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Baskisches Volk oder baskische Stadt

Selbst Bernardo Atxaga, dem vermutlich bekanntesten baskischen Schriftsteller der letzten drei Jahrzehnte, fehlen manchmal die Worte, kaum zu glauben für eine Person der Worte. Im Zusammenhang mit einem Vortrag in Pamplona äußerte sich Bernardo Atxaga zu den Themen Friedensprozess und Zukunft im Baskenland, sowie zur baskischen Sprache, dem Euskara. Seine Antworten in diesem Interview gehen über literarische Gedanken hinaus, seine Definition von Zusammenleben hat philosophische Dimension.

Bernardo Atxaga, der Autor des berühmten Buches „Obabakoak“, spricht in einem Interview über seine Phantasien einer neuen baskischen Gesellschaft, fernab von Gewalt, mit dem Euskara als normalisiertem und identitäts-stiftendem Element. Atxaga bemüht sich präzise zu sein und möchte komplexe Überleguungen klar und in adequaten Worten ausdrücken, um falsche Interpretationen zu vermeiden. Diese Suche nach Genauigkeit ist ihm anzusehen bei seinem Vortrag im Planetarium von Iruñea (spanisch: Pamplona). Der Titel seines Vortrags: „Euskal hiria, die baskische Stadt“. Ein Ausdruck, den er selbst bereits vor ein paar Jahren prägte und mit dem er vorschlägt, den Begriff „Euskal Herria“ (Baskisches Land, oder, Baskisches Volk) zu ersetzen. Nach seinen eigenen Worten sucht er mit diesen Überlegungen „eine bescheidene Utopie für ein besseres Zusammenleben innerhalb des Gebiets, das sich País Vasco (Land der Basken) nennt“. (1)

Das erste Mal, dass viele den Begriff „Euskal hiria“ hörten, war in der Schlussfolgerung des Dokumentarfilms „La pelota vasca“ von Julio Medem. Darin sagten Sie, am Tag, an dem die Gewalt enden würde, würden wir zu schweben beginnen. Allein wegen des Gewichts, das uns von der Schulter falle. Nun sind seit dem Film zwölf Jahre vergangen – sind wir einem Schwebezustand wirklich näher gekommen? (Baskische Pelota) (2)

Stimmt, ich hatte es vergessen. Wir schweben ein kleines bisschen. Wenn ich voraussah, dass wir einen halben Meter über der Erde schweben würden, so haben wir vielleicht eine Handbreit erreicht, sagen wir 20 Zentimeter. Es hat eine große Erleichterung gegeben, das haben wir alle gespürt. Ich denke, wir sind uns einig, dass sich die Geschichte von ETA entsetzlich in die Länge zog und zu einem enorm schweren Paket wurde, zu einem Ballast. Glücklicherweise ist diese Geschichte zu Ende und ich denke, das erste, was es festzuhalten gilt, ist diese Erleichterung, die sich zum Beispiel darin zeigt, dass Eltern von Jugendlichen gelassener sind. Nicht nur sie, viele Leute leben heute gelassener, obwohl es nach wie vor viele Probleme gibt, gehören sie doch einer anderen Kategorie an. Denn die Kategorie der Gewalt ist außerordentlich mächtig. Als ich in Barcelona Philosophie studierte, begann ein Vergewaltiger sein Unwesen zu treiben und diese eine Person schuf eine Psychose in der gesamten Stadt. Die Kommilitoninnen baten darum, ins Stadtzentrum begleitetzu werden. Das zeichnet die Macht der Gewalt aus, es ist schrecklich.
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„Euskal hiria“, die baskische Stadt. Was bedeutet dieser Begriff?

Es könnte eine Neudefinition zwischen einem Begriff wie „herria“ (Volk) und „hiria“ (Stadt) eingeführt werden. Der erste Begriff stammt direkt aus dem Romantizismus und ist ein Schema, das essentiell sein kann: wir sind was wir sind, wir haben unseren Charakter, wir sind eine Nation. Demgegenüber, oder besser gesagt, daneben oder an anderer Stelle steht der Begriff Stadt. Die Stadt besitzt weder diese rigorosen Merkmale, die sie definieren noch ist ihr Gebiet klar abgegrenzt, weil es von ihrem Einflussbereich abhängt, von ihrer ökonomischen und kulturellen Stärke. Während der franquistischen Diktatur war es unvermeidbar, das romantische Schema aufrecht zu erhalten, weil die Diktatur die Negation von allem war. Aber wenn wir diesem Schema weiter folgen, stoßen wir auf eine Schwierigkeit: wo legen wir die Ränder fest, wo die Grenzen. Dieses Problem scheint mir in der heutigen Gesellschaft unauflösbar. Daher, in der Vorstellung einer Stadt taucht dieses Problem nicht auf. In einer Stadt sind die Grenzen nicht völlig klar, außerdem gäbe es Stadtteile und keine Provinzen.

Das klingt nach einer idealistischen Vorstellung, fernab der Begriffe, in denen wir uns üblicherweise bewegen.

Mein Ideal wird sich nicht erfüllen. Aber die griechische Polis wurde aufgebaut, um der kriegerischen Situation zwischen verschiedenen Stämmen zu entkommen. Es ist eine bescheidene Utopie zur Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen und ich glaube, sie kann viele Personen anziehen. Das Wichtige ist - und das führt uns wieder zur griechischen Polis - dass das Gesetz dieser Republik locker beziehungsweise nachsichtig genug ist, um zu erreichen, dass sich viele zugehörig fühlen.

Eine Vorstellung wie Ihre passt besser in eine Welt, in der die Identitäten komplex und nuanciert sind, selbst innerhalb einer Person.

Selbstverständlich. Natürlich gibt es Identitäten und wir alle haben etwas, das wir als unsere Identität bezeichnen können. Das ist offensichtlich. Der argentinische Schriftsteller und Bibliothekar Jorge Luis Borges (1899-1986) ist nicht auf dem Pluto geboren, vielmehr stammte er aus einer wohlhabenden argentinischen Familie und wuchs in Buenos Aires auf. Ein Teil seines Wesens und Wirkens erklärt sich allein dadurch. Tatsächlich sind Identitäten jedoch eine kunterbunte Zusammensetzung vieler Stoffe. Das habe ich in USA deutlich gesehen. Ich erinnere mich an einen Dichter baskischer Herkunft, der homosexuell war. In einer Unterhaltung mit ihm wurde mir deutlich, wie stark er sich mit der homosexuellen Bewegung identifizierte. Dieses Zugehörigkeitsgefühl war weit stärker als seine Affinität zur baskischen Gemeinschaft.

Möglicherweise liegt das daran, dass sich in den Vereinigten Staaten die Identitäten stärker mischen?

Nein, sie mischen sich nicht stärker, sie koexistieren und stoßen sich nicht am politischen Modell. Die baskische Gemeinde dort fühlt sich gleichzeitig auch amerikanisch und hat damit keinerlei Probleme. Außerdem gibt es die chinesische, die polnische oder die irische Gemeinde. Aber ihre Zugehörigkeit zu kulturellen Identitäten leben sie über weit einfachere Materien wie Tanz oder Gastronomie. Sobald die Frage der Sprache aufkommt, zeigt sich allerdings ein konfliktives Terrain, weil eine Sprache nicht von sich aus weiterlebt, sie braucht eine Personengruppe, die sie fördert.

Wie sehen Sie die Realität der baskischen Sprache in diesem Land hier?

In Euskadi, und ich vermute, bald auch in Navarra, wird die Sprache von allen willkommen geheißen. Ich lebe in Vitoria-Gasteiz und nehme das so wahr. Ich sehe, dass alle das Euskera begrüßen, ob sie es sprechen oder nicht. Mir scheint, dass Navarra in Bezug auf Identitäten nichts Besonderes hat. Was Navarra zum Beispiel von Alava unterscheidet, einer Provinz, die kulturell betrachtet der navarrischen sehr ähnlich ist, ist eine generelle politische Haltung. Diese Haltung war seit dem Spanienkrieg und bis vor Kurzem diesem Teil der Kultur gegenüber, also der „lingua navarrorum“, der baskischen Sprache gegenüber ganz besonders aggressiv. Das ist etwas, was der Vergangenheit angehören muss. Solche Haltungen riechen unerträglich nach Naphthalin oder Mottenpulver, wie alte schlecht riechende Kleiderschränke.

Es könnte passieren, dass ein Teil der Bevölkerung diese Sprache nicht als seine eigene betrachtet ...

Auch das kann ein Teil der Normalität sein. In dieser Hinsicht ist Geduld gefragt und ein neues Mischen der Karten. Es gibt keinen anderen Weg, als das zu fördern, woran du glaubst und das Positive, das in diesem Fall die Sprache hat. Euskera kann der Faden sein, der einen Stoff in der Gemeinschaft webt. Die Sprache kann vieles zusammenbringen.

Was meinen Sie, an welchen Punkten hat sich das Zusammenleben in den letzten Jahren verbessert?

Ich weiß es nicht. Ich setze auf die Tangente, die einzige gerade Linie, die ich als realistisch betrachte. Es muss gesprochen werden, es ist wichtig, dass die Leute sich ausdrücken, sich verbalisieren und dass die Vergangenheit eine Form bekommt. Das muss das Bestreben sein. Davon ausgehend, schätze ich, entwickeln sich weitere Verbesserungen, allerdings nicht komplett. Denn solange es Tote zu beklagen gibt und Schmerz und Gewalt, ist das schwierig.
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Es ist nicht einfach, bei der Interpretation der Vergangenheit ein Einverständnis zu erzielen, es gibt sichtbare Konsequenzen, es gibt Opfer. Was ist ihre Rolle, was schuldet ihnen die Gesellschaft?

Das Subjekt ist die Gesellschaft und ihre Vertreterinnen, die den Opfern gegenüber nicht blind sein dürfen. Aber das Steuer hat die Gesellschaft in der Hand. Die politisch Verantwortlichen sind der gesamten Gesellschaft gegenüber verantwortlich, sowohl den Opfern als auch den Kindern gegenüber, die zur Schule gehen.

Und die politischen Gefangenen?

Dazu will ich mich nicht äußern. Ich habe eine Meinung, die ich stark differenzieren müsste und so mal eben in einer Frage unter vielen kann ich dazu nichts sagen.

Welche Rolle spielt die Fiktion? Kann sie uns dabei helfen zu verstehen was passiert ist?

Ich sehe da keine Rolle, es sei denn, ein Schriftsteller will sich dieser Sache widmen wie es zum Beispiel Luis Garde oder Miguel Sánchez Ostiz getan haben. Was dabei hilft zu verstehen, ist zu denken, dass es in der Verantwortung jedes Einzelnen liegt. Aber ich denke nicht, dass wir darüber hinaus gehen sollten, denn es gibt auch bösartige Bücher wie beispielsweise „Mein Kampf“. Manchmal gibt es keine Lösung, die über das Allgemeine hinausgeht. Lesen ist wichtig um zu denken, obwohl es tausend Formen des Denkens gibt. Aber ich bin mir nicht sicher, ob die Literatur auf diese Weise wirkt. Die Literatur erreicht das Gehirn, das wiederum wie ein Ofen wirkt, in dem Brot gebacken wird. Aber es hat keine direkte Auswirkung. Dies würde dazu führen, dass wir alle Bücher zur Selbsthilfe schreiben würden.

Nachtrag

Bernardo Atxaga, eigentlich Joseba Irazu Garmendia (*1951) ist ein baskischer Schriftsteller. Er studierte Wirtschaftswissenschaft in Bilbao und Philosophie in Barcelona. Er arbeitete zunächst als Bankangestellter, Buchhändler, Baskisch-Lehrer und als Autor von Rundfunksendungen. Seit 1980 widmet er sich ausschließlich der Schriftstellerei. Er schreibt auf Baskisch und übersetzt seine Werke zumeist selbst ins Spanische. Er hat damit wesentlichen Anteil daran, die baskische Sprache am Leben zu erhalten und sie zu einem literarischen Medium zu machen. Gefördert wurde er durch Gabriel Aresti. Er lebt heute in Zalduendo, Álava. Im Baskenland wurde er zunächst mit seinen (bisher 25) Kinderbüchern, aber auch mit seinen Gedichten (insbesondere Etiopia, Nueva Etiopia) bekannt, welche von den populärsten baskischen Sängern vertont wurden und gesungen werden. Er war Mitglied der avantgardistischen Gruppe Pott (1978–1983), der auch Joseba Sarrionandia, Ruper Ordorika, Jon Juaristi und andere baskische Autoren angehörten. Durch seine Teilnahme am Festival Poetry on the Road sind einige seiner Gedichte auch in Deutschland bekannt. (3)

Außerhalb des Baskenlandes ist Atxaga in erster Linie als Prosa-Autor bekannt. Sein Geschichten-Kranz Obabakoak ist mit bedeutenden spanischen Literaturpreisen ausgezeichnet, in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und auch (von Montxo Armendáriz) verfilmt worden. In mehreren seiner Bücher wird das Tabu-Thema des baskischen Terrorismus aufgegriffen. Sein Roman, Zazpi etxe Frantzian (Siete casas en Francia), ist im April 2009 auf baskisch und spanisch erschienen. Sein neuester Roman ist im Februar 2012 gleichzeitig in drei Sprachen erschienen: Barrokaria, El luchador, The Fighter.

Atxagas Werk hat stets auch einen starken Bezug zur Welt außerhalb des Baskenlandes. In der Sekundärliteratur wird auf ein besonderes Verhältnis Atxagas zu Deutschland und zur deutsch-österreichischen Literatur hingewiesen. Einige seiner Geschichten spielen in Hamburg bzw. Berlin, einige seiner Figuren habe deutsche (wenn auch häufig etwas verfremdete) Namen, etwa Esteban Werfell, Klaus Hanhn, Hans Menscher. Sein Roman Obabakoak sollte ursprünglich Obaba - Hanburgo heißen. Darüber hinaus lassen sich in Atxagas Schriften Anspielungen auf Werke von Bert Brecht, Paul Celan, Franz Kafka, Friedrich Hölderlin, Georg Trakl, Franz Werfel finden.

ANMERKUNGEN:

(1) Bernardo Atxaga „En Navarra ha habido, desde la Guerra Civil y hasta hace nada, una actitud política muy agresiva contra la lingua navarrorum”, Interview in der Tageszeitung Deia am 15. April 2016 (In Navarra existierte vom Spanienkrieg bis vor Kurzem eine äußerst aggressive Haltung gegenüber der navarrisch-baskischen Sprache).

(2) „Pelota Vasca. La piel contra la piedra“ (Baskische Pelota. Die Haut gegen den Stein), Film von Julio Medem ist ein Dokumentarfilm aus dem Jahr 2003, der das Ziel hatte, den baskisch-spanischen Konflikt möglichst unvoreingenommen zu betrachten, in Form von aneinander gereihten Interviews verschiedener Protagonistinnen und Kommentare. Im Baskenland wurde er positiv aufgenommen, in Spanien wurde ihm fehlende Parteilichkeit vorgeworfen, die Projektionen wurden teilweise sabotiert.

(3) Bernardo Atxaga (wikipedia)

FOTOS:

(*) Bernardo Atxaga bei einer Literatur-Veranstaltung in Bilbao 2015 (Foto Archiv Txeng – FAT)

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