Die vergessenen Pionierinnen Bizkaias
Schon immer in der dokumentierten Menschheits-Geschichte wurde die Leistung von Frauen wenig gewürdigt, wenn nicht vergessen oder unterschlagen. Auch in der Geschichte der Industrialisierung des Großraums Bilbao. Die Rede ist von Industrie-Kapitänen und Ingenieuren – nicht von den Erzwäscherinnen und Treidlerinnen, die sich für ein Kleingeld den Rücken krumm schufteten. Rundreise durch ein abgewickeltes Dorf, erste Generalstreiks, Kämpfe in der Keksfabrik und die große Mine in Bilbao. Aus Frauensicht.
“Die grobschlächtigen Frauen, die Bilbao aufbauten“ – unter diesem Titel beschreibt der Journalist Ander Izagirre die Geschichte der Bergarbeiterinnen zwischen Gallarta und Bilbao, deren Anteil in der überlieferten Geschichte bis heute weitgehend ignoriert wird. Er schlägt einen Bogen von 1830 bis ins 21. Jahrhundert, in dem Frauen damals wie heute für ihre Gleichstellung kämpfen müssen. Eine Reportage, bei der sich Anfang und Ende traurigerweise zusammenfinden.
Jene grobschlächtigen Frauen, die Bilbao aufbauten
In den Bergen von Triano wurde ein gigantischer Krater geöffnet, so breit und tief wie die Vergesslichkeit. Der unregelmäßige Schlund misst 700 auf 400 Meter, die tiefste Stelle liegt 180 Meter unterhalb der Begrenzungs-Zäune, an die wir uns mit Schwindelgefühlen lehnen. Wir sehen die ausgehauenen Wände in einer horizontalen Aufeinanderfolge von Stufen, die weiter unten schmäler werden, wie das Negativ eines altsumerischen Pyramidenturms, wie ein kollosaler Tempel eines ausgestorbenen Gottes. (1)
Es handelt sich um die Concha-Mine, ein Arbeitsplatz unter freiem Himmel (Concha ist spanisch und bedeutet Muschel). Im Jahr 1958 wurde begonnen, den Hang abzugraben, jahrelang wurde ausgehoben bis zum Null-Niveau, dem Meeresniveau. Sie gruben weiter bis minus 25 Meter: Concha wurde zum tiefsten Punkt im ganzen Baskenland unter den Wolken. Ganz unten leuchtet ein kleiner kobalt-blauer See, der von Filtrationen gespeist wird, die mittlerweile niemand mehr auspumpt.
Sie gruben weiter, diesmal unter der Erde, um ein Netz von Galerien zu öffnen, die bis 205 Meter unter den Meeresspiegel reichen. Ein Labyrinth, zu dem sechzig riesige Kammern gehören, groß genug, um jeweils einen achtstöckigen Wohnblock aufzunehmen. Die dichte Stille dieses Kraters nehmen vor allem jene wahr, die ein halbes Leben darin gearbeitet haben. Denn dreißig Jahre lang war dies der Nabel der Hölle, aus dem Explosionen kamen, Staubwolken, Motorengeräusche, Maschinengetöse, Schreie und Flüche.
Gallarta
“Hier war mein Dorf”, sagte der 89-jährige Carmelo Uriarte mit ernstem Blick, ein Bergbau-Rentner, mit kariertem Hemd, nach links ausgerichteter Baskenmütze und viel Eisen im Blut. – “Aber was bedeutet hier, Carmelo?” – “Genau wo wir stehen. Wo du jetzt dieses Loch siehst, das war zuvor der Ort Gallarta. Sie entdeckten damals, dass sich darunter ein großes Flöz von Eisenerz befand und rissen die Häuser ab. Das war kein Dörfchen, hier lebten 7.000 Menschen, Gallarta hatte den größten Fronton des Baskenlandes mit 16 Längsmarken, eine Kirche, Rathaus und verschiedene Schulen. Das neue Gallarta wurde zwei Kilometer weiter entfernt gebaut. Siehst du? Aber einige wenige von uns blieben noch einige Jahr lang im alten Dorf. Wir lebten am Rande der Mine, das war schrecklich, den ganzen Tag Explosionen und Staubwolken.“
Die Mine wurde 1961 in Betrieb genommen. In den 1970er Jahren wurden jährlich bis zu 2,2 Millionen Tonnen Erz herausgeholt, die zweitgrößte Menge im ganzen Kontinent. “Hier war das größte beste Eisenerz-Vorkommen in Europa“, sagt Uriarte, “an anderen Orten gab es Mineralien von 46 oder 48% Eisengehalt. Hier lag das Minimum bei 58%.“ Die besten Adern gingen schnell zu Ende, 1984 wurde die Ausbeutung unter freiem Himmel eingestellt und 1993 wurden die unterirdischen Galerien geschlossen.
“Als sie die Mine schlossen, tat es mir leid“, sagt Uriarte. “Die Arbeit war schwer, das ist wahr, aber es war unser Leben. Plötzlich blieb alles verlassen. Niemand schien sich darum zu scheren. Damals ging ich in die Galerien und holte zurückgelassenes Material heraus. Aus reiner Sehnsucht, aus Nostalgie. Erst waren es Schrauben und Zangen, dann bat ich Rentner-Kollegen um Hilfe. Wir holten Bohrer, Bohrmaschinen, Waggons, Maschinen aller Art. 1986 überließen sie uns das Gebäude des ehemaligen Schlachthofs, um das Zeug dort aufzubewahren. Hier begann das Museum und schau dir an, was daraus geworden ist.“ Er zeigt auf das (mittlerweile neu gebaute) Baskische Bergbau-Museum, ein modernes Gebäude am Rand des Kraters.
“Das Loch ist beachtlich, nicht wahr?” In Berichten heißt es, dass fünfhundert Männer drei Jahrzehnte lang Stunde um Stunde die Grube leerten. “Nur Männer, Carmelo?“ – “Und Frauen. Als Kind brachte ich meiner Mutter das Essen, die Frauen waren damit beschäftigt, das Erz zu waschen, alle standen am Förderband, auf dem die Mineralienblocks ankamen. Mit Wassergüssen wurden sie gewaschen, Lehm wurde entfernt und Gesteinsbrocken, die nichts taugten. Eine schreckliche Arbeit. Zwölf Stunden stehen, von Montag bis Samstag, zu Mittag ein schnelles Essen, in der Kälte, im Wind. Die Wassergüsse, der Lehm – was für eine Arbeit. Und dafür kriegten sie fast nichts.
Vorarbeiter, Tagelöhner, Hilfsarbeiter, Frau
“Wenn von Bergarbeitern die Rede ist, denken wir an Männer. Aber es gab immer auch Frauen in der Grube“, erzählt Haizea Uribelarra, die Direktorin des Museums. “Sie waren mit zwei Funktionen beschäftigt: das Erz zu waschen und Kartuschen für das Dynamit zu produzieren. Sie wurden sehr schlecht bezahlt. Wenn ein Mann bei einem Unfall verstümmelt wurde, musste er dieselbe Arbeit machen wie die Frauen. Aber den Männern wurde mehr bezahlt als den Frauen für dieselbe Arbeit.“
Es gibt wenige Erzählungen von Bergbau-Frauen. Im Museum werden Fotos gezeigt von Frauen in der Grube. Erhalten sind alte Arbeits-Bücher, in denen die Arbeiter eingeteilt sind in Vorarbeiter, Tagelöhner und Hilfsarbeiter. Daneben gab es die Arbeits-Kategorie “Frau“. Sie verdienten die Hälfte der Tagelöhner, viele tauchten in den Büchern gar nicht auf, weil sie schwarz bezahlt wurden, ohne Verträge, ohne Versicherung, ohne Rente.
Es gibt so wenig Frauen-Überlieferungen, weil die Arbeit der Minenfrauen schlecht angesehen war. In Gallarta, Ortuella oder La Arboleda gibt es noch ein paar Achtzigjährige, die keine Lust haben, sich daran zu erinnern. Denn es war die Arbeit der marginalisierten Frauen, der armen Witwen, der ledigen Mütter, die außerdem unter dem Vorurteil litten, wenig feminin zu sein, sondern roh und nicht empfehlenswert. Laut der alten Chroniken jener Epoche waren sie die “grobschlächtigen Frauen“.
Beitrag zum Familien-Einkommen
“Die Frauen im Bergbau waren nur ein Teil. Frauen waren für eine Menge Arbeiten zuständig. Ohne sie wäre es unmöglich gewesen, den Bergbau und die Industrialisierung durchzuführen“, sagt Uribelarrea. Für die Historikerin Pilar Pérez-Fuentes stimmen die Rechnungen nicht. Die Bergarbeiter in Bizkaia zermürbten sich zehn oder zwölf Stunden lang täglich, sie hackten und luden von Hand, bei Kälte und Regen; sie lebten zusammengepfercht in Barracken und blieben ohne Schutz, wenn sie krank oder alt wurden. Aus ihrem Blut und Schweiß entstand der Reichtum des Eisens, der Hochöfen, der Werften, der Banken, der Bourgeoisie von Bilbao. Aber mit dem elendigen Lohn, den die Bergarbeiter bekamen, wären die Familien verhungert.
“Die heimliche Beschäftigung der Frauen war unverzichtbar zur Aufrechterhaltung des Systems“, sagt Pérez-Fuentes, Autorin des Buches “Vivir y morir en las minas“ (Leben und Sterben in den Minen). Darin kalkuliert sie, dass die Arbeit der Frauen bis zu 50% der Familien-Einkommen ausmachten. Während die Männer Stein schlugen, hüteten Frauen die Kinder, versorgten die Kranken und Verletzten, bereiteten das Essen zu, brachten es zur Mine, nähten Kleider. Sie brachten in ihren Hütten junge Migranten unter, die aus Kastilien, Galicien, Andalusien oder Etxtremadura gekommen waren, um in den Bergwerken zu arbeiten. Dafür kassierten sie eine kleine Miete und sorgten sich auch um deren Essen und Kleidung. Frauen erfüllten wesentliche Funktionen und hielten das ganze System aufrecht. Dabei kosteten sie die Unternehmer keinen einzigen Centimo.
Englische Einflüsse
Die Concha-Mine war das letzte Bergwerk unter freiem Himmel. Hier fand ein Handwerk sein Ende, das in diesen Territorien seit der Urzeit praktiziert worden war. Der römische Historiker Plinius der Alte spricht von “einem großen Berg aus Eisen“ an der kantabrischen Küste. Die mittelalterlichen Schmieden machten aus dem Metall Anker, landwirtschaftliche Geräte, Nägel und Waffen, die nach halb Europa exportiert wurden. Das bizkainische Handwerk der Verhüttung wurde derart berühmt, dass in der englischen Sprache das Wort “bilbo” eine Zeit lang als Synonym für verschiedene Eisenformen benutzt wurde. Dafür steht ein Zitat bei Shakespeare in Hamlet: “I lay worse than the mutines in the bilboes” (spanisch: “me sentía peor que los amotinados con sus grilletes”, deutsch: “Ich fühlte mich schlechter als die Aufständischen in Ketten“).
Ende des 19. Jahrhunderts ließen sich Dutzende britische und einheimische Unternehmen am “Margen Izquierda“ genannten linken Flussufer des Nervion nieder, just unterhalb der Berge voller exzellentem Eisenerz, das sie auszubeuten gedachten. Ein großer Hafen lag gleich nebenan, billige Arbeitskräfte gab es genügend. Zum Einsatz kamen 12.000 Arbeiter(innen), die jährlich bis zu 6,5 Millionen Tonnen Eisen fördern sollten (10% der Welt-Produktion). Es war eine Epoche von rasender Entwicklung, ein Schmelztigel von Menschen, die Landschaft wurde zur Unkenntlichkeit verändert. Berge wurden abgetragen und zerstört, Flüsse umgeleitet, gigantische Wasserbecken angelegt, Verhüttungsöfen und Luftgondeln wurden installiert, um das Eisenerz in Kübeln hinab zu den Ladestationen des Hafens zu transportieren. Für die Transport-Loren wurden absteigende Geleise angelegt, gleichzeitig wurde das dichteste Zugnetz Europas angelegt.
Alirón! Fast reines Eisen
In der Hitze des Erzabbaus entstanden Eisenindustrien, Werften, Transport-Gesellschaften, Großbanken und der enorme Reichtum der Bizkaia-Bourgeoisie. Es war das Zeitalter der “Öfen von Barakaldo, die ganz Bilbao erleuchten“. Die Zeit des Alirón, der Schrei einer brodelnden Epoche. Wenn das zu Tage gebrachte Eisenerz besonders rein war, erhielten die Bergarbeiter einen Lohnzuschlag. Mit der Zeit wurde die Nachricht mit dem triumpfalen Ruf “Alirón! Alirón!“ begleitet. Es waren die Worte, die britische Ingenieure einst mit Kreide auf ein besonders wertvolles Fundstück geschrieben hatten: “All iron“ (Alles Eisen), woraus die des Englischen nicht mächtigen Arbeiter ein “Alirón!“ machten (das mittlerweile in die Vereinshymne des Fußballclubs Athletic Bilbao eingegangen ist). Reines Eisen.
Grundlage des neuen Reichtums war die schonungslose Ausbeutung der Arbeitskräfte. Bereits in frühen Industrialisierungs-Jahren (wie 1827) hatten Bergarbeiter in höheren Bergzonen Baracken gezimmert, ganz in der Nähe der Erz-Fundstellen, um nicht jeden Tag nach oben wandern zu müssen. Mit dem großen Eisen-Fieber wuchsen die Elendsviertel wie Pilze. Ganze Trauben von Baracken entstanden in den Bergen, im Jahr 1877 wurde das Dorf La Arboleda gegründet (baskisch: Zugaztieta). Der Name geht zurück auf die Tatsache, dass sich in unmittelbarer Nähe ein kleiner Wald befand, welcher der brutalen Abholzung entgangen war.
Das Elend der Familien
In jeder Baracke drängten sich Gruppen von Bergleuten nach dem System der “warmen Betten”, das heißt, drei oder vier Personen wechselten sich stundenweise an derselben Schlafstelle ab. Andere Baracken waren von mehreren Familien belegt, sogar gekocht wurde im Inneren. Die Bergleute verdienten schlecht, zudem erhielten sie einen Teil des Lohn als Gutscheine, die nur in den Kantinen und Läden des Unternehmens (economato) eingelöst werden konnten. Die Preise dort waren übermäßig hoch.
Die Arbeitstage waren schrecklich, zehneinhalb Stunden im Winter und dreizehn Stunden im Sommer. Lungenentzündungen gingen um, Arbeitsunfälle hinterließen eine kontinuierliche Spur von Verletzten und Toten. Die Historiker Escudero und Barciela von der Universität Alicante berechneten, dass im Jahr 1877, kurz bevor der Bergbau einen quantitativen Sprung machte, die Lebenserwartung im Gebiet Margen Izquierda (Linkes Ufer) bei 36,5 Jahren lag. Dieser Durchschnitt fiel rapide auf 19,9 Jahre im Jahr 1890 und pendelte sich erst um die Jahrhundert-Wende wieder bei 30 Jahren ein.
Pasionaria und Generalstreik
Es war kein Zufall, dass die tödliche Kurve der Lebenserwartung nach 1890 wieder nach oben ging. Denn in jenem Jahr kam es in den Bergen von Tiano zu einem der ersten Generalstreiks im Staat. Die Idee des Sozialismus hatte kräftige Wurzeln geschlagen in diesen elenden Gegenden. Bereits im Jahr 1888 war in La Arboleda das Casa del Pueblo (Volkshaus, Sitz der Sozialistischen Partei) gegründet worden. Dort verbrachte Dolores Ibarruri als Jugendliche ihre Freizeit und lernte. In Gallarta war sie als Tochter von Bergleuten geboren worden, wurde selbst die Ehefrau eines Bergmanns, zur Streikenden und kommunistischen Führerin. Ihr Pseudonym “Pasionaria“ benutzte sie zum ersten Mal für einen Artikel, der den Titel “Der bizkainische Bergarbeiter“ trug. (Im Bergbau-Museum ist ein ganzer Raum ihrem Leben und Wirken gewidmet.)
Der zeitgenössische General Loma war mit der Niederschlagung des Streiks von 1890 beauftragt. Er kannte die Situation in den Bergbau-Vierteln ziemlich genau: “In diesen Baracken sollten nicht einmal Schweine leben“. Am Ende wurde er zum Vermittler bei den Verhandlungen zum Streik-Ende. Den Arbeitern wurde erlaubt, einzukaufen und zu wohnen, wo sie wollten, der Arbeitstag wurde auf 10 Stunden durchschnittlich reduziert. In den folgenden vier Jahren führten die Bergleute weitere 23 Streiks durch und erreichten, Schritt für Schritt, Verbesserungen bei Lohn, Arbeitszeit, Arbeitsmitteln und Versicherungen.
Elend und Arbeitskampf
Streikaufrufe, Sirenen, die flammenden Reden der Pasionaria klangen noch in den Erinnerungen von Antonio Yunquera, einem weiteren Bergbau-Rentner aus Gallarta. Ein zierlicher Mann, unruhig, der mit seiner Arbeitshose und seiner Baskenmütze unterwegs war, um altes Werkzeug und verlassene Maschinen einzusammeln, um mit seinem Kollegen Uriarte die Sammlung im Museum zu vervollständigen. Yunquera starb 2018 mit 96 Jahren. Überliefert sind seine Worte:
“Ich erinnere mich an meinen Vater, wenn er müde, durchnässt und mit den Stiefeln voller Dreck nach Hause kam. Wenn angesagt war, Erz zu hacken und zu laden, dann spielte es keine Rolle, ob ein Regenguss dazwischen kam, es musste gehackt und geladen werden. Seit meiner Kindheit habe ich das gesehen. Die Kinder, deren Väter in der Mine arbeiteten, durften die Schule eine Stunde früher verlassen, um das Essen in die Mine zu bringen. Mit 13 oder 14 wollten wir ebenfalls arbeiten gehen, um so schnell wie möglich etwas Kleingeld zu verdienen. Denn zu Hause gab es viele Kinder und noch mehr Notwendigkeit. Daher die Streiks: wir konnten gar nicht anders. Der Brotpreis wurde um 5 Centimos erhöht und es gab Höllenstress. Die am wengisten hatten standen immer für die Forderungen ein. Es gab Streikbrecher, klar, die haben kräftig Prügel bezogen."
“Es war schon hart, denn bei den Streiks erschien die Guardia Civil und nahm einige mit in die Kaserne. Niemand wusste, was da drin passiert. Die Repression war eisern, aber die Mühe hat sich gelohnt. Denn dank jener Kämpfe haben wir all das erreicht, was wir heute haben: den Acht-Stunden-Tag, bessere Löhne, Urlaub ... und eine Rente. Früher mussten die Alten betteln gehen. Wer nicht arbeitete, verdiente nichts. Ich habe ein düsteres Bild in meiner Erinnerung: jene armen Alten, nach einem ganzen Leben in der Mine, humpelten die Straße hinunter, um in Las Arenas oder Portugalete betteln zu gehen."
Zugaztieta – La Arboleda
Vom Schlund der Concha-Mine und dem Bergbau-Museum führt die BI-2757-Landstraße sechs Kilometer lang durch eine surrealistische Landschaft von ausgefressenen Bergen, Halden, künstlichen Kratern, Schachteingängen und Industrie-Ruinen bis Zugaztieta, La Arboleda. Ein Bergbau-Dorf, das etwas von seiner Geschichte erhalten hat, alte Holzhäuser, ähnlich den Baracken vor hundert Jahren, in denen es eine Küche gab und ein Zimmer für alle.
Übrig sind kleine Blocks von Arbeiterhäusern, das Volkshaus (Casa del Pueblo) aus dem Jahr 1888 (Sitz der sozialistischen Gewerkschaft UGT). Die Kirche ist der Heiligen Magdalena gewidmet, der sündigen Frau, mit schlechtem Ruf, die zur Heiligen wurde, kein Zufall in einem Ort, in dem es auch viele Bergarbeiterinnen gab. Die Gassen ziehen sich den Berg hinauf. Während Gallarta verschwand, hat Zugaztieta mit Mühe widerstanden, zwischen Gruben unter freiem Himmel, die heutzutage überschwemmt sind und mit Wasser gefüllt und zu Naherholungs-Gebieten gemacht wurden. Ein Netz von Wanderwegen zieht sich durch diese Landschaft von gigantischen Einschnitten, zwischen roten Felsen und grünen Wiesen.
Das Bild der schlechten Frauen
Von Zugaztieta nach Larreineta (La Reineta) ist es ein Kilometer. Die Landstraße geht vorbei an Wandgemälden mit Szenen aus dem Alltag des Bergbaus. Auch Frauen sind zu sehen, wie sie mit beladenen Körben auf den Köpfen den Berg herunter kommen.
“Unglückliche Frauen, vom Pech verfolgte Arbeiterinnen, mit ihren unanständigen Liedern und ihren Zoten. In schmutzige Lumpen gekleidet, zutiefst erniedrigt, ohne Züchtigkeit, ohne Scham, unmoralische Mannweiber, von groteskem Aussehen, die lachen und reden und gestikulieren und fluchen. Sie gehen groben Arbeiten nach, die in ihnen die Blume des schönen Geschlechts getötet haben.“ Das Zitat ist ein Absatz der sozialistischen Wochenzeitung “Klassenkampf“ in Bilbao aus dem Jahr 1897. Dort war man mehr besorgt über den Verlust des weiblichen Ideals als über die Arbeitsbedingungen der Korb-Schlepperinnen. Der Absatz wurde zitiert von Olga Macías Muñoz, die über die Rolle der Frauen in der industriellen Entwicklung des Großraums Bilbao forscht.
Zum Fluss – und zum Treffen mit der Hochschullehrerin Macías – fahren wir mit der Funicular von Larreineta hinunter. Es handelt sich um eine auf Schienen fahrende Seilbahn, die aus einer waagerechten Transport-Plattform besteht. Sie wurde 1926 eingeweiht, um die geförderten Mineralien von den Bergen zu den Ladestationen am Fluss hinab zu befördern. Später wurde die Funicular für den Transport von Personen umgebaut und ist bis heute in Betrieb. Macías schrieb ihre Doktorarbeit über das engmaschige Netz von Eisenbahnen, das die Bergbau-, Industrie- und Hafen-Gebiete durchzog. Bei den Nachforschungen entdeckte sie die Geschichte der Frauen, die als menschliche Zugpferde arbeiteten: die Ladefrauen oder Treidlerinnen (bask: sirgerak, span: sirgueras).
Billiger als Ochsen
“Die Korb-Schlepperinnen trugen große Körbe auf dem Kopf, in denen sie alles Mögliche transportierten: Eisenerz, Kohle, Sand, Kabeljau und eine Menge Waren, die von den Schiffen in die Lagerhallen transportiert werden mussten. Sie arbeiteten von sechs Uhr früh bis sechs Uhr nachmittags, bei Regen und Sonne, mit vierzig oder fünfzig Kilogramm Last bei jedem Gang. Dafür bekamen sie weniger Lohn als Männer, die ähnliche Tätigkeiten ausführten“, erklärt Macías, die wir an der Sirgerak-Mole treffen, im bilbainischen Stadtteil Olabeaga. (Erst 2017 wurde dieser Name offiziell ins Straßen-Verzeichnis Bilbaos aufgenommen, als Versuch, die erdrückende Männer-Domäne bei den Straßennamen etwas zu korrigieren.)
Die Treidlerinnen (sirgerak, sigueras) waren für einen anderen Arbeitsprozess im Hafenbetrieb zuständig. Sie gingen am (rechten) Flußufer entlang, hatten dicke Taue um den Körper gebunden, mit denen sie Ladekähne flussaufwärts zogen, die tonnenweise mit Material aller Art beladen waren. Bis zu den Hafenanlagen, wo die Kähne von anderen Frauen entladen wurden. Hintergrund der Geschichte ist, dass viele der Kähne keinen eigenen Antrieb hatten, der Nervion-Fluss ist von Gezeiten abhängig, die Schiffe waren bei Ebbe nicht manövrierfähig.
“Und warum wurde diese Arbeit nicht von Ochsen-Gespannen erledigt?“ – “Die Frauen waren einfach billiger. Die Ochsen mussten gefüttert und in Ställen untergebracht werden, für die Unternehmer war es billiger, die Treidlerinnen für ein paar Centimos pro Strecke zu beschäftigen.“ Ein großer Teil der Güter, die während der großen Stadterweiterung in Bilbao im Alltag benötigt wurden, kamen über den Fluss und wurden von jenen Treidlerinnen in den städtischen Hafen geschleppt (der sich damals neben der Altstadt befand).
Armut und Verachtung
Die Armut dieser Frauen interessierte bei den Behörden niemanden, bis festgestellt wurde, dass sie ein negatives Bild für die Stadt abgaben. Macías publizierte einen Brief eines Engländers in einer Zeitung Bilbaos, in dem “der Ameisenhaufen von Frauen“ beschrieben wurde, die mitten in der Stadt Kohle von einem Schiff holten, alt, schlampig gekleidet, erschöpft von der Last, Mütter, die ihre Babys in Tüchern an den Kaimauern ablegten, eines neben dem anderen, während sie mit ihren zerzausten Haaren, ihren schmutzigen Gesichtern und ihren verschmierten Kleidern an den Schiffen auf und ab gingen. Auf der Straße sitzend aßen sie ein Stück trockenes Brot. Schliefen in irgend einem Bretterverschlag in den oberen Stadtteilen (den Arbeiter-Barrios außerhalb der Altstadt). Sie kokettierten mir den Vorarbeitern, um kleine Vorteile herauszuschlagen. Viele waren Witwen, ledige Mütter, Frauen, die einen Elendslohn akzeptieren mussten, weil sie keine andere Möglichkeit zum Überleben hatten. Viele davon waren zusätzlich zur Prostitution gezwungen.
“Wir waren als Huren bekannt”, erzählt Manuela Moreno, die zwar ein halbes Jahrhundert nach dem Verschwinden der letzten Treidlerinnen geboren wurde, die aber weiterhin mit diesem Negativ-Klischee konfrontiert war, wie alle Arbeiterinnen der Keksfabrik Artiach, und wie viele Arbeiterinnen in andern Bereichen.
Die Keksfabrik
Die alte Artiach-Fabrik steht im Stadtteil Ribera de Deustu (span: Deusto), auf dem Streifen des mittlerweile zur Insel gewordenen Zorrotzaurre. Genau gegenüber der Sirgerak-Mole in Olabeaga. Es handelt sich um ein großes Gebäude aus Ziegelstein mit großen Fenstern, überragt von einem funktionslosen Turm, ebenfalls aus Ziegel. Der Block wurde nach den August-Überschwemmungen von 1983 verlassen und beherbergt mittlerweile das modernistische Projekt “Espacio Open“, in dem künstlerische und soziale Projekte angesiedelt sind.
Manuela Moreno ist begeistert von den jungen Leuten, die Workshops, Ausstellungen und Flohmärkte organisieren an ihrem alten Arbeitsplatz. (Derzeit bekommt das Projekt fragwürdige Berühmtheit wegen der unverschämten Behandlung von Arbeitskräften.)
“Ich war in der Abteilung für Oblaten, an den Maschinen, wir haben besonders große Oblaten hergestellt.” Manuela ist eine Frau mit rundem Gesicht und einem Lächeln auf den Lippen, halbgrauem kurzem Haar und offenen Augen. Sie geht durch die Räume der alten Fabrik und erkennt den Saal wieder, in dem die Keks-Sortimente zusammengestellt wurden. Mit den Büros der Verwalter, dem großen Büro des Direktors, in das sie eines Tages eindrangen, um ihm den widerlichen Fraß auf den Tisch zu stellen, der in der Kantine serviert wurde.
Bei einer anderen Gelegenheit forderten sie die Herausgabe des Entlassungs-Schreibens einer Arbeiterin, um es zu zerreißen. Manuela erinnert sich an das große Schiebetor, durch das während des Streiks Ende 1974 die bewaffnete Polizei (Policía Armada) hereinkam, die Maschinenpistolen im Anschlag. Sie war damals gerade ein paar Monate in der Fabrik, heute erkennt sie den Flur wieder, durch den alle flüchteten, nachdem die Polizisten vor dem Schießen bis drei zählen wollten.
“Sie schossen nicht, weil wir uns pfeifend entgegenstellten. Wir organisierten weiterhin viel Lärm, eine Menge Streiks, Demonstrationen, Versammlungen ... Wir forderten Lohnerhöhungen, bessere Arbeitsbedingungen, weil sie uns schlecht behandelten. Weil wir fast nur Frauen waren ... am Ende warfen sie siebzehn Frauen und zwei Männer raus. “Warum wart ihr fast nur Frauen?“ – “Nun, das kam ihnen entgegen, sie bezahlten uns weniger als den Männern.“
“Und woher kam das Klischee mit den Huren?“ – “In dieser Fabrik arbeiteten in der Anfangszeit Frauen, die sich mit Prostitution durchschlugen. Für das Unternehmen waren es billige Arbeitskräfte, für jene Frauen war es ein Fortschritt, weil die Arbeit besser war, sie hatten ein sicheres Einkommen, sie hatten sogar einen Kinderhort in der Fabrik, wo sie ihre Kleinen abgeben konnten. Daher kommt das Vorurteil.“ – “Wie war die Reaktion in deinem Umfeld, als du in so jungen Jahren bei Artiach zu arbeiten begonnen hast?“ – “Was denkst du! Doch nicht zu Artiach, sagten sie, du weißt ja ... die Huren dort ... mir war das egal. Ich arbeitete hier mit erhobenem Haupt.“
Ein Frachtkahn schwimmt den Fluss hinab
Einen knappen Kilometer flussaufwärts liegt das neue Fußball-Stadion San Mamés. Gleich daneben, im Trockendock des Meeres-Museums, kann ein Frachtkahn (la gabarra) besichtigt werden, mit dem die Spieler von Athletic Bilbao den Fluss hinauf fuhren, um in den Jahren 1983 und 1984 ihre Titel in Liga und Pokal zu feiern. Inmitten von hunderttausenden Fans, die von den Ufern aus begeistert Beifall klatschten. “Alirón, alirón, Athletic campeón” wurde gerufen: “Alirón, alles Eisen, Athletic Meister”.
Hier kam die Geschichte der Minen, des Hafens und des aus England gekommenen Fußballs zusammen, gemeinsame Symbole einer Gesellschaft in Extase. (Die Gabarra wurde zum Zeichen für die seit 100 Jahren erfolgreichen Teams von Athletic, seither warten alle auf eine neue Titel-Gelegenheit, um die Gabarra wieder flott zu machen). Aber Identität ist dehnbar, die Erinnerung ist in Frage gestellt, die Symbole werden neu interpretiert.
Der Gabarra-Frachtkahn war noch einige Jahre in Betrieb, bis er in Santurtzi liegen gelassen wurde. 2013 wurde er ins Trockendock beim Itsas Museoa, dem Meeres-Museum gebracht (Museo Marítimo). 2016 kam es zu einer Polemik. Die Frauen von Athletic gewannen den Ligatitel, viele Fans und Persönlichkeiten erwarteten, dass die Fußballerinnen diesen Erfolg genauso feiern sollten: mit einer triumphalen Flußabfahrt. Doch der Club beschloss, die Gabarra im Dock liegen zu lassen und sie für die Frauen nicht zu aktivieren. Ausgerechnet die Gabarra! Dieses Instrument, mit dem die Frauen wie Ladetiere und Zugtiere gearbeitet hatten, als Laderinnen und Treidlerinnen, wurde zu einem schwimmenden Podium, um die meisterhaften Männer zu ehren, aber nur die Männer.
Frauen-Fußball
Als die Frauen zu Beginn des 21. Jahrhunderts gleich vier (spanische) Meisterschaften gewannen, fragte noch keine Seele nach der Gabarra. Damals fanden die Kickerinnen noch sehr wenig Aufmerksamkeit (obwohl sie in San Mamés mit 30.000 Zuschauer*innen alle Rekorde im Frauen-Fußball schlugen). Aber der fünfte Titel im Jahr 2016, neun Jahre später, fiel in eine Zeit, als der Frauen-Fußball bereits eine beachtliche Entwicklung erreicht hatte (und sich die reichen spanischen Clubs darum bemühten, mit viel Geld eigene Damen-Teams zusammenzukaufen). Auf dem Balkon des Rathauses, direkt am Fluß, feierten die Spielerinnen ihren Titel, zusammen mit zehntausenden von Fans, die nicht abließen, immer wieder einen ganz bestimmten Satz zu rufen: “Gabarra nahi dugu!“ (Wir wollen die Gabarra).
“Es war der intensivste Moment in meiner Karriere”, erzählt die damalige Torhüterin Ainhoa Tirapu. “Neun Jahre lang hatten wir nichts gewonnen, einige Spielzeiten auf dem zweiten Platz, was für Sportlerinnen besonders frustrierend ist. Plötzlich gewannen wir den Titel und wurden begeistert empfangen. Ganz Bilbao hat uns begleitet.“
Ainhoa Tirapu war eine der charismatischen Spielerinnen jenes Meisterinnen-Teams: 15 Spielzeiten, 358 Partien, Teilnahme bei einer Europa-Meisterschaft und einer Weltmeisterschaft, zwei Ligatitel und eine unerschütterliche Stimme im Kampf um die Professionalisierung im Frauen-Fußball. Die Hälfte der Spielerinnen der ersten Liga erhielt kein Gehalt, ein Drittel der Spielerinnen, die Gehalt erhielten kam nicht auf monatlich 500 Euro. Laut Information der Vereinigung der Spanischen Fußballerinnen (Asociación de Futbolistas Españoles). Ainhoa Tirapu war die Sprecherin der Kickerinnen, die siebzehn Monate lang mit den Unternehmern (den Clubs) vertrackte Verhandlungen führte.
Ainhoa Tirapu, diplomierte Torhüterin
Sogar zum Streik kam es, bis der erste Tarifvertrag in der Geschichte des Frauen-Fußballs unterschrieben wurde. Die Regelungen: ein jährliches Minimal-Gehalt von 16.000 Euro (das Minimum bei den Männer lag damals bei 150.000), Absprachen über Arbeitstage, Urlaub, Lohn-Fortzahlung bei Krankheit und Schwangerschaft. Während die Fußballerinnen um diese minimalen Rechte kämpften, wurden in den Stadien neue Publikums-Rekorde aufgestellt: 48.000 wollten in San Mamés das Spiel Athletic gegen Atletico Madrid sehen, 36.000 sahen in Anoeta (Donostia) Real Sociedad gegen Athletic, und zum Spitzenspiel Atletico Madrid gegen FC Barcelona kamen 60.000 ins neue Wanda-Stadion.
Die Spielerinnen unterschrieben den Tarifvertrag im Februar 2020, Ainhoa Tirapu beendete ihre Karriere im April mit 36 Jahren. “Der Moment ist gekommen, den jungen Spielerinnen Platz zu machen“, sagte sie. Während ihrer ersten Jahre im Tor machte Ainhoa ein Diplom in Chemie und schrieb eine Masterarbeit über die Vergiftung im Umfeld der verlassenen Minen. Jener Minen, die zum Import des Fußball geführt hatten (durch englische Arbeiter und Ingenieure).
Die Briten, die Ende des 19. Jahrhunderts kamen, um die Eisenerz-Funde auszubeuten, schrieben “all iron” auf die Felsblocks, brachten die ersten Lederbälle, organisierten die ersten Spiele auf der “Campa de los Ingleses“ (der Wiese der Engländer, wo heute das Guggenheim steht). Engländer waren es, die die ersten goals bejubelten, sie inspririerten eine Gruppe von einheimischen Sportsfreunden, den Club Athletic zu gründen (Athletic mit englischem “h“, nicht wie das spanische Atletico). Auf dem Weg von der ersten Dynamit-Sprengung bis zum letzten Torschrei, in diesen 150 Jahren von Erschöpfung, Missbrauch, Streiks und Siegen, gab es immerfort Frauen, die in der Dunkelheit kämpften. Ainhoa Tirapu kennt die unterirdischen Ursprünge ihrer eigenen Geschichte genau.
“Du musst nicht nach Gallarta gehen, auch mitten in Bilbao gibt es eine Mine.” – “Mitten in Bilbao?“ – “Ja, in Bilbo Zaharra, Bilbao La Vieja (dem alten Bilbao). Ganz in der Nähe von meiner Wohnung. Ich kann dir zeigen, wo das ist“.
Reise in die Tiefen Bilbaos
Niemand nimmt die graue Tür an der Marzana-Mole zur Kenntnis, zwischen der San Antón-Brücke und der Ribera-Brücke (gegenüber des Marktgebäudes). Die Tür gehört zum selben Gebäude wie das Mina-Restaurant (ein Michelin-Stern), es scheint eher der Eingang zu einem Lager zu sein. Aber es ist der Zugang zu einem der erstaunlichsten Orte in Bilbao: der Mine San Luis.
Vor wenigen Jahren sollte der dort beginnende Tunnel-Stollen für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, aber die Sicherheit konnte nicht garantiert werden. Deshalb werden Besuche nur ausnahmsweise genehmigt. Haizea Uribelarra, die Direktorin des Bergbau-Museums organisiert für uns den Schlüssel. Und den best-möglichen Begleiter: Emiliano Valdizán, 87 Jahre alt, der letzte Arbeiter in dieser Mine. Er schloss die Mine 1995 und knipste das Licht aus.
“Bis 1995 war unter der Erde von Bilbao eine Mine in Betrieb?“ – “Nun ja, genau genommen bis 1987. Die letzten acht Jahre war sie nicht mehr in Betrieb. Ich gehörte zur letzten Gruppe von Arbeitern, wir kümmerten uns um die Überwachung und Instandhaltung. Mit 24 Jahren kam ich aus Kantabrien. Ich begann in den Minen von Gallarta und mit 28 Jahren arbeitete ich bereits hier in der San Luis Mine, bis zu meiner Rente.
Der Bergarbeiter Emiliano
Emiliano ist von kleiner Gestalt, sein Gesicht ist gezeichnet von der Arbeit unter Tage. Seine blauen Augen leuchten. Im Halbdunkel geht er langsam, an einen Stock gestützt. Man merkt schnell, dass er sich auf heimischem Boden befindet. Er warnt uns vor den schlammigen Stellen und den Eisenträgern, die aus der Wand ragen. Zeigt auf verrostete Rohre und weiße Kalk-Stalaktiten und erklärt die Weggabelungen.
“Hier können wir circa hundert Meter weiter gehen, der andere Weg ist etwas länger. Jetzt ist er abgeschnitten wegen Einstürzen. Aber die großen Galerien im Untergund der Stadtteile Miribilla und San Francisco existieren weiterhin. Unter den Straßen wurde in der Mine gearbeitet, unter den Wohnhäusern. Die Bergarbeiter förderten die blonde Masse (Limonit, Brauneisen) und luden es auf die vorbeikommenden Waggons, die dann zum Fluss geschoben wurden, bis zur Ladestation direkt vor Stollen-Ende. Anschließend ging das Erz in die Gießereien. Emiliano Valdizán erwähnt eine Explosion, bei der ein Arbeitskollege getötet wurde, aber Einzelheiten will er nicht erzählen.
“Emiliano, was war die schwierigste Arbeit im Bergwerk?” – “Es war die Arbeit der Frauen, die am Waschplatz die wertvollen Steine aussuchen mussten. Sie standen sechs oder sieben in einer Reihe, neben einem Förderband, auf dem das schmutzige Erz ankam. Sie standen da den ganzen Tag und wuschen mit Wasser den Lehm ab. Mitten in der Feuchtigkeit und Kälte im Winter, stellt euch vor ... Die Frauen waren damals genauso diskriminiert wie heute, verstehst du? Mit einem Tagelohn, der niedriger war als der der Männer. Deshalb wurden sie für diese Arbeit ausgewählt. Die Frauen haben schon immer weniger verdient."
Der Wandel in Miribilla
Bis vor zwanzig Jahren war der Miribilla-Hügel der Ort einer enormen ehemaligen Eisen-Ausbeutung. Die Berge wurden abgefressen, überall standen Kamine, darunter waren sie von Galerien durchlöchert. Dann wurde das Minengebiet innerhalb weniger Jahre urbanisiert, es wurden dreitausend Wohnungen darüber gebaut, große Parks, breite Spazierwege. Es entstand ein moderner, angenehmer und gut ausgestatteter Stadtteil.
“Immer weniger Menschen (auch in den jeweiligen Orten und Stadtteilen) kennen die Geschichte, die sich einst unter ihren Füßen abgespielt hat“, resümiert Haizea Uribelarrea. “Aber dieses postmoderne Bilbao wäre nicht das, was es heute ist, wenn es nicht die Bergwerke, die Industrie, die Tausenden von Arbeitsmigrant*innen gegeben hätte, die kamen, um eine neue Existenz zu suchen. Einschließlich jener Frauen, die unter derart harten Bedingungen arbeiten mussten. Auch sie waren es, die die Stadt aufgebaut haben.“
BASKULTUR-ERGÄNZUNGEN
Bei Baskultur.info sind sechs weitere Artikel zur Geschichte der Industrialisierung und der Arbeiter-Bewegung im Großraum Bilbao zu finden:
Arbeiter-Bewegung Baskenland (I) (LINK-1)
Arbeiter-Bewegung Baskenland (II) (LINK-2)
Bergbau im Baskenland (LINK-3)
Bilbao, linkes Ufer (LINK-4)
Fabrik-Arbeiterinnen um 1900 (LINK-5)
Periko Solabarria, Arbeiterpriester (LINK-6)
Fotografische Einblicke in das im Artikel beschriebene Bergbau-Museum Gallarta, Bizkaia liefert die folgende Bildersammlung (LINK-7).
Über den Skulpturenpark im ehemaligen Bergbau-Gebiet um Zugaztieta – La Arboldea publizierte Baskultur.info den Artikel “Skulpturenpark Arboleda“ (LINK-8). Dazu bietet Baskultur über das Foto-Archiv-Txeng (FAT) Fotoserien zu den Wanderwegen im Park (LINK-9) (LINK-10). Im Jahr 2018 kam es zu der besonderen Situation, dass der aufgestaute See in der Arboleda-Mondlandschaft auslief, weil die unterirdischen Abdichtungen ihre Funktion nicht mehr erfüllten. Bis auf wenige Tümpel lief der See leer, es erschienen alte Gebäude und Ruinen, illegal entsorgte Autowracks und alter Müll (LINK-11). Mittlerweile wurde das Problem behoben und der See ist wieder auf Normalstand. Die alte Bergbau- und Arbeiter*innen-Siedlung Zugaztieta - La Arboleda wird vorgestellt mit der anhängenden Foto-Sammlung (LINK-12)
ANMERKUNGEN:
(1) Information aus dem Artikel “Aquellas mujeres morrocotudas que levantaron Bilbao” (Jene grobschlächtigen Frauen, die Bilbao aufbauten”, 2020-12-17, aus dem Blog Escapadarural.com, von Ander Izagirre, Journalist, Autor mehrerer Bücher, prämiert mit dem Preis “Euskadi de Literatura“ und dem “English Pen Award“. (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Graffiti Larreineta (FAT)
(2) Concha-Mine Gallarta (AMYP)
(3) Frauen am Erz-Band (escapadarural)
(4) Dynamithülsen-Produktion (escapadarural)
(5) Bergarbeiter Gallarta (Museum)
(6) Dolores Ibarruri mit Fidel (elespanol)
(7) Arboleda (turismo vasco)
(8) Treidlerinnen (Café Bilbao)
(9) Keksfabrik Artiach (FAT)
(10) Athletic auf der Gabarra
(11) Ainhoa Tirapu (naiz)
(12) Bilbo Zaharra, San Luis Mine
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-12-25)