Literatur aus einem Land, das es nicht gibt
Euskal Herria – das Baskenland – seine Geschichte, Kultur und Literatur sind für viele Menschen in den deutsch-sprachigen Ländern eine völlige Terra incognita. Es gibt auf Deutsch kaum Bücher zur Geschichte des Baskenlandes, nicht viele Reiseführer. Abgesehen von einigen Kinderbüchern lassen sich Direkt-Übersetzungen aus dem Euskara – dem Baskischen – ins Deutsche an einer Hand abzählen. Allenfalls über den Umweg über Spanisch erreicht baskische Prosa deutschsprachige Leserinnen und Leser.
Dabei haben baskische Autorinnen und Autoren viel zu erzählen – über radikale Veränderungen und Ereignisse, die Geschichte schrieben, über Grenzen und Aufbrüche, über Tradition, neoliberale Moderne und lokalen Eigensinn.
Literatur in der ältesten Sprache Europas erleben, das heißt Worten zu lauschen, die fremder kaum sein können. Die baskische Sprache ist mit keiner anderen Europas verwandt, prägte aber die Namen vieler europäischer Flüsse, Berge und Landschaften. Wer auf Baskisch schreibt, wendet sich an eine kleine Sprachgemeinschaft und nimmt einen überschaubaren Absatz in kleiner Auflage bewusst in Kauf. Entsprechend unabhängig, vielseitig und experimentierfreudig stellt sich die baskische Literatur heute dar.
Wir sind der Ansicht, dass es sich lohnt, baskische Literatur zu lesen. Deshalb wollen wir eine Brücke – zu Baskisch: Zubiak – aus dem Baskenland in den deutschen Sprachraum schlagen. Deutschsprachige Leserinnen und Leser sind herzlich eingeladen, literarisches Neuland zu betreten und eine der spannendsten Sprachregionen Europas zu erkunden.
Stationen baskischer Literaturgeschichte
Bis zurück ins Mittelalter reicht die Tradition der Bertsolaris – der sogenannten Volksdichter/innen, die auf traditionelle Rhythmen und Melodien zu beliebigen Themen einen Sprechgesang improvisieren. Noch heute treten sie im fröhlichen Wettstreit öffentlich gegeneinander an. Auch die Pastoralak, ein dörfliches Volkstheater, hat vom Mittelalter bis in die Gegenwart überlebt und steht für die in Euskal Herria (Baskenland) überaus lebendige Kunst mündlicher Überlieferung.
Das erste Buch auf Euskara, Linguae Vasconum Primitae von Bernat D'Etxepare, erschien 1545. Es enthält volkstümliche Gedichte, einen Lobgesang auf die baskische Sprache, die einen ebenbürtigen Platz unter allen anderen verdiene, sowie die Beschreibung eines Gefängnisaufenthalts des Autors. Bis 1879 wurden in der Folge ganze 101 Bücher veröffentlicht. Zu nennen sind die Übersetzung des Neuen Testaments 1571 und calvinistische Schriften von J. de Leizarraga sowie Gero von Pedro de Axular, das als Juwel asketischen Schrifttums gilt. Beeinflusst von der Aufklärung waren die Jahre 1784 bis 1808 sprachlich besonders fruchtbar. Wilhelm von Humboldt bereiste das Baskenland und förderte das öffentliche Interesse für das Euskara in Europa.
Das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts markiert den Anbruch einer neuen Ära. Nach dem 2. Karlistenkrieg 1873-1876 wurden die religiös-erbaulichen Inhalte abgelöst, Kritiker/innen sprechen von einer Renaissance der baskischen Literatur. Sabino Arana begründete den baskischen Nationalismus und prägte damit literarisch die ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Glaube, Patriotismus und die Besonderheit des Baskentums dominierten die Texte thematisch noch bis in die 50er Jahre. Die baskische Literatur habe in diesen Jahren das »Schiff des Modernismus« verpasst, schreibt Mari Jose Olaziregi. Sie habe sich außerliterarischen Fragen gewidmet, anstatt die Sprache selbst zu reflektieren und literarisch radikale Experimente zu wagen. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte dabei die Diffamierung und Verfolgung des Baskischen in all seinen Formen unter der Franco-Diktatur. In ganz praktischem Sinne verhinderte die Repression seine Entwicklung und Entfaltung. Das Euskara galt gemeinhin als Verständigungsmittel »nur für Bauern und Fischer« – und als ungeeignet für moderne Erzählformen.
Die Autorinnen und Autoren der Nachkriegszeit bewiesen bald das Gegenteil. Jon Mirande trieb der Literatur den religiösen Geist aus. Die sogenannte »Generation von 1956« modernisierte die baskische Literatur und befreite sie von nationalistischen, religiösen und archaisierenden Werten. Der vom Existentialismus Sartres inspirierte Roman Leturiaren egunkari ezkutua (1957, Das geheime Tagebuch von Leturia) von José Luis Álvarez Enparantza gilt als bedeutsamer Wendepunkt. Erstmalig tritt ein Ich-Erzähler in Erscheinung, die Handlung spielt im urbanen Milieu. Enparantza erlangte auch unter dem Namen Txillardegi und als Mitbegründer der ETA Bekanntheit. In den 60er Jahren ließ die Verfolgung des Euskara etwas nach. In den 1970ern, nach Francos Tod, wurde es nach und nach legalisiert und mancherorts auch schrittweise institutionalisiert. Zahlreiche Übersetzungen ins Euskara befruchteten das literarische Schaffen, das kulturelle Leben blühte auf.
Literaturgruppen und schreibende Kollektive wie Pott (Misserfolg), Oh! Euzkadi und Ustela (Verfault) stellten Ende der 70er die literarische Avantgarde. Zu ihr zählten Joseba Sarrionandia, der seit seiner abenteuerlichen Flucht 1985 aus dem Gefängnis an unbekanntem Ort lebt und bis heute wohl einer der meistgelesensten baskischen Autoren ist, sowie Bernardo Atxaga, der mit seinen preisgekrönten Büchern Obabakoak (1988, Obabakoak oder das Gänsespiel) und Gizona bere bakardadean (1993, Ein Mann allein) auch hierzulande Bekanntheit erlangt hat. Zu nennen sind auch Ramon Saizarbitoria und sein Roman Ehun metro (1975, Hundert Meter), der auch spanische Sprachfragmente enthält – Straßengespräche, Pressemeldungen, Anschriften – und damit die zweisprachige Realität im Baskenland wiederspiegelt. Mehrere Bücher Saizarbitorias erschienen auf Deutsch, Bihotz bi. Gerrako kronikak (1996, Bekenntnisse eines betrogenen Ehemanns) zählt zu den wenigen Werken, die direkt ins Deutsche übersetzt wurden.
Buchmesse in Durango. Über 350 Autorinnen und Autoren, 15% davon Frauen, schreiben auf Baskisch (Stand 2006). Etwa 1.500 Titel werden jedes Jahr neu veröffentlicht, mit einer durchschnittlichen Auflage von 2.500 Stück. 3,8 Millionen Bücher gelangen jährlich in den Handel, 70% davon sind Neuerscheinungen. Von diesen sind 70% auf Baskisch verfasst, bei den anderen 30 % handelt es sich um Übersetzungen. Es gibt etwa 100 Verlage im Baskenland. Die etwa 70 privaten Verlage publizieren ca. 70% der Veröffentlichungen. 13% der jährlich erscheinenden Titel werden von Universitäten, öffentlichen Institutionen oder Regierungsstellen herausgegeben. Weitere 15% werden von Kulturorganisationen oder von Autorinnen und Autoren publiziert.
Literatur der Gegenwart
Die baskische Literatur der Gegenwart ist geprägt von drei Generationen lebender Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Da ist zum einen jene Generation, die in Zeiten der Verfolgung unter Franco nur im Verborgenen oder im Exil arbeiten konnte, zum anderen die sogenannten »1975er«, zu denen auch Edorta Jimenez und Bernardo Atxaga gerechnet werden. Sie sind heute zwischen 55 und 65 Jahre alt und reflektieren in ihrem literarischen Schaffen immer wieder auch den Unabhängigkeitskonflikt. Hinzugekommen ist die Generation der heute 30 bis 45-jährigen Autorinnen und Autoren, die auf der Suche sind nach neuen Inhalten und Ausdrucksformen. Vor allem das Genre der Kurzgeschichte hat in den letzten Jahren eine große Verbreitung und Entwicklung erfahren.
Bürgerkrieg und Franquismus sind wichtige literarische Themen geblieben. Hierfür stehen exemplarisch Hauts bihurtu zineten (2005, Ihr habt Euch zu Staub verwandelt) von Juan Kruz Igerabide und Sua nahi, Mr. Churchil? (2005, Feuer, Mr. Churchill?) von Koldo Izagirre. Der letztgenannte Roman wird von manchen Kritikerinnen und Kritikern aufgrund seiner reichen Sprache und komplexen stilistischen Konstruktion als ein Meisterwerk der baskischen Literatur gehandelt. Auch der baskische Konflikt ist nach wie vor in der Prosa präsent, er steht jedoch weniger als gesellschaftliches Problem im Mittelpunkt. Vielmehr ist er eine gegebene Bedingung, ein Teil des Rahmens, der Einfluss nimmt auf die Protagonisten, ihre Gefühle, Taten und Motive. Beispiele dafür sind Eta handik gutxira gaur (2004, Und kurz danach heute) von Eider Rodriguez oder Bizia lo (2004, Lebend schlafen) von Jokin Muñoz. Laura Mintegi erzählt in Ecce homo (2006, Ecce homo) von einer verlorenen Liebe vor dem Hintergrund eines Umweltskandals und thematisiert Verständigungsprobleme zwischen Männern und Frauen.
2005 begeisterte der vom Spanischen ins Deutsche übersetzte Roman SPrako Tranvia (2001, Lucas oder Der Traum vom Himmel über Nepal) von Unai Elorriaga (Jahrgang 1973), Kritikerinnen und Kritiker von Brigitte bis zu Die Zeit. Warmherzig und humorvoll beschreibt Elorriaga die ungewöhnliche Wohngemeinschaft zweier alternder Geschwister und eines Straßenmusikers. Amaren eskuak (2006, Mutters Hände) von Karmele Jaio war 2006 das meistverkaufte Buch in baskischer Sprache. Es handelt von der Beziehung einer Tochter zu ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter und von den Schatten der Vergangenheit. Irati Jimenez, eine verhältnismäßig junge Autorin des Jahrgangs 1977, entwickelt in Bat, bi, Manchester (2006, Eins, zwei, Manchester) in unkonventionellem, schnörkellosem Erzählstil die Liebesgeschichte zwischen zwei männlichen Studenten.
Die Themen baskischer Gegenwartsliteratur sind vielfältig. Zwei renommierte baskische Autoren wählten historische Hintergründe für ihre letzten Romane. Aingeru Epaltza schrieb mit Mailuaren Odola (2006, Der blutige Hammer) eine baskische Saga mit authentischen Figuren, angesiedelt im Nafarroa des 16. Jahrhunderts. Anjel Lertxundi erzählt mit Ihes betea (2006, Totale Flucht) die Geschichte eines Hitlerjungen, der feststellt, dass er Jude ist, und auf der Flucht aus Deutschland durch mehrere europäische Länder bis ins Baskenland gelangt. Auch der preisgekrönte Roman Belarren ahoa (2004, Strohmund) des jungen, talentierten Erzählers Harkaitz Cano, Jahrgang 1975, bezieht sich auf den Nationalsozialismus. Cano entwirft ein Szenario, in dem Hitler heute noch am Leben ist und die Welt beherrscht.
Bedeutsam ist und bleibt das Thema Euskal Hiria (Baskenstadt), ein von Bernardo Atxaga geprägter Begriff und Anspielung auf Euskal Herria – Baskenland. Literatur, die aus diesem Themenfeld schöpft, widmet sich den Übergängen und Bruchstellen zwischen Tradition und Moderne. Ihre Protagonistinnen und Protagonisten ringen um Würde und Identität in Zeiten fundamentaler sozialer, technologischer und ideologischer Veränderungen. In ihrem siebten Roman Zeruetako erresuma (2005, Das Himmelreich) übt Itxaro Borda, eine der Begründerinnen der modernen baskischen Literatur, in für sie so typischem dunklen, zynischen Stil scharfe Kritik von innen an der baskischen Gesellschaft. Das gilt auch für Xabier Montoia mit seiner Kurzgeschichten-Sammlung Euskal Hiria Sutan (2005, Die baskische Stadt in Flammen).
Migration ist ein wichtiges Thema. Enpleguaren arbola (2005, Der Baum der Beschäftigung) von Pablo Sastre erzählt die Geschichte eines russischen Immigranten im Baskenland. Ixiar Rozas wählt in Negutegia (2006, Treibhaus) eine Reise verschiedener Personen durch die Länder Europas als Metapher für globalisierte Entwurzelung und die Einsamkeit in den Metropolen. Als Romandebüt legte die Journalistin Nora Arbelbide, Jahrgang 1980, mit Goizeko zazpiak (2006, Früh um 7) eine Parodie auf Mediengesellschaft und Enthüllungsjournalismus vor.
Quellen:
» Mari Jose Olaziregi: www.transcript-review.org, Das Erwachen der baskischen Literatur. / » Ibon Egaña, Jon Kortazar, Iratxe Retolaza: Recorrido por la literatura vasca. Insula, April 2007 / » Dossier Baskische Literatur, aktualisiert am 29.03.2006. www.euskaletxea.ch.
(Dieser Text erschien ursprünglich 2007 auf der Webseite des Pahl-Rugenstein-Verlages, dessen Bücherreihe ZUBIAK, dt: Brücken eine empfehlenswerte Auswahl von ins Deutsche übersetzter moderner baskischer Literatur darstellt. Nur wenige Textstellen mussten aufgrund der Ereignisse seit 2007 aktualisiert werden, www.pahl-rugenstein.de/zubiak).