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Allein die Nachbarschaft hilft

Flüchtlinge aus dem Süden sind seit 3 Jahren im Baskenland ein Thema. In Bilbao existiert eine breite Volksbewegung, die die Aufnahme von Flüchtlingen fordert. Unterstützt wird sie von den baskischen Behörden, der Regierung, den Provinzen und den Rathäusern. Umso überraschender, dass nun 50 kürzlich angekommene Migranten auf der Straße schlafen müssen. Die behördlichen Strukturen haben total versagt, der politische Wille ist plötzlich unsichtbar. Doch die Nachbar*innen reagieren und organisieren.

Fünfzig afrikanische Flüchtlinge leben in Bilbao derzeit unter freiem Himmel, weil die Stadtverwaltung nicht in der Lage ist, ihnen eine Übergangsunterkunft zur Verfügung zu stellen. Versorgt werden sie von Freiwilligen aus der Nachbarschaft.

Seit zwölf Tagen schlafen Dutzende von Migranten unter dem Dach einer offenen Mehrzweck-Sporthalle des bilbainischen Stadtteils Atxuri. Betreut und versorgt werden sie von Nachbar*innen, die in der Nachbarschafts-Inititative Atxurigorri organisiert sind. Nicht zufällig ist die baskische Übersetzung dieses Namens „Rotes Atxuri“. Um die Last der Verantwortung auf weitere Schultern zu verteilen, werden die Migranten in der kommenden Woche nach Bilbo Zaharra umziehen, in eine Art Kulturzentrum, das früher einmal besetzt war und den Bewohner*innen mittlerweile vom Rathaus überlassen wurde.

Wie kamen die Flüchtlinge auf die Halbinsel?

atxuri02Kleine Schiffe – sogenannte pateras – sind die üblichen prekären Transportmittel, um die gefährliche Überfahrt zu schaffen. Vor Wochen kamen die Flüchtenden im Süden der iberischen Halbinsel an, dort, wo die Meerenge zwischen Marokko und Europa die meisten Chancen auf ein heiles Übersetzen verspricht. Ihre Ursprungsländer liegen südlich der Sahara, das heißt, sie haben einen langen Weg hinter sich bis Bilbao: von Senegal, Kamerun, Guinea Conakry und der Elfenbeinküste. Teilweise zehn Monate haben sie gebraucht, um die Wüste zu durchqueren und Länder wie Nigeria, Algerien und Marokko.

„Es ist nicht leicht, die Entscheidung zu treffen, sich auf die Reise zu machen. Der Weg ist problematisch“, sagt einer der Flüchtlinge von Atxuri. „Das schwierigste war die Reise übers Meer. 21 Stunden in einem kleinen Boot, das so dicht besetzt war, dass wir nicht einmal die Beine ausstrecken konnten. Lange Zeit wussten wir nicht, wohin es geht. Links der Atlantik und rechts das Mittelmeer. Nach so einer Reise bist du fertig, sowohl körperlich wie psychisch. Das Rote Kreuz hat uns auf See gerettet. Sie haben uns zu essen gegeben und auch Kleider. Über die Behandlung durch die Polizei können wir uns nicht beschweren“. Erzählen die in Bilbao Angekommenen.

Nächste Station Bilbao

Nachdem sie hispanisches Festland betraten, wurden die Flüchtlinge –ausschließlich Männer – vom Roten Kreuz empfangen und von der nationalen Polizei kontrolliert. Alle erhielten ein Papier, das ihnen ein Aufenthaltsrecht von 45 Tagen bescheinigt. Danach wird entweder über ihre Zurückweisung entschieden, oder sie stellen einen langwierigen Asyl-Antrag. Erstaunlicherweise können sie sich fürs erste frei bewegen – Limitierung ist nur das fehlende Geld.

Derzeit kommen viele Migrant*innen in Andalusien an. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen ist Sommer, die Witterung ist somit relativ gut für das gefährliche Unternehmen Überfahrt. Zum anderen wird vermutet, dass es sich in Nordafrika herumgesprochen hat, dass die neue xenophobe Regierung in Italien die Grenzen geschlossen hat und nicht einmal mehr Notfälle aufgenommen werden. Und dass im spanischen Staat, nicht zuletzt wegen des Regierungswechsel von der rechten PP zur sozialdemokratischen PSOE, größere Chancen für eine Aufnahme bestehen. Tatsache ist, dass Behörden und Rotes Kreuz in Andalusien überfordert sind.

Aufnahme durch Freiwillige

atxuri03Deren Strategie ist, den Migrant*innen nach der Erstaufnahme ein Busticket in die Hand zu drücken und sie nach Madrid, Barcelona oder sonstwohin zu schicken. Auch nach Bilbao, das die meisten vorher gar nicht kannten. „Die meisten Flüchtlinge wollen sowieso weiter nach Norden, nach Deutschland, Belgien, Frankreich oder nach Großbritannien, wo sie bereits Freunde oder Familie haben“, so das Argument der professionellen Helfer im Süden, um sich nicht weiter um die Flüchtlinge kümmern zu müssen.

Die nun in Bilbao Gelandeten hatten erst einmal Glück. Die Meerenge ist einfacher zu überqueren als die Strecke von Libyen nach Italien, wo derzeit viele einen grausamen Tod auf dem Meer sterben. Der Empfang in Bilbao war jedoch gemischt, zwsichen Herzlichkeit und institutioneller Ignoranz. Die Behörden geben sich alle Mühe, die sonst so touristenfreundliche Stadt nicht in den Ruf einer migrantenfreundlichen Stadt kommen zu lassen. „Das hätte gerade noch gefehlt!“ – niemand von der Behörde traut sich das auszusprechen, aber ihre Praxis spricht Bände.

Als erste Nachricht ging durch die Medien, dass am Busbahnhof San Mames unbekannte Flüchtlinge ankommen. Die Behörden blieben von Beginn an passiv. Dafür machten sich Flüchtlingsinitiativen auf den Weg zur Begrüßung. „Ongi Etorri Errefuxiatuak“ heißt die Gruppe, die in Bilbao seit drei Jahren die offizielle Aufnahme von Flüchtlingen fordert – auf Deutsch bedeutet der Name „Herzlich willkommen Flüchtlinge“. Die ersten wurden in einer besetzten ehemaligen Schule untergebracht und versorgt. Gleichzeitig wurde – vergeblich – versucht, die Behörden an ihre Verantwortung zu erinnern.

Unsinnige Regeln

atxuri04Formal zuständig für die Aufnahme von Flüchtenden ist auch in Bilbao das Rote Kreuz. Denen stehen Räume mit 88 Plätzen zur Verfügung. Doch dabei gibt es Regeln, die eisern eingehalten werden. Eine dieser Normen besagt, dass Flüchtlinge maximal 3 Tage dort bleiben können, danach ist Schicht – auch wenn die Unterkunft freie Kapazitäten hat. Das Rote Kreuz scheint es sogar nötig zu haben, mit Lügen zu operieren. „Sie sagten, ich sei schon mehr als drei Tage hier gewesen“, so einer der Betroffenen. „Ich hab es gar nicht nötig, einen Tag mehr herauszuschlagen in der Unterkunft. Ich war drei Tage da und weil das Heim fast leer war, habe ich gefragt, ob ich länger bleiben könnte. Das ist alles“.

Zweite Regel ist die Aufnahmezeit, abends von halb acht bis zehn. Wer es in dieser Zeit nicht schafft, hat Pech. Das führt zur surrealistischen Situation, dass die Flüchtlingsunterkunft fast leer ist und die Betroffenen unter dem Dach eines Sportplatzes schlafen müssen. Hier in den Stadtteil Atxuri werden all jene gebracht, die sonst nichts finden.

Dominikaner und das rote Atxuri

Kooperativ gezeigt hat sich die lokale Dominikanerkirche. Sie hat eine Garage zur Verfügung gestellt, dort werden nun Tisch, Stühle und Lebensmittel aus der kostenlosen Essensversorgung von Caritas gelagert. Jeden Abend wird dort gemeinsam und für alle gekocht. Früh morgens müssen die Afrikaner zur Frühstücksausgabe in die Notunterkunft. Wer einmal nicht kommt, fliegt raus – eine weitere autoritäre Regel. Den Tag verbingen die meisten dann im ehemaligen Bergbau-Stadtteil San Francisco, dort lebt ca. 75% der Migrant*innen von Bilbao, darunter viele afrikanische Familien. Informationsaustausch ist angesagt, Entscheidungen über die weitere Route werden diskutiert.

Die Verständigung ist nicht einfach zwischen Helfer*innen und Afrikanern. Letztere sprechen Französisch, was in Bilbao nicht gerade auf viel Gegenliebe stößt. Übersetzer*innen sind gefragt, um die Leute zu Behörden zu begleiten oder zur Krankenstation, wo sie in der Regel freundlich aufgenommen werden. Bei der Übersetzung helfen in Bilbao lebende Migrant*innen. Manche der Flüchtlinge wollen hier einen Asylantrag stellen. Bis der bearbeitet ist, vergehen Jahre, in denen die Antragsteller*innen keine Arbeitserlaubnis bekommen.

Auf der Durchreise?

atxuri05Bislang wurde davon ausgegangen, dass die meisten der Flüchtlinge auf der Durchreise sind und nicht in Bilbao bleiben wollen. Das scheint sich zu ändern, vielleicht wegen der angenehmen Aufnahme durch die Nachbarschaft. Mit Ausnahmen. Bei der Stadtpolizei gingen Beschwerden ein wegen der nächtlichen Anwesenheit von Unbekannten in der Sporthalle. Den vorbeikommenden Beamten war die Sache aber eher peinlich, nach kurzer Auskunft verzogen sie sich wieder. Mit auf den Weg bekamen sie die Botschaft, ihre Arbeitgeber sollten sich doch gefälligst um eine vernünftige Unterkunft kümmern, die keine Anzeigen aus der Nachbarschaft nach sich zieht.

Eigentlich ist hier alles illegal: der Schlafplatz, die Essensvorbereitung, die Betreuung – doch niemand in den zuständigen Behörden traut sich, diesen rechtsfreien Raum anzuklagen, für den sie letztlich selbst verantwortlich sind.

Solange keine offizielle Antwort kommt, kümmern sich die Freiwilligen aus den Stadtteilen um alles. Sie organisieren Duschen, waschen die Wäsche, organisieren Matratzen und Teppiche für die Übernachtung. Bisher gab es keine Zwischenfälle, doch das Schlafen unter offenem Dach ist nicht ohne Risiko: irgendwelche Idioten kamen auch in Bilbao schon mal auf dumme Gedanken, zuletzt wurden im Stadtteil Rekalde Obdachlose gewalttätig angegriffen, die sich in einer offenen Pelotahalle eingerichtet hatten.

Behördliche und mediale Ignoranz

„Wir haben nicht die Absicht, die Sozialen Dienste zu ersetzen“, heißt es von Seiten der Nachbarschafts-Initiative Atxurigorri. „Wir sorgen uns um die Notfälle, die das offiziele System unversorgt lässt. Dabei beklagen wir die Situation und das Nichteingreifen der Behörden. Wir brauchen Taten und keine heiße Luft“. Auch die Medien, die ansonsten immer und überall als Erste zur Stelle sind, glänzten in diesem Fall mit Abwesenheit, und kamen ihrer „Pflicht zur Berichterstattung“ nicht nach. Ein ganze Woche hat es gedauert, bis die ersten beim Abendessen und am Schlafplatz vorstellig wurden. Obwohl es in der Stadt die Spatzen vom Dach pfiffen, dass vier Dutzend Migranten ohne Dach geblieben sind. Embedded Media heißt das im Kriegsfall – gefällige Berichterstattung.

„Seit Tagen laden wir die politisch Verantwortlichen ein, uns zu besuchen und sich hier mal ein Bild zu machen. Aber sie lassen sich nicht blicken. Dabei wissen sie ganz genau, dass von den 88 Plätzen beim Roten Kreuz nur vier belegt sind“. Eine völlig perverse Situation. Die Behörden behaupten, sie würden am Busbahnhof auf die Ankommenden warten. „Das ist eine glatte Lüge. Wenn eine Person einen Asylantrag stellen will, kann sie nicht tage-, wochen- oder monatelang auf der Straße leben“, so ein Mitglied von Ongi Etorri Errefuxiatuak. Er hat auch eine Erklärung für dieses miese Verhalten, das ganz und gar nicht dem Versprechen entspricht, Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Doch dieses Versprechen erfolgte, als noch keine bedürftigen Menschen vor den Toren der Stadt standen. Im Moment des praktischen Handelns sieht alles anders aus. „Sie wollen nicht, dass Bilbao den Ruf einer aufnahmefreundlichen Stadt bekommt. Im Höchstfall soll es Durchgangsort sein. Deshalb sorgen sie dafür, dass sich die Betroffenen so schlecht wie möglich fühlen, um sie zur Weiterreise zu drängen. Das ist Xenophobie“.

Klare Worte. Wer in dieser Stadt lebt, weiß natürlich, dass Bilbao Millionen ausgibt, um sich als touristenfreundliche Stadt darzustellen. Touristen sind jene Reisenden, die bei ihrer Anwesenheit viel Geld hinterlassen und die Wirtschaft ankurbeln. Pilger*innen, Rucksacktouris und Flüchtlinge gehören nicht zur Zielgruppe. Ende Mai, zum Beispiel, fand in der Stadt ein riesiger europäischer Rugby-Event statt. Dabei wurden an einem Wochenende sage und schreibe 120.000 Personen untergebracht. Möglich ist alles, das wurde deutlich. Aber eine feste Bleibe für fünfzig Personen wird für die weltoffenen Heuchler zum unlösbaren Problem. Verlogener kann städtische Politik gar nicht sein. In der näheren Vergangenheit hat die Stadt Millionen ausgegeben, um werbewirksame Titel für den besten Bürgermeister oder die modernste Stadt der Welt zu ergattern. Für eine würdige und offene Flüchtlingsunterkunft reicht es nicht.

Organisierung in Vollversammlungen

atxuri06Die freiwilligen Helfer*innen halten Vollversammlungen ab, um die Versorgung zu organisieren und nächste Schritte zu planen. Niemand kann sagen, wie lange die Situation so bleibt wie sie sich derzeit darstellt. Tage, Wochen, niemand will dass es Monate werden. Denn die momentan aktiven Kräfte sind begrenzt. Jetzt ist Sommer, viele haben Urlaub und Zeit, es herrscht positive Fiestastimmung. Im Herbst sieht alles anders aus, angefangen beim Wetter.

Eigentlich ist für alle Beteiligten klar, dass die Behörden wie auch immer dazu gezwungen werden müssen, ihre Karten auf den Tisch zu legen und aktiv zu werden. Dazu ist politischer Druck notwendig. Doch genau davor schrecken offenbar viele zurück. Einfacher ist es, ein Abendessen zu organisieren, fünf Matratzen, eine Notunterkunft oder eine Übersetzerin – an der humanistischen Haltung der Beteiligten besteht nicht der geringste Zweifel. Die Entscheidung über politische Interventionen wurde auf die nächste Versammlung vertagt – ohne Termin. Offenbar ist vielen Helfer*innen nicht bewusst, dass sie mit dieser defensiv-humanistischen Haltung der Passivität der Behörden Vorschub leisten.

Über Bilbao leuchten seit einem Monat rot beleuchtete Buchstaben: „BILBAO – BILBO“ ist vom Artxanda-Berg aus werbewirksam vierzig Mal bis in die Tiefe der Innenstadt hinab zu sehen. Viele sprechen von einer unnötigen Investition, denn das vorherige Zementgeländer hätte sicher noch 20 Jahre gehalten. 400.000 Euro hat das 80 Meter lange Lichtband gekostet, an einigen Stellen blättert bereits die Farbe ab. Es ist menschenverachtend, öffentliche Mittel in unsinnigen Schnickschnack zu investieren und notleidende Menschen zum Campieren auf der Straße zu zwingen. Doch das ist die Logik des modernen Bilbao – in keinem Reiseprospekt wird jemals davon die Rede sein. Gestern waren es Wohnungssuchende, die verzweifelt gegen die Monopolisierung von Wohnungen durch Airbnb und den Tourismus angegangen sind – heute sind es afrikanische Flüchtlinge, die wieder hinausgeekelt werden sollen. Das ist das Bilbao, dem so gerne der Guggenheim-Effekt zugeschrieben wird. (Baskultur.info – 2018-07-23)

 

ABBILDUNGEN

(1) Seeflüchtlinge (publico)

(2) Atxuri-Plakat

(3) Für Flüchtlinge (FAT)

(4) In Atxuri-Bilbao (berria)

(5) Graffiti Otxandio (FAT)

(6) Grenzzaun Melilla (reuters)

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