Geschichte eines politischen Gefangenen
Eine Ausstellung in der Universität Rhode Island in den USA zeigt Persönliches des afro-amerikanischen politischen Gefangenen Mumia Abu-Jamal. Mit dem Stift hat Mumia in der Zelle handschriftlich mehrere Bücher verfasst. Wegen Auflagen durfte er sie nicht behalten. Verloren gingen sie nicht. Erst eingelagert, gingen sie 2011 an eine befreundete Journalistin und im Jahr 2022 an die Bibliothek der Universität. Ausgestellt als Teil der Kampagne “Stimmen der Massenverhaftung in den Vereinigten Staaten“.
Der Ex-Black-Panther Mumia Abu-Jamal ist seit fast 42 Jahren unschuldig inhaftiert, 30 Jahre in der Todeszelle. Die Bücher, die er handschriftlich verfasste und andere persönliche Gegenstände sind in der Bibliothek der Brown-Universität Rhode Island in einer Ausstellung zu sehen.
Geschichte wieder aneignen
Die an der Brown University geschaffene “Sondersammlung“ und die Ausstellung “Mumia Abu-Jamal. Ein Porträt der Masseninhaftierung“ sind Ausdruck einer sich in den USA ausweitenden Erfassung schwarzer Geschichte und Realität. Mit Abu-Jamal steht nicht nur das Leben eines Aktivisten der Bürgerrechts-Bewegung und der Black Panther Party (BPP) im Mittelpunkt, sondern ein politischer Gefangener, für dessen Freilassung sich eine weltweite Solidaritätsbewegung einsetzt. (1) (2)
Die “Zeit für eine Wallfahrt“ sei gekommen, erklärte Noelle Hanrahan vom kalifornischen Prison Radio in ihrem jüngsten Newsletter. Gemeint ist eine neue Sonderausstellung zu politischen Gefangenen in den USA, die in Providence, der Hauptstadt von Rhode Island, in der John Hay Library (JHL) der Brown University eröffnet wird. Die Ausstellung namens “Stimmen der Massenverhaftung in den Vereinigten Staaten“ widmet sich dem Forschungsthema Gefangenschaft, insbesondere jener von politischen Häftlingen. Sie bietet an gebündelter Stelle neues Forschungsmaterial. Kern der Archivsammlung wird unter anderem das Archiv des politischen Gefangenen und Bürgerrechtlers Mumia Abu-Jamal sein. Parallel zur Eröffnung von Archiv und Ausstellung fand vom 27. bis 29. September 2023 die dreitägige Veranstaltung “Stimmen der Masseninhaftierung: Ein Symposium“ statt.
Gegenstände aus der Todeszelle
Die Ausstellung bietet wertvolle Einblicke in das Leben des wohl bekanntesten politischen Gefangenen der USA, der seit vier Jahrzehnten ein Leben hinter Gittern fristen muss. 2011 musste Abu-Jamal sein persönliches Archiv an seine Vertraute Noelle Hanrahan übergeben, weil die Knastbehörde ihn vor zwei Alternativen gestellt hatte: ab in den Müll oder auslagern. Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer. Er hatte seine Lebensgeschichte zu verteidigen. Vor seinem Bekanntwerden und seiner Auszeichnung als antirassistischer Radiojournalist, war Abu-Jamal Anfang der 1970er Jahre als Teenager Pressesprecher der Black Panther Party (BPP) in Philadelphia geworden. Bei der Parteizeitung The Black Panther erlernte er das journalistische Handwerk. Als er im Dezember 1981 als Opfer rassistischer Polizeigewalt nur knapp überlebte, meinten reaktionäre Schergen ihn mit der Anklage “Polizistenmörder“ endgültig zum Abschuss freizugeben. Doch sie hatten die Rechnung ohne die internationale Solidarität gemacht. Für Abu-Jamal begann damit ein bis heute andauernder Kampf um Leben und Freiheit.
Bis September 2022 war sein an die Brown University übergebenes Archiv nach fast 42 Haftjahren auf über 40 Kartons angewachsen. Die JHL-Bibliothek erwies sich als gute Adresse für die Bewahrung seiner Lebenszeugnisse. Dokumente, Manuskripte, Zeichnungen und sein primitives Handwerkszeug als Knastautor wurden innerhalb eines Jahres systematisiert und sind nun der Öffentlichkeit zugänglich – dank der JHL, dem “Center for the Study of Slavery and Justice“ und dem “Pembroke Center für feministische Forschung“ an der Brown University.
Seine Dokumente dienen nun “als Anker für den Sammelschwerpunkt ‘Stimmen der Masseninhaftierung‘“, erklärte Soziologieprofessorin Nicole Gonzalez Van Cleve, die mit Studierenden das “Mass Incarceration Lab“ aufgebaut hat. Es gehe um die interdisziplinäre Erforschung der Zusammenhänge zwischen Masseninhaftierung und im US-System angelegten Ungleichheiten. Dazu zählten “eine wachsende Zahl von mündlichen Berichten und Briefen von Inhaftierten und ihren Familien“, so die Soziologin. Die Öffentlichkeit wisse kaum etwas über dieses gesellschaftliche Problem. Die Zahl der Gefangenen habe sich “zwischen 1970 und 2022 verfünffacht und liegt heute bei über zwei Millionen Menschen, mehr als in jedem anderen Land“. Im Alter von 23 Jahren sei “jeder dritte US-Bürger schon einmal verhaftet worden“, so Van Cleve.
Obwohl staatliche und institutionelle Aufzeichnungen über Inhaftierung im Überfluss vorhanden sind, mangelt es an Archivmaterial von inhaftierten Personen, ihren Familien und Anwälten. In den USA gebe es weniger als 20 solcher Archivsammlungen, die inhaftierte Personen repräsentieren. Die meisten von ihnen seien klein, und bis jetzt sei keine dieser Sammlungen direkt von einer derzeit inhaftierten Person angelegt worden, schreibt die Bibliothek auf ihrer Webseite.
Noelle Hanrahan – Prison Radio
Noelle Hanrahan ist Mitgründerin von Prison Radio und langjährige Unterstützerin des politischen Gefangenen Mumia Abu-Jamal. Der folgende Textauszug ist ihrem Newsletter vom 15. September 2023 entnommen, der sich der Ausstellung “Stimmen der Massenverhaftung in den Vereinigten Staaten“ an der Universität Rhode Island widmet.
“Im Juli 1992 habe ich Mumia Abu-Jamal zum ersten Mal im Todestrakt besucht. Von dort brachte ich 1994 das Manuskript seines ersten Buches ‘Live from Death Row‘ mit. Seitdem sind Mumia und ich Kollegen. Am 17. Dezember 2011 schickte er mir seine gesamte persönliche Habe zu, die er in seiner Zelle aufbewahrt und in der Knastkammer eingelagert hatte. Ich werde nie vergessen, wie ich meine Haustür öffnete und 28 sehr schwere Pappkartons vorfand. Sie enthielten all das Material, das er nicht mitnehmen konnte, als sein Todesurteil in lebenslange Haft umgewandelt worden war und er nach 30 Jahren vom Todestrakt in Greene County quer durch Pennsylvania in den Knast Mahanoy verlegt wurde. Mumia wusste, wie wertvoll diese Materialien waren und sind.“
Kreativ im Todestrakt
Wer Archiv und Ausstellung besucht, kann teilhaben an Mumias kreativem Prozess und nachvollziehen, wie er seine 13 Bücher und Tausende Radiokommentare verfasst hat. Zu sehen sein wird der “Flex Pen“, ein Kuli aus Weichgummi, mit dem er seine ersten zehn Bücher handschriftlich verfasste. “Wenn er endlich frei ist, wird er dem Archiv sicher auch seine treue Plastikschreibmaschine spenden. Ausgestellt werden die Entwürfe der einzelnen Buchmanuskripte und Tausende von Grußkarten aus der ganzen Welt. Dazu die Noten seiner Kompositionen, an denen er zusammen mit seinem Opernlehrer Bariki Hall arbeitete. Allein durch Singen hat sich Mumia selbst das Notenschreiben beigebracht, ohne je ein Instrument zu spielen.“
Mumia durfte nie mehr als sieben Bücher gleichzeitig in seiner Zelle haben. Überzählige musste er “zur Habe“ geben. So legte er in Jahrzehnten Hunderte von Notizheften an, in denen er jedes jemals gelesene Buch skizzierte und Zitate mit Seitenangaben für weitere Recherchen festhielt. Er durfte weder Computer noch normale Kugelschreiber benutzen. Unvorstellbar, als Autor nicht von jedem selbst verfassten Buch ein Exemplar aufbewahren zu dürfen, weil man mehr als sieben Bücher geschrieben hat. Von den drei Bänden seines zusammen mit Stephen Vittoria geschriebenen und von Prison Radio verlegten Meisterwerks “Murder Incorporated: Empire, Genocide and Manifest Destiny“ hat Mumia keinen zu sehen bekommen. “Als er dann einmal die Gefängnis-Bibliothek aufsuchte, fragte ihn die Bibliothekarin, ob er die Bücher sehen wolle, denn sie seien zur Ausleihe verfügbar. Er hielt sie glücklich in der Hand wie ein Vater seine Babys, drehte und wendete sie, fühlte sie.“
Symposium
Dem Forschungs-Schwerpunkt Gefangenschaft diente auch das Symposium mit Vorträgen, Podiumsdiskussionen und künstlerischen Darbietungen zu den Themen Strafverfolgung, Geschichte der Gefängnisse, medizinische Versorgung im Knast, zur Lage inhaftierter Frauen und zur Gewalt gegen sie am Beispiel der Kampagne “Say Her Name“, sowie zur psychischen Zerstörung durch Isolationshaft. Als Weltpremiere wird am zweiten Tag “Vampire Nation“ aufgeführt, eines von vier Musikstücken, die Abu-Jamal in jahrelanger Isolation komponiert hat. Auch brachte das Symposium “Künstler, Wissenschaftler und besondere Gäste wie die Feministin und Wissenschaftlerin Angela Davis, die Autorin Julia Wright sowie die Aktivistin Pam Africa“ und viele mehr zusammen. Amanda E. Strauss, Direktorin der JHL-Bibliothek, ergänzte, dass diese Aktivitäten sich auch auf andere Bereiche der Universität auswirkten. So werde die Rockefeller Library Plakate des Buchladens Revolution Books in Harlem, New York, ausstellen, “einem der Orte, an dem sich die Free Mumia-Bewegung organisiert und die ganze Welt mit Informationen versorgt“.
Ausstellung und Symposium „bieten durch den Einblick in das Leben eines Mannes, der seit 41 Jahren in Pennsylvania inhaftiert ist, einen breiteren Blick auf die Masseninhaftierung in den USA“, erklärte JHL-Direktorin Strauss. Seit seiner Verhaftung habe Abu-Jamal “heftige Debatten über Rassismus und die Todesstrafe ausgelöst“. An seinem Beispiel werde von nun an “die tägliche Realität der Gefängnisse und der anhaltenden Probleme, mit denen Millionen Inhaftierte konfrontiert sind, beleuchtet“. “Indem wir einen Einblick in Mumia Abu-Jamals Dokumente ermöglichen und Wissenschaftlerinnen aus dem ganzen Land in den Diskurs einbeziehen, hoffen wir, eine Diskussion über ein Thema anzuregen, das so viele Menschen betrifft.“
42 Haftjahre
Mumia blickt im Dezember 2023 auf 42 Haftjahre zurück, ohne Aussicht auf Entlassung oder Bewährung. Seit 2011 sitzt er im Gefängnis Mahanoy in Pennsylvania. Der Ortsname leitet sich von dem Wort “Maghonioy“ ab, das in der Sprache der Lenape-Ureinwohner*innen “die Salzlagerstätten“ bedeutet. Noelle Hanrahan: “Lasst uns gemeinsam ergründen, was es bedeutet, Mumia zu sein: ein Mensch, der jeden Tag versucht, uns durch seine Radio-Kommentare und Schriften zu erreichen. Mumia hat nie aufgehört zu wachsen, zu singen und an eine Zukunft für uns alle zu glauben. Und an eine Zukunft, in der er frei ist.“
ANMERKUNGEN:
(1) “Free Mumia! 40 Kartons“, Tageszeitung Junge Welt, Autor: Jürgen Heiser, 2023-09-23 (LINK)
(2) “Ein Kuli aus Weichgummi“, Tageszeitung Junge Welt, Autorin: Noelle Hanrahan, 2023-09-23 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Mumia Ausstellung (jungewelt)
(2) Noelle Hanrahan (leeway fdn)
(3) Mumia Ausstellung (jungewelt)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-09-29)