agirre001
Fluchtwege des baskischen Präsidenten

Der promovierte Historiker und Journalist Ingo Niebel, der regelmäßig für GARA schreibt, hat soeben bei Ediciones B ein interessantes Essay veröffentlicht, das Licht bringen soll in die weitgehend unbekannte Flucht des Lehendakari José Antonio Agirre, der von Franco und der Gestapo gejagt wurde. Die Arbeit basiert auf bisher unveröffentlichtem Material. "Die Nazis wollten Agirre festnehmen, richtig, aber sie haben sich nicht sonderlich angestrengt". Agirres Flucht verlief über Berlin und Belgien.

"Auf der Jagd nach dem ersten Lehendakari", im Original: "A la caza del primer lehendakari" ist die neue Publikation des Historikers, Journalisten und Baskenland-Kenners Ingo Niebel: die Geschichte der Flucht des ersten baskischen Ministerpräsidenten nach der baskischen Niederlage im Spanienkrieg 1937.

Der Spanienkrieg dauerte bis April 1939, im Baskenland war er bereits im Juni 1937 mit dem Fall von Bilbao zu Ende. Die Region Euzkadi hatte nur acht Monate zuvor von der republikanischen Regierung die erste Autonomie ihrer Geschichte zugesprochen bekommen. Dieses historische Recht sollte mit einer Exilregierung verteidigt werden. José Antonio Agirre (im spanischen Sprachgebrauch Aguirre) von der Baskisch Nationalistischen Partei PNV war am 7. Oktober 1936 zum ersten Ministerpräsidenten – Lehendakari auf Baskisch – gewählt worden und stand einer Regierung aller republikanischen Kräfte vor. Aus dem Exil sollte dieses Regierungsteam die Interessen der Region weiter wahrnehmen. Dazu schlugen sich die Basken im anlaufenden Weltkrieg auf die Seite der Alliierten, von denen sie sich erhofften, dass diese nach einem Sieg gegen die faschistischen Achsenmächte Deutschland und Italien anschließend den spanischen Faschismus angreifen würden. Agirres Flucht ging durch mehrere Länder, bis sie mit seinem Tod in Frankreich endete. Überraschend verlief sie auch durch das Herz der Bestie, durch das nazistische Berlin. Dies ist Gegenstand einer neuen Publikation – am Ende des vorliegenden Artikels eine kurze Biografie Agirres.

Der Historiker Ingo Niebel hat die Flucht des (baskischen Ministerpräsidenten) Lehendakari Jose Antonio Agirre durch Belgien und Deutschland untersucht, in einem Werk, das durch Schlachtfelder, dunkle Kanäle und die Welt der Spionage führt. Beleuchtet wird die Komplizenschaft des Franco- und des Hitler-Regimes, aber auch die ambivalenten Beziehungen, die die beiden faschistischen Systeme unterhielten. Ein Gara-Interview mit Ingo Niebel. (1)

agirre002Was dürfen wir von dem Buch "Auf der Jagd nach dem ersten Lehendakari" mit dem Originaltitel "A la caza del primer lehendakari" erwarten? Und was sind die wichtigsten Enthüllungen und Hinweise, auf die wir achten müssen?

Das Buch konzentriert sich ausschließlich auf die Flucht von Agirre. Einerseits wollte ich herausfinden, inwieweit sein Bericht über die zwölfmonatige Zeit seines Untertauchens in Belgien und Deutschland zuverlässig war. Zum anderen interessierte ich mich für die polizeiliche Zusammenarbeit zwischen dem Nazi- und dem Franco-Regime und verglich den Fall Agirre mit dem des katalanischen Präsidenten Lluís Companys (2) und dem seines republikanischen Amtskollegen Francisco Largo Caballero (3), die in die Hände der Deutschen fielen.

Nachdem das geklärt war, habe ich mich gefragt, warum die Flucht gelingen konnte, und ob wissenschaftlich erklärt werden kann, warum Agirre entkommen konnte. Ich habe die Arbeit in zwei Teile aufgeteilt. Im ersten stelle ich die Ergebnisse der Untersuchung vor, im zweiten Teil ihr Zustandekommen. Dabei lege ich die Quellen offen und liefere alle Daten, die meine Arbeit überprüfbar und damit wissenschaftlich machen.

Ihre wichtigsten Quellen sind das Buch "Von Guernica über Berlin nach New York", das 1943 in Argentinien veröffentlicht wurde, und Agirres persönliches Tagebuch, das 2010 erschien. Wenn er von der Gestapo verfolgt wurde, warum ist er dann mit seiner Frau und seinen beiden Kindern nach Berlin gereist, um 9 Tage später aus Nazi-Deutschland zu fliehen?

Ja, mit diesen beiden persönlichen Quellen von Agirre zeige ich einen roten Faden, dem ich weitere hinzufüge. Agirre, oder besser gesagt: Álvarez Lastra aus Panama – das war seine falsche Identität – ging nach Deutschland, weil die Nazis in Belgien seine Familie entdeckt und seinen Bruder Juan Mari verhaftet hatten. Die Umstände veranlassten ihn, sich ins Reich zu begeben, da er hoffte, von dort aus mit Hilfe lateinamerikanischer Diplomaten über Russland, Griechenland, die Schweiz und Schweden nach Amerika reisen zu können. Er wollte Europa nicht ohne seine Frau Mari und seine Kinder Aintzane und Joseba Andoni, beide minderjährig, verlassen. Deshalb hat er sich ihnen in Berlin getroffen. Wie jeder, der sich in einer solchen Situation befindet, hatte auch Agirre emotional gesehen eine schwere Zeit. Mit "spirituellen Übungen", die er bei den Jesuiten erlernt hatte, fand er sein inneres Gleichgewicht wieder. Es handelte sich um eine Art von Meditation, um seine Gedanken zu ordnen.

Aber die Aufzeichnungen über den Lehendakari Agirre in den Gestapo-Archiven waren nicht sehr umfangreich. Es schien, dass die Totenkopf-Verbände andere Prioritäten hatten.

Menschen und Umstände haben die Bedeutung, die wir ihnen geben. Agirre war eine sehr wichtige Person für die PNV und für das baskische Exil, da er die Kontinuität der Regierung von Euzkadi (so wurde es damals geschrieben) repräsentierte und für alle Abertzalen (Nationalisten), die in ihm die Verkörperung des nationalen politischen Projekts sahen. Die Gestapo spielte dies alles herunter. Die "Basken" gehörten im Gegensatz zu den "Kommunisten" und den "Juden" nicht zu ihren Feindgruppen. Der Vizepräsident des Baskenlandes, José María Leizaola, erschien ihnen "wichtiger" und "gefährlicher" als Agirre, weil er laut seiner Akte in einer deutschen Exilzeitschrift unter seinem Namen einen Artikel veröffentlicht hatte. Der "Schlimmste" war Lluís Companys, den die Gestapo als "Kommunisten" brandmarkte.

agirre003Abgesehen von dem berüchtigten Falangisten Urraca, einem Polizisten vom gleichen Schlag wie Melitón Manzanas (4), ist über die Agenten, die ihn verfolgten, wenig bekannt.

Der Polizist Pedro Urraca Rendueles von der franquistischen Generaldirektion für Sicherheit (DGS) ist eine Schlüsselperson für das Verständnis der Verfolgung der republikanischen, katalanischen und baskischen Exilanten im Zweiten Weltkrieg und später während des Kalten Krieges. Urraca verkörpert auch die Kontinuität von Francos Repressionsapparat bis in die 1980er Jahre, übrigens wurde er wegen Veruntreuung in den Ruhestand versetzt. Gleichzeitig ist er der Sündenbock für alle, die sich wie er verhalten haben.

SS-Führer Heinrich Himmler und der Leiter des Reichssicherheits-Hauptamtes (RSHA), Reinhard Heydrich, organisierten möglicherweise eine Jagd, eines ihrer üblichen Sonderunternehmen, um Agirre zur Strecke zu bringen. Es gibt allerdings keine Dokumente, die dies beweisen. Agirres Bruder Juan Mari wurde in Belgien verhaftet. Er hatte dort seit 1937 legal gelebt. Um ihn zu finden, genügte es, eine Streife zu seiner Wohnung oder zu seinem Arbeitsplatz zu schicken. Er wurde zwei Wochen lang "in Isolationshaft" gehalten, bevor er verhört wurde, ohne dass er körperlich misshandelt wurde. Juan Mari hat den Aufenthaltsort seines Bruders nicht verraten. Außerdem rechneten die Deutschen damit, dass Agirre nach England geflüchtet war. Im baskischen Exil in Belgien wurde diese falsche Fährte verbreitet.

Sie liefern auch Informationen über den Aufenthalt des Direktors der franquistischen Generaldirektion für Sicherheit DGS, José Finat, und des falangistischen Ministers Serrano Suñer in Berlin.

Ende August 1940 traf Finat in Berlin ein, um das deutsche Repressions-System zu studieren. Die Nazis hatten ihre Diktatur mit polizeilichen Mitteln errichtet, ohne auf einen Bürgerkrieg zurückgreifen zu müssen. Die DGS der Franquisten befand sich in einer Phase des Wiederaufbaus, man wollte von den Methoden von Heydrichs Reichssicherheit lernen. Serrano Suñer traf als "Gesandter" Francos in Berlin ein. Hitler und sein Außenminister Joachim von Ribbentrop waren sich bald im Klaren, dass Suñer keine Kompetenz zu Verhandlungen hatte, sondern dass Franco direkt angegangen werden musste. Zwischen Berlin und Madrid gab es mehr Differenzen und Streitigkeiten als man denkt.

Neben Themen wie der Eroberung von Gibraltar ging es der SS und der Nazi-Diplomatie vor allem darum, dass der spanische Staat die 120.000 republikanischen Flüchtlinge in Frankreich übernahm. Aber Madrid zögerte, wegen der Hungersnot konnten sie nicht ernährt werden, und kontrolliert ebenfalls nicht. Genervt von der Passivität Spaniens beschlossen die Deutschen, die republikanischen Kämpfer – die sogenannten Rotspanien-Kämpfer – in das Konzentrationslager Mauthausen zu schicken. Das war eine Woche, nachdem Himmler einen ganzen Tag mit Serrano Suñer verbracht hatte, der noch in Berlin war. Sie hätten dies nicht ohne Suñers Zustimmung getan, zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Der spanischen Delegation gehörte auch Urraca an, obwohl er nur ein Polizist von niedrigem Rang war.

Führten die Besuche der Franquisten in Berlin zu konkreten Konsequenzen für die Familie Aguirre?

Nun, die Verhaftung von Bruder Juan Mari erfolgte nach dem Besuch in Belgien, als Suñer und Urraca auf Einladung der Deutschen für ein paar Tage dahin fuhren. Ich denke, dass das Reichsicherheits-Hauptamt Agirre finden wollte, damit Himmler ihn als Trophäe nach Madrid bringen konnte, aber ohne große Anstrengungen zu unternehmen. Finat hatte den SS-Führer eingeladen, der Besuch fand im Oktober statt. Als die Deutschen Juan Mari Agirre entließen und ihn unter "Bewährung" stellten, sagten sie ihm, dass sie an einem Gespräch mit seinem Bruder interessiert seien. Der Lehendakari ging auf diese Anfrage nicht ein und warnte sogar seinen Vertrauen in Paris, Francisco Javier de Landaburu, nicht in die Falle der Kollaboration mit den Nazis zu tappen. Landaburu folgte den Anweisungen.

Nach der Niederlage der Nazis im Jahr 1945 blieb der spanische Repressions-Apparat intakt und Urraca war weiterhin auf der Jagd. Auf den Bruder des Lehendakari, er machte es zu seiner persönlichen Sache, nicht wahr?

Ich war auch überrascht, als ich ein belgisches Sicherheitsdossier fand, in dem Juan Mari Agirre und sein Partner Martin de Lasa der Kollaboration mit den Sowjets verdächtigt wurden. Zwei überzeugte Jeltzales (Begriff für PNV-Aktivisten) im Dienste der UdSSR? Während Agirre und andere mit dem US-Geheimdienst kollaborierten! Wie auch immer, am Ende habe ich ein freigegebenes CIA-Dokument gefunden, das Urracas Rolle in Belgien enthüllt und das es uns ermöglicht, ihn mit der anonymen Anschuldigung gegen Juan Mari Agirre in Verbindung zu bringen.

agirre004aAgirre – Biografische Daten

José Antonio Aguirre y Lecube (* 6. März 1904 Bilbao, † 22. März 1960 in Paris) war baskischer Politiker und erster Ministerpräsident des Baskenlandes (von 1936 bis 1960, ab 1937 im Exil). Aguirre wurde als Sohn eines traditionell katholischen, aber sozial aufgeschlossenen Schokolade-Fabrikanten geboren. Er war zunächst Spieler bei Athletic Bilbao und studierte Rechtswissenschaften an der Jesuiten-Universidad Deusto-Bilbao. 1929 wurde er Anwalt. Seine erste politische Funktion war der Vorsitz der Katholischen Jugend Bizkaias. Nachdem 1931 in Spanien die Zweite Republik ausgerufen wurde, begann er eine politische Karriere als Bürgermeister von Getxo. 1931, 1932 und 1936 wurde er ins spanische Parlament gewählt. Später war er Vorsitzender der Baskischen Nationalistischen Partei (EAJ/PNV) und vertrat einen harten Kurs in der Frage der Durchsetzung des Autonomie-Statuts, das am 1. Oktober 1936 vom spanischen Parlament angenommen wurde. Obwohl er im Spanienkrieg (1936–1939) ideologisch weit rechts von der Volksfront lag, befürwortete er ein Eingreifen auf Seiten der Republik. Am 7. Oktober 1936 wurde er bei einer Bürgermeister-Versammlung in Gernika zum “Lehendakari“ gewählt, zum Ministerpräsidenten von Euzkadi (nicht Navarra). Zur Verteidigung schuf er mit Euzko Gudarostea eine eigenständige baskische Armee und ließ als Verteidigungswall um Bilbao den “Eisernen Gürtel“ (Cinturón de Hierro) bauen.

Nach der Besetzung seiner baskischen Heimat floh er am 19. Juni 1937 über Paris in den verbleibenden republikanischen Teil Spaniens, im Januar 1939 von Barcelona aus nach Frankreich und Belgien. In Belgien starb eine seiner Schwestern bei einer deutschen Bombardierung. Anschließend hielt sich Aguirre in Berlin versteckt. Noch vor Ende des Weltkriegs gründete er in New York ein baskisches Exil-Parlament, das den Widerstand der Basken neu zu entflammen versuchte. Er unterrichtete seit 1941 an der Columbia University zeitgenössische Geschichte Spaniens. Ab 1945 arbeitete die Exilregierung in Paris. Aguirre starb 1960 in Paris und hinterließ wertvolle literarische und dichterische Werke über die Kultur der Basken.

Aguirre, Lehendakari der baskischen Autonomie-Regierung vom 7. Oktober 1936 bis zu seinem Tod in Paris, war er eine der charismatischsten und wichtigsten Persönlichkeiten der baskischen Geschichte. Im Alter von nur 32 Jahren übernahm er die Leitung einer neuen Regierung und das Kommando über eine Armee von 55.000 Mann, die gegen die von General Mola und Franco angeführten Rebellentruppen kämpfte.

Das Tagebuch von Aguirre

“José Antonio Aguirre Lecube 1998“ - das Tagebuch, das José Antonio Aguirre, Lehendakari der baskischen Regierung während des Spanienkriegs vom 7. Januar 1941 bis zum 28. Mai 1942 schrieb. Das Tagebuch blieb 65 Jahre lang unveröffentlicht, ohne dass einer von Aguirres Biographen es auch nur als Referenz zitiert hätte (Txalaparta-Verlag). (5)

ANMERKUNGEN:

(1) “Los nazis querían coger a Agirre, sí, pero no se esforzaron mucho" (Die Nazis wollten Agirre festnehmen, richtig, aber sie haben sich nicht sonderlich angestrengt), Tageszeitung Gara, 2022-01-21. (LINK)

(2) Lluís Companys (1882-1940), Katalanischer Präsident. (LINK)

(3) Largo Caballero (1869-1946), spanischer Politiker und Gewerkschafter, Vorsitzender von PSOE und UGT, im Spanienkrieg Regierungspräsident und Kriegsminister. (LINK)

(4) Melitón Manzanas (1909-1968) war ein spanischer Polizist während der Diktatur Francisco Francos, Kollaborateur der Gestapo während des Zweiten Weltkriegs und Leiter der Politisch-Sozialen Brigade von Gipuzkoa. Er war ein berüchtigter Folterer von Regime-Gegner*innen und wurde von ETA ermordet, der erste gezielte Anschlag dieser Organisation.

(5) “José Antonio Aguirre Lecube 1998“, Tagebuch von José Antonio Aguirre (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Agirre-Buch (Ediciones B)

(2) Ingo Niebel (naiz)

(3) J.A. Agirre (wikipedia)

(4) Agirre-Buch (txalaparta)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-01-21)

Für den Betrieb unserer Webseite benutzen wir Cookies. Wenn Sie unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen, akzeptieren Sie unseren Einsatz von Cookies. Mehr Information