusammensetzen. Letztere sind Dritte, die berechtigt sind, an den Verfahren des JEP teilzunehmen, um Informationen oder Empfehlungen anzubieten, die weitere rechtliche Elemente zur Lösung eines Falles liefern. / Was war die Praxis der JEP-Gerichtshöfe in Kolumbien? In zwei Jahren hat der JEP 7 Makrofälle zu den schwersten und repräsentativsten Verbrechen des bewaffneten Konflikts eröffnet. Es war eine mühsame Aufgabe, bei der die Beteiligung der Opfer im Vordergrund stand. / Wie ist die Entwicklung des JEP in Kolumbien? Im Jahr 2021 gab es 14 bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen kriminellen Strukturen und den Sicherheitskräften, 13 Morddrohungen gegen führende Persönlichkeiten der Gesellschaft, 6 Massaker und 5 Ermordungen von ehemaligen FARC-EP-Kämpfern. / Warum wurde der JEP-Sonder-Gerichtshof gegründet? Der JEP hat als Mechanismus der Übergangsjustiz die Aufgabe, die schwersten Verbrechen bis zum 1. Dezember 2016 zu untersuchen, aufzuklären, zu verurteilen und zu bestrafen, Verbrechen, die in Kolumbien während des mehr als 50-jährigen bewaffneten Konflikts begangen wurden. / Wann geht die Aufgabe der JEP-Gerichtshöfe zu Ende? Fünf Jahre nach ihrem Arbeitsbeginn.

(2) ”Militares colombianos admiten haber matado a civiles para hacerlos pasar por guerrilleros” (Kolumbianische Militärs räumen Tötung von Zivilisten ein, um sie als Guerrillas auszugeben) Tageszeitung Gara, 2022-04-27 (LINK)

(3) “Las FARC reconocen la comisión de delitos de lesa humanidad” (Die FARC räumen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein) Tageszeitung Deia, 2022-06-22 (LINK)

(4) “La verdad, herramienta para avanzar hacia una “paz grande“ en Colombia” (Die Wahrheit, ein Mittel, um in Kolumbien einen "großen Frieden" zu erreichen) Tageszeitung Gara, 2022-07-07 (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Kolumbien Friedensprozess (deia)

(2) Kolumbien Friedensprozess (gara)

(3) Kolumbien Friedensprozess (deia)

(4) Kolumbien Friedensprozess (gara)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-10-28)

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