Baskischer Internationalismus
Im Deutschland der 1970er Jahre wurde der Polizei “putative Notwehr“ zugebilligt. Das umfasste eine tödliche Reaktion in vermeintlicher Notwehr, die aber keine darstellte. Mit ähnlichen Argumenten werden heute Solidaritäts-Bekundungen zum Völkermord in Palästina verboten. Vorbeugend, diesmal geht es um “putativen Antisemitismus“ arabischer Migrant*innen. Verboten wird somit, gegen den Völkermord am palästinensischen Volk zu protestieren. Nur im Baskenland gehen die Uhren anders. Wieder einmal.
Die baskische Internationalismus-Bewegung hat eine lange Geschichte und pflegt viele Verbindungen, insbesondere nach Lateinamerika und in den Nahen Osten. Der Krieg und Völkermord in Gaza hat die Bewegung nicht unvorbereitet angetroffen, die Reaktionen auf der Straße sind klar, massiv und entschlossen.
Wer Israel kritisiert ist Antisemit. Und wäre die Kritik noch so vorsichtig und mit zwei Distanzierungen vorweg abgesichert. Längst ist Antisemitismus zum inhaltsleeren Totschlags-Argument geworden. Im Baskenland ist von Antisemitismus nur mit Blick über die Staatsgrenzen die Rede. Stattdessen hat eine breite und plurale Solidaritäts-Bewegung auf den Krieg gegen die palästinensische Bevölkerung und den Genozid in Gaza reagiert. Diese solidarische Bewegung in Euskal Herria ist keine Überraschung, sie ist Ausdruck einer starken Internationalismus-Bewegung mit Geschichte. Es folgt ein Baskultur-Interview mit Klaus Armbruster. Er lebt seit mehr als 20 Jahren in Euskal Herria und ist trotz Ruhestand als Journalist und Fotograf aktiv. Auch für die baskische Solidaritäts-Bewegung.
Baskultur.info: Wie ist die Palästina-Solidarität im Baskenland organisiert?
KA: Das wichtigste Merkmal dieser Bewegung ist, dass sie nicht erst aktiviert werden muss, wenn Bomben fallen, sondern dass sie immer aktiv ist, auch in Zeiten, in denen nicht mobilisiert wird. An den wichtigen Jahrestagen wie der Nakba oder dem Tag des Bodens finden regelmäßig Kundgebungen und Veranstaltungen statt. Wenn israelische Sportteams, Tanz- oder Musikgruppen auftreten, dann gibt es innerhalb der BDS-Kampagne ebenfalls Reaktionen.
Baskultur.info: Wer sind die Träger dieser Soli-Bewegung?
KA: In Euskal Herria gibt es seit Langem eine sehr aktive Internationalismus-Bewegung. Die bezog sich in den 1980er Jahren stark auf Lateinamerika, Kuba, Nicaragua, El Salvador und Chiapas, zumindest das ist vergleichbar mit deutschen Verhältnissen. In den letzten Jahren kam das Thema Kurdistan hinzu. Du musst wissen, dass es hier zudem eine starke NGO-Bewegung gibt, viele kleine Menschenrechts-Initiativen, die von baskischen Institutionen gefördert werden und auch in Palästina präsent sind.
Baskultur.info: Wer sind die Träger der aktuellen Solidaritäts-Aktivitäten?
KA: Seit mehr als 30 Jahren stehen zwei Internationalismus-Organisationen in ständigem Kontakt mit Palästina: Komite Internazionalistak und Askapena. Beide arbeiten zusammen in der BDS-Boykott-Gruppe, die hier in Bilbo vor 15 Jahren von einer NGO initiiert wurde. Dazu kommen Aktivist*innen aus anderen sozialen Bewegungen. Auch ich bin nach Kräften Teil dieser Bewegung. Diese BDS-Gruppe muss sich im Krisenfall nicht erst finden, sie ist in der Lage, innerhalb von wenigen Tagen zu reagieren. So geschehen in allen Teilen des Baskenlandes, nördlich und südlich der Pyrenäen.
Baskultur.info: Innerhalb von wenigen Tagen werden Tausende mobilisiert?
KA: Wir müssen zugeben, dass es im Baskenland relativ einfach ist, mit Aufrufen viele Leute zu erreichen. Viele wissen, was in Palästina geschieht, das baskische Fernsehen berichtet regelmäßig, ein Journalist ist da immer unterwegs. Die Leute sind sensibel für das Thema Palästina. In der Linken ist das eine alte Geschichte: Euskal Herria als unterdrücktes Land, die Leute schauen über den Tellerrand, wie es anderen Unterdrückten geht … in der Westsahara, in Kurdistan, im Iran … Innerhalb von drei Tagen kamen ein paar Tausend Menschen zu einer ersten massiven Kundgebung. Danach wurde von prominenten Personen die Initiative Gernika-Palästina ins Leben gerufen, gleich mit einer Großdemo in Donostia.
Baskultur.info: Prominente mobilisieren?
KA: Ja, viele bekannte Namen, Schauspieler*innen, Fernsehleute, von der Universität, aus der Politik. Palästina-Solidarität ist kein Privileg der radikalen Linken. Hier ist es keine Überraschung, wenn der Reporter, der aus dem Westjordanland berichtet, hier im Baskenland zur Demo aufruft. Allerdings war der Aufruf vielen nicht deutlich genug, deshalb folgte von Seiten der BDS-Gruppen eine Baskenland-weite Mobilisierung in Bilbo, ein großer Erfolg, mehr als 10.000 waren auf den Straßen, alle Medien mussten berichten. Dann wieder lokale Mobilisierungen in Städten und Dörfern, wir stehen seit Wochen unter Strom.
Baskultur.info: Wie erklärt sich diese Sensibilität für internationale Themen wie Palästina?
KA: Wer selbst gegenüber einer dominierenden Macht um seine Kultur, Sprache und sein Leben kämpfen muss, ist empfindlicher für das Leiden von anderen Ländern oder Völkern. Dazu kommt, dass das Schicksal von Gernika hier in allen Köpfen steckt. Die republikanischen Basken wurden von einer fremden Macht angegriffen, von den Nazis mit ihrer Legion Condor, ohne eine Chance zu haben, sich zu wehren. Genau dasselbe geschieht seit Langem in Palästina, da liegt die Solidarisierung ziemlich nahe.
Baskultur.info: Gibt es Palästinenser*innen in Baskenland?
KA: Es gibt Leute aus Palästina, ich kann nicht sagen wie viele. Aber das spielt eine untergeordnete Rolle. Denn es gibt viele andere aus Marokko, Algerien und anderen arabischen und afrikanischen Ländern, die sind ebenfalls bei den Demos präsent. Sehr stark sogar. Da gibt es junge Frauen, die halten Redebeiträge auf Baskisch, mit oder ohne Kopftuch. Viele Kinder, die sich selbst kleine Fähnchen oder Transparente malen. Wir sind ein bunter Haufen, es tut gut, wenn so viele unterschiedliche Leute zusammenkommen, daraus entstehen Beziehungen für die Zukunft.
Baskultur.info: Die Kontakte in den Nahen Osten haben eine längere Tradition im Baskenland?
KA: Ja, die Kontakte haben eine lange Geschichte. Einschränkend muss ich sagen, dass sich mein Horizont vor allem auf Bilbo und Bizkaia beschränkt. Komitee und Askapena haben lange Zeit Brigaden nach Palästina organisiert, das hat zu intensiven Kontakten geführt. Ich selbst habe in einem Verein für politische Bildung gearbeitet, IPES, der jahrelang Frauen aus dem Nahen Osten zu Konferenzen eingeladen hat: Palästina, Irak, Kurdistan, Indonesien, Libanon. Unter anderem haben wir dabei das Thema Feminismus im Islam thematisiert, was auf enormes Interesse gestoßen ist. Es folgten Publikationen. Kurz vor dem Irak-Krieg fuhr eine Delegation da hin, um sich zu informieren.
Baskultur.info: In Deutschland werden Demonstrationen verboten, Israel-Kritiker*innen werden als Antisemiten beschimpft. Der Vergleich mit dem Baskenland hinkt hinten und vorne …
KA: Das können wir feststellen. Den Antisemitismus-Vorwurf kennen wir hier nur aus der Presse. Wenn wir deutsche Kriterien anlegen würden, dann wären die Straßen hier voller Antisemiten. Das ist Unsinn. Es gibt eine deutsche Verantwortung für den Holocaust. Und es müsste eine deutsche Verantwortung für Palästina geben. Denn der Holocaust hat den Aufbau des zionistischen Staates Israel stark befördert – ich sage nicht, dass er der Ursprung war, die liegt ein halbes Jahrhundert weiter zurück. Zionismus und Staatsgründung haben das Leid der Palästinenser verursacht. Doch damit wollen die deutschen Kolonialfreunde nichts zu tun haben.
Baskultur.info: Wie macht sich das Thema Palästina im Baskenland außerhalb von Demos und Kundgebungen bemerkbar?
KA: Aus den baskischen Fußballstadien sind Palästina-Fahnen nicht mehr wegzudenken, obwohl der spanische Verband sie verboten hat. Aber die Polizei kann die Verbote hier nicht durchsetzen, und die großen Clubs haben kein Interesse an Polizeieinsätzen im Stadion, sie zahlen lieber ein Bußgeld. Woanders gibt es rassistische Parolen gegen schwarze Spieler, hier riskieren die Fans mit Palästina-Plakaten, dass sie rausgeschmissen werden. Und die Bilder gehen um die Welt, die palästinensische PDLP hat sich in einer Botschaft bei der baskischen Bevölkerung bedankt für die Solidarität.
Was noch? Die BDS-Gruppe mobilisiert natürlich nicht nur zu Demos und Kundgebungen, sie ruft auch zum Boykott des Staates Israel auf. BDS bedeutet Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen. Der Staat soll auf der wirtschaftlichen und kulturellen Ebene getroffen werden. Es gibt eine Liste von Unternehmen, teilweise staatlich, die boykottiert werden sollen. Dafür werden Listen publiziert mit den Namen der Unternehmen, da tauchen bekannte Namen auf wie Intel, Carrefour, Nestlé, Coca-Cola, Danone, Macdonalds, Motorola, HP, um nur mal die bekanntesten zu nennen. Datteln oder Sonnenblumenkerne kommen häufig aus Israel.
Auf Stadtteil-Ebene werden Info-Veranstaltungen organisiert, es wird für politische Bildung gesorgt. Die Föderation der NGOs im Baskenland hat eine Konferenz organisiert, zu der Referentinnen aus Palästina eingeladen wurden, dahinter stehen 83 Organisationen. Auf Balkonen und in Wohnungs-Fenstern sind Palästina-Fahnen zu sehen. Auf einem Büchermarkt wurde eine Verlosung organisiert, der Erlös geht nach Palästina. Viele kleine Initiativen. Kürzlich gab es bei uns im Barrio eine Veranstaltung mit einem Vertreter der PFLP …
Baskultur.info: … das klingt nach den 1970er Jahren …
KA: Mag sein, aber die Partei hat überlebt, der Eingeladene kam aus Madrid und sprach perfekt Spanisch.
Baskultur.info: Wie war die Botschaft?
KA: Es gab keine geschlossene Botschaft, eher eine punktuelle Analyse der aktuellen Situation und der Geschichte. Er lehnte es ab, sich von irgendwelchen Akteuren in Palästina, im Libanon oder im Iran zu distanzieren. Denn Palästina hat ein Widerstandsrecht, auch wenn das unterschiedlich interpretiert wird. Deutliche Worte verlor er zum Oslo-Abkommen, eine Zwei-Staaten-Lösung kommt nicht in Frage. Das ist auch die Position der BDS-Bewegung hier. Er machte deutlich, dass es sich nicht um einen religiösen Konflikt handelt, sondern um imperialistische Interessen. Und er verlor kein schlechtes Wort über Juden generell, dafür aber über den zionistischen Kolonial-Staat Israel.
Baskultur.info: Wo liegen die Unterschiede zwischen Deutschland und dem Baskenland, was Palästina angeht?
KA: Ich beginne mit einer Gemeinsamkeit: die jüdische Bevölkerung in Deutschland wurde vor 90 Jahren von denselben Faschisten angegriffen wie die republikanischen Basken. In Deutschland gab es den Holocaust, hier kam es zu massiven ethnischen und politischen Säuberungen durch die Franquisten. Wenn wir einmal von Kurdistan und Kuba absehen, gibt es in Deutschland keine relevante internationale Soli-Bewegung mehr. Die Palästina-Solidarität ist nicht nur im Baskenland stark, auch in anderen Teilen des Staates. Bisher ist niemand auf die Idee gekommen, Demonstrationen zu verbieten – warum auch? In Madrid gehen Regierungsmitglieder mit auf die Straße. Antisemitismus ist hier praktisch kein Thema, außer wenn wir nach Frankreich schauen, wo tatsächlich Synagogen angegriffen werden und wo alles verboten wird.
Unterschiede gibt es viele. Kannst du dir vorstellen, dass in Deutschland ein Lehrer vor einer Palästina-Demo die Medien bedient? Ich würde mal sagen, zwei Tage später wäre er entlassen. Dasselbe bei Leuten vom Fernsehen, hier gibt es keine unsinnigen Neutralitätsgebote. Wenn Faschisten auf die Straße gehen, ist von Faschisten die Rede. Wenn in Gaza ein Völkermord praktiziert wird, dann wird das auch Völkermord genannt. Klar, im Fernsehen ist von zivilen Opfern auf beiden Seiten die Rede, was in BDS-Kreisen kritisiert wird. Siedler, die direkt neben der Trennmauer in einem Kibbuz leben, sind nicht irgendwelche Zivilisten, sie sind in die Apartheid-Strategie der Regierung integriert. Diese Leute müssten sich darüber bewusst sein, dass sie direkt neben dem “größten Konzentrationslager unter freiem Himmel“ leben. Das heißt, sie sind ein direkter Teil des Konflikts.
Nochmal zurück zum Fußball, ich habe gelesen das bei dem Bundesliga-Club Mainz ein marokkanischer Spieler entlassen wurde, weil er sich solidarisch gezeigt hat mit Palästina – Berufsverbote haben in deutschen Landen eine große Tradition. Als neulich der spanische Club Villareal im Europa-Pokal gegen einen israelischen antrat, weigerten sich zwei Spieler, ein Marokkaner und ein Algerier, an der Schweigeminute vor Anpfiff teilzunehmen. Erst sollte es um die israelischen Opfer gehen, Villareal teilte der UEFA jedoch mit, dass seine Teilnahme an der Schweigeminute allen unschuldigen Opfern des Konflikts gelte. Für die Spieler hatte ihre Verweigerung keine Konsequenz. Es gibt viele Unterschiede.
Baskultur.info: Ist Antisemitismus bei euch ein Problem?
KA: Das zu erklären erfordert einen historischen Rückgriff. Im Jahr 1492, als die letzten Mauren von der Halbinsel vertrieben wurden, Stichwort Granada, wurden alle Juden gleich mit ausgewiesen, falls sie nicht den Glauben wechselten. Sieben Jahre später dann auch die Sefarden, die im Verdacht standen, den Glauben nicht wirklich gewechselt zu haben. Seither gibt es keine relevante jüdische Bevölkerung mehr. Ich nehme an, in Madrid gibt es irgendwo eine Synagoge, aber ich weiß es nicht. Somit gibt es auch keine Übergriffe wie in Deutschland oder Frankreich.
Das ist der historische Teil der Antwort. Für eine weitergehende Antwort müsste ich zurückfragen: von welchem Antisemitismus sprichst du? Wenn es Antisemitismus ist, Israel für seine Siedlungspolitik zu kritisieren, für den Genozid in Gaza, für die Nicht-Erfüllung der UN-Resolutionen – dann gibt es das hier allerdings. Du verstehst sicher den Zynismus in meiner Antwort. In Deutschland wird die kleinste Kritik an Israel und dem Siedler-Zionismus als Antisemitismus gewertet, auch wenn es Juden selbst sind, die das sagen – das ist völliger Unsinn! Weil keine Unterschiede gemacht werden. Nach deutschen Maßstäben sind Holocaust-Leugner ebenso Antisemiten wie der UNO-Generalsekretär Guterres, weil er sagte, dass das Problem in Palästina nicht mit dem Angriff von Hamas am 7. Oktober begonnen habe. Wie Recht er doch hatte! Weil alles in einen Topf geworfen wird, hat der Begriff Antisemitismus seinen Aussagewert verloren. Holocaust-Leugner sind Faschisten. Wir stellen uns gegen Faschisten. Aber mit dem “Antisemiten“ Guterres sind wir in bester Gesellschaft. Nach der israelischen Definition wäre ein Großteil der baskischen Bevölkerung Antisemiten, auch ohne böse Worte gegenüber Juden und Attacken gegen Synagogen.
Baskultur.info: Also ist Antisemitismus ist im Baskenland kein Thema?
KA: Nur mit Blick über die Grenzen. Wenn Menschenrechte verletzt werden, ist es egal, ob dies in Kolumbien oder Saudi-Arabien geschieht, in Israel oder in der Türkei – solche Verbrechen müssen gebrandmarkt werden. Doch in der Politik sind solche Verurteilungen in der Regel an politisches Kalkül gebunden. Welche europäische Regierung verurteilt den alltäglichen Rassismus in den USA? Keine. Obwohl alle wissen, was läuft. Dass westliche Politiker zuschauen, wenn die israelische Armee Krankenhäuser zusammenbombt und dabei vom Recht auf Selbstverteidigung Israels schwafeln, ist ein Skandal erster Klasse. Da werden Menschenrechte mit Füßen getreten, alles ist egal, alles ist möglich. Das ist Faschismus. Wir sollten uns trauen, das auch so zu benennen. Auch wenn wir dafür beschimpft werden.
Baskultur.info: In Deutschland wird das sicher anders gesehen …
KA: Traurig ist, dass sich Teile der Linken diesen ungleichen Beurteilungen angeschlossen haben. Kürzlich hatte ich eine Diskussion mit einem deutschen Bekannten, der sich “sehr solidarisch“ zeigte mit der kurdischen Befreiungs-Bewegung. Aber für die Palästinenser hat er keinen Cent übrig. Was sind das für Kriterien? Die Kurden werden unterdrückt, deshalb sind wir solidarisch. Sie wehren sich mit verschiedenen Mitteln, auch da sind wir solidarisch. Was soll bitte schön bei den Palästinensern anders sein? Der einzige Unterschied, den ich sehe, dass in der Vergangenheit ein Holocaust steht, der angeblich alles verändert. Die Palästinenser haben keine Verantwortung für den Holocaust, aber sie bezahlen die Rechnung, weil ihnen alle Rechte entzogen werden, weil es sich ja um den Opfer-Staat Israel handelt. Die Palästinenser haben die Nakba erlitten, sie wurden aus ihren Dörfern und ihrem Land vertrieben. Bei dieser ungleichen Behandlung ziehen wir im Baskenland nicht mit. Die Palästinenser haben dieselben Rechte wie die Kurden oder die Mapuche, und wie viele andere unterdrückte Völker. Wenn wir die Menschenrechte ungleich verteilen, dann verlieren auch sie ihren Wert. Das heißt gleichzeitig, dass wir den Imperialisten auf den Leim gegangen sind, indem wir ihre willkürlichen und einseitigen Kriterien kopieren. Nicht im Baskenland.
Ach ja, noch was zum Thema Antisemitismus, vergangene Woche sahen wir im Fernsehen Bilder einer Demonstration gegen den “zunehmenden Antisemitismus“. Da war Marine Le Pen zu sehen, die Chefin der faschistischen Partei Front National, die sich seit 2018 Rassemblement Nationale nennt. Da kann einem die Luft wegbleiben! Vielleicht erinnert sich noch jemand daran, dass diese Partei vom alten Le Pen gegründet worden war, einem Holocaust-Leugner und Massenmörder aus dem Algerienkrieg. Also Vorsicht, mit wem du “für eine gute Sache“ zur Demo gehst. Wie gesagt, bei Antisemitismus sind die Kriterien schon lange verloren gegangen, das ist nur noch eine Hülse, die alle auslegen, wie es ihnen gerade passt.
Baskultur.info: In einem Artikel in der Jungen Welt ist zu lesen, dass die Demonstrationen von antiimperialistischen Parolen geprägt sind.
KA: Das gilt nicht für alle. Der Aufruf von Gernika-Palästina ließ an Klarheit zu wünschen übrig, er zielt eher in eine humanistische Richtung. Dasselbe gilt für die institutionelle baskische Linke, also Euskal Herria Bildu. Wenig Klarheit, zudem haben die in ihren Reihen einen Politiker, Jon Iñarritu, der bekanntermaßen Israel verteidigt. Demgegenüber vertreten die BDS-Gruppen klare Positionen, sie sehen nicht nur Israel, sondern auch die Dolchstoß-Funktion, die dieser Kolonial-Staat gegenüber den arabischen Ländern darstellt, im Interesse des Westens und der NATO.
Baskultur.info: Wie beurteilst du den Angriff von Hamas am 7. Oktober?
KA: Angesichts von 100 Jahren Kolonialkrieg gegen die Palästinenser muss der 7. Oktober als Widerstandsaktion gesehen werden. Ich finde die Frage nicht besonders hilfreich. Wer sich zum aktuellen Krieg äußern will, so scheint es, muss zuerst Hamas verurteilen, um anschließend auch nur minimal ernst genommen zu werden. Und um danach womöglich als Antisemit abgehalftert zu werden. In den vergangenen Wochen haben wir das hundertfach erlebt, viele Linke trauen sich nur noch unter diesen Vorzeichen, sich zu äußern. Ich lehne solche Bevormundung ab, sie führen zu nichts außer der Bestätigung des Diskurses der israelischen Seite. Es wird scheinheilig so getan, als wäre Hamas das Problem. Vorgestern war Arafat das Problem, gestern war es die PFLP und heute ist es Hamas. Und morgen? Die Ursachen werden immer außen gesucht und nicht in der realen Geschichte des zionistischen Kolonialismus, in der Vertreibung der Palästinenser vor 75 oder mehr Jahren. Über Hamas zu reden, lenkt vom Thema der Vertreibung und des Leidens der palästinensischen Bevölkerung ab. Insbesondere deshalb, weil Netanjahu selbst vor Jahren gesagt hat, dass die Existenz von Hamas seinen kolonialen Plänen entgegenkommt.
Baskultur.info: … eine gewagte These!
KA: Das ist keine These, es ist journalistische Recherche. Im Jahr 2019 sagte Netanjahu vor der Knesset seiner Partei, ich zitiere: "Wer die Gründung eines palästinensischen Staates verhindern will, muss das Wachstum der Hamas unterstützen und Geld an die Hamas überweisen. Das ist Teil unserer Strategie: die Palästinenser in Gaza von den Palästinensern im Westjordanland zu isolieren". (El Salto Diario)
Baskultur.info: Wo können wir das nachlesen?
KA: Beim linken Zeitungsprojekt “El Salto Diario“ – “Der tägliche Sprung“. Vielleicht erinnert sich noch jemand, dass die Taliban nicht wären, was sie heute sind, ohne die kräftige Hilfe der USA! Das heißt, Israel hat kein Problem mit Hamas, sondern mit dem gesamten palästinensischen Volk und mit jeder Stimme, die die illegale Praxis dieses Staates kritisiert. Die Mainstream-Medien sind gleichgeschaltet, aber es gibt unabhängige Medien, auf die wir zurückgreifen können, wenn wir uns die Mühe machen. El Salto Diario funktioniert auf spanischer Ebene und hat eine baskische Lokalredaktion.
Baskultur.info: Trotzdem zurück zum 7. Oktober, der Angriff hat auf israelischer Seite 1.400 Tote gefordert. Das ist keine Zahl, um einfach so zur Tagesordnung überzugehen.
KA: Richtig, das sagt Israel. Für manche wird es sich anhören wie ein Sakrileg, aber für mich gibt es da Klärungsbedarf, was die Vorgänge an jenem Tag betrifft. Das israelische Regime spricht von 1.400 Toten durch Hamas. Der Angriff steht außer Frage, aber die Verantwortung für die Toten … wer sich die Mühe macht, im Internet zu suchen, wird in spanischer und englischer Sprache Berichte finden, die feststellen, dass ein Teil der Toten in den Siedlungen auf das Konto der israelischen Armee selbst geht. Beim Gegenschlag gegen Hamas wurde auf alles geschossen, was sich bewegte. Dafür gibt es in der israelischen Militärsprache den Begriff “Kommando Hannibal“: wenn zwischen Freund und Feind nicht unterschieden werden kann, werden Opfer unter den eigenen Leuten in Kauf genommen. Bei Recherchen haben wir wenigstens fünf Quellen gefunden, die sich teilweise auf Information aus israelischen Zeitungen und auf Zeugenaussagen beziehen (sie sind am Ende des Artikels einzusehen). Keine Fake-News. Heute habe ich zum ersten Mal in einer bürgerlichen Zeitung gelesen, dass die Toten von diesem Musikfestival neben der Mauer auf das Konto der Armee gehen. Bei El Correo Español, mit Verweis auf die israelische Zeitung Haaretz.
Im Übrigen halte ich es mit dem Kollegen von der PFLP: es ist nicht der Moment, den palästinensischen Widerstand in Gute und Schlechte zu spalten, wie dies viele Teile der Linken praktizieren. Es geht um die Beendigung des gegenwärtigen Genozids und um eine politische Lösung für den Konflikt.
Baskultur.info: Die wie aussehen kann?
KA: Ein neutraler palästinensischer Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer in der alten Dimension von Palästina. Darin sind sich hier viele einig.
Baskultur.info: Deine Feststellungen entschieden und programmatisch. Hast du keine Zweifel in deiner Analyse?
KA: Die Analyse ist sicher unvollständig. Doch was ich höre und sehe, vertreibt die Zweifel. Wer zu lange zweifelt, reagiert nicht mehr. Wir müssen uns vor Augen halten, was da gerade geschieht. Dass Krankenhäuser bombardiert und Hunderte von Personen auf einen Schlag ausradiert werden. Das ist Völkermord mit Live-Übertragung, absolut zynisch, nackter Faschismus. Sollen wir da zweifeln oder die Augen verschließen? Dass Israel auch vor Schulen und Krankenhäusern nicht Halt macht, das heißt, es gibt keine Neutralität und keine humanitären Gesichtspunkte mehr. Dass die Bundesregierung die Tötung von UN-Mitarbeitern und die Zerstörung von Schulen und Wohngebäuden als vom Völkerrecht gedeckt betrachtet. Nachzulesen bei NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz (NDS). Mit einerseits und andererseits kommst du da nicht mehr weiter.
All das lässt aus meiner Sicht nur einen Schluss zu: es ist nicht die Zeit für Zweifel und Relativierungen. Wir können nur versuchen, das Schlimmste zu verhindern, in Solidarität mit dem palästinensischen Volk. Wegschauen wie in der Nazizeit kommt für uns nicht in Frage. Ich bin hier nicht der Scharfmacher, wir stehen vor einem Völkermord. Vor einem über die Weltöffentlichkeit angekündigten Genozid. Die Nazis haben ihre Vernichtungs-Maschinerie versteckt so gut sie konnten, Israel kündigt den Völkermord bei Pressekonferenzen an. Dafür gibt es keine Worte mehr. Die UNO ist zum Bombenziel geworden, unabhängige humanitäre Hilfe ist nicht erwünscht, sie wird abgeschossen. Weil sich in jeder Schule ein Hamas-Kämpfer versteckt haben könnte. “Wer nicht zu 100% auf meiner Seite steht, ist mein Feind“, das ist deren Losung. Das gilt auch für Journalisten, ihre Berichte sind zu gefährlich, die Bilder sind zu schrecklich. Deshalb werden auch sie zu Dutzenden umgebracht. In diesem Moment, angesichts einer zweiten Nakba-Vertreibung kann niemand sagen: “Ich habe davon nichts gewusst“. Dieser Genozid wird in der Zukunft Folgen haben, so oder so …
Baskultur.info: Wir danken für deine offenen und provokativen Antworten.
KA: Keine Ursache – ez da horregatik! Noch ein Nachtrag, folgendes habe ich neulich in der baskischen Presse gelesen: “Es ist eine globale Krise der Menschlichkeit. Alle internationalen Institutionen, vom Internationalen Strafgerichtshof bis zum UN-Sicherheitsrat, haben sich als unfähig erwiesen, Israels wahllose Angriffe auf den Gazastreifen zu verurteilen, obwohl es klare Beweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord gibt.“ Dem ist nicht viel mehr hinzuzufügen.
INTERNATIONALE PRESSEBERICHTE ZUM 7. OKTOBER 2023:
“EJÉRCITO ISRAELÍ MATÓ A COLONOS PROPIOS DURANTE EL ATAQUE INICIAL DE HAMÁS”
https://misionverdad.com/ejercito-israeli-mato-colonos-propios-durante-el-ataque-inicial-de-hamas
“ISRAELI ARMY BEHIND MANY SETTLER DEATHS DURING INITIAL HAMAS ATTACK”
https://new.thecradle.co/articles/israeli-army-behind-many-settler-deaths-during-initial-hamas-attack-report
“ISRAEL PROBABLEMENTE MATÓ A SUS PROPIOS COLONOS EL 7 DE OCTUBRE”
https://haizeagorriak.wordpress.com/2023/11/02/israel-probablemente-mato-a-sus-propios-colonos-el-7-de-octubre/
“OCTOBER 7 TESTIMONIES REVEAL ISRAEL’S MILITARY ‘SHELLING’ ISRAELI CITIZENS WITH TANKS, MISSILES” – M.BLUMENTHAL,·OCTOBER 27, 2023
https://thegrayzone.com/2023/10/27/israels-military-shelled-burning-tanks-helicopters/
“LA VERDAD SOBRE EL ATAQUE DE HAMAS DEL 7 DE OCTUBRE”
https://canarias-semanal.org/art/35235/se-derrumba-la-version-israeli-sobre-el-ataque-del-7-de-octubre
ABBILDUNGEN
(*) Palästina-Solidarität in Bilbo (FAT)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-11-20)