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Wer hat angefangen?

“Zu einem Streit gehören immer zwei Seiten”, sagen Mütter, wenn sich ihre Kleinen beschweren mit der Beschuldigung: “Der andere hat angefangen”. Konflikte haben immer zwei Seiten. Auch bei Erwachsenen. Und sowieso in der Politik. Im Baskenland scheint es derzeit nur Täter und Opfer zu geben. Täter sind die Pistoleros von ETA, Opfer ist der spanische Staat. ETA hat sich nun zwar aufgelöst, der Opfer-Diskurs geht jedoch weiter mit einer Entschlossenheit, als wären gestern 5.000 Polizeifahrzeuge der Guardia Civil abgebrannt.

Was sagen die Mütter dazu? Konflikte haben zwei Seiten. Gebetsmühlenhaft wiederholen spanische und internationale Medien die Zahl der Opfer des baskischen bewaffneten Kampfes. Eins ums andere Mal. Wo bleiben die Mütter, wo die andere Seite? Kein Wort von Folter. Folter? Die gab es nie, sagen die Herren in Madrid. Die baskische Regierung sieht es realistisch. Sie ließ einen wissenschaftlichen Bericht erstellen. 400 überprüfte Fälle, denen hohe Wahrscheinlichkeit beigemessen wurde. Denn Folter ist unsichtbar. Die Folgen von Vergewaltigung sind unsichtbar, wenn die Verhafteten nach 5 oder 10 Tagen Kontaktsperre einem Richter vorgeführt werden. Von 10.000 Folterfällen ist die Rede. Den Toten von ETA stehen die Toten durch die Hand eines Staates gegenüber, von dem immer weniger behaupten, er sei demokratisch. Ein Staat, der Polizisten, Militärs und Neonazis schickte, um Todesschwadrone zu gründen. Wozu die dienen, wissen wir aus Lateinamerika. Von Spanien ist nichts überliefert. Medien kopieren üblicherweise die Verlautbarungen des Außenministeriums. Dazu die Toten bei Streiks, in die Menge geschossen, bei Demonstrationen, ein Exempel statuieren. Oder die drei Studenten aus Kantabrien, die massakriert wurden, weil sie mit einem ETA-Kommando verwechselt wurden. Davon kein Wort. Das sind kein Opfer, bestenfalls Schatten von Opfern, transparent, bleihaltige Nebelschwaden. ETA hat ihre Laufbahn beendet. Der Staat führt weiter Krieg. Krieg um die Geschichtsinterpretation. Krieg gegen die Angehörigen, die zu Besuchen fahren. Krieg gegen die verbliebenen politischen Gefangenen, denen es heute schlechter geht, als in Zeiten, in denen jährlich 80 spanische Militärs umgebracht wurden. Konfliktlösungshelfer stehen ratlos in der Landschaft, sprechen von einer Weltneuheit. ETA begann einst, gegen eine faschistische Diktatur zu rebellieren. Ihr definitives Ende hat sie verkündet angesichts einer faschistoiden Demokratur.

Gernika und das Wolfsrudel

Der 26. April ist der Tag, an dem im ganzen Baskenland an ein Kriegsereignis aus dem Jahr 1937 erinnert wird: die Vernichtung der baskischen Stadt Gernika durch die Legion Condor der Nazis. In diesem Jahr wurde dieses Gedenken durch ein weiteres Kriegsereignis in den Schatten gestellt: eine Massenvergewaltigung. Im navarrischen Pamplona wurde das Urteil in einem Vergewaltigungsprozess erwartet. Die richterliche Vorlesung führte zu einem Skandal. Eine Vergewaltigung als Krieg zu bezeichnen ist nicht üblich und bedarf deshalb einer Erklärung. Das publizierte Urteil bezog sich auf den Fall einer Massenvergewaltigung bei einer baskischen Fiesta. Fünf Männer vergewaltigten nachts eine junge Frau: anal, oral und vaginal. Mehrfach. Das Ganze wurde mit Handys aufgezeichnet. Offenbar hatten die fünf, die sich Wolfsrudel nennen, eine solche Vergewaltigung geplant, das geht aus Handybotschaften hervor. Als wäre die Tat an und für sich nicht schon schrecklich und verwerflich genug, brachte das Urteil die Volksseele zum Kochen. 22 Jahre Haft hatten Kläger und Staatsanwaltschaft gefordert. Das Gericht – zwei Richter, eine Richterin – hielten neun Jahre für angemessen. Skandalös war jedoch nicht die Anzahl der Jahre, sondern die Urteils-Begründung. Darin wird festgestellt, es habe sich um keine Vergewaltigung gehandelt, sondern um einen fortgesetzten sexuellen Missbrauch. Die Täter (die die Tat angesichts der erdrückenden Beweise nicht abstreiten, sondern die Vergewaltigung als einverständlichen Sex bezeichnen) hätten keine Gewalt angewandt. Das Opfer habe sich nicht gewehrt. Hunderttausende Frauen (und Männer) im gesamten Staat verstanden dieses Argument als Freibrief für künftige Vergewaltigungen. Das Urteil wurde nicht als Einzelfall verstanden, sondern als Ausdruck einer gesellschaftlichen Seuche. Manche nennen die Seuche Machismus, andere sagen dazu Patriarchat. Dieses Patriarchat stellt Frauen nicht nur überall in die zweite Reihe, benachteiligt, bezahlt sie schlechter, verweigert ihnen den Zugang in demokratische Institutionen. Patriarchat übt Gewalt aus. Neben der strukturellen Gewalt, direkte Gewalt. Frauen werden vergewaltigt und ermordet. Cuidad Juarez ist ein Fanal. Wenn Frauen sich wehren, werden sie umgebracht. Angesichts systematischer Gewalt gegen Frauen ist der Begrif Femizid aufgekommen. Der vorliegende Fall mit seinem erschütternden Urteil ist symptomatisch für den Zustand unserer Gesellschaft: es herrscht Krieg gegen Frauen. Ein offiziell nicht erklärter Krieg, aber ein Krieg. Justiz hat – eigentlich – die Aufgabe, zu strafen, zu vermitteln, für Ausgleich zu sorgen. Bei dem geschilderten Fall hat sie sich auf die Seite der Kriegstreiber gestellt. Mehr noch. Einer der drei Richter plädierte auf Freispruch. Seiner Meinung nach habe das Opfer an der Sache Spaß gehabt. Ausgeburt eines perversen maskulinen Zynismus, der nicht zu übertreffen ist. Der gleichzeitig zeigt, wer auf welcher Seite der Kriegsfronten steht.

Fortgesetzter Krieg um Gernika

Die Bombardierung von Gernika war der Beginn einer neuen Kriegsbrutalität, die mit dem Holocaust ins Unermessliche gesteigert wurde und ihre Fortsetzung in zahllosen Nachfolgekriegen und ethnischen Massakern der Moderne findet. Bis heute ist umstritten wie viele Menschen in Gernika am 26. April 1937 den Tod fanden. Manche sprechen von „etwa 15“, etwas seriösere Stimmen von bis zu 2.500. Um 81 Jahre nach dem Kriegsverbrechen zur Klärung dieser Frage beizutragen, schlug die Opposition im spanischen Parlament einen Kongress vor, zu dem namhafte Historiker eingeladen werden sollten.Die in Madrid regierenden Postfranquisten lehnten dies ab mit der Begründung, der damalige Krieg werde immer „einseitig und tendenziös“ betrachtet. Das müssen sich die vorwerfen lassen, die seit Jahrzehnten eine Aufklärung fordern, die nie stattfand. Jene, die dafür arbeiten, dass die Erschießung von 1.700 Personen in Camp de la Bota bei Barcelona nach 80 Jahren einfach nur anerkannt wird. Anerkannt! Denn nicht einmal Anerkennung gibt es in einem Staat, der sich seit vierzig Jahren „demokratisch“ nennt. „Einseitig und tendenziös“ sollen jene sein, die – wie die UNO – die Suche nach den verbleibenden 140.000 Leichen in Massengräbern auf spanischem Boden befürworten. Aufklärung ist „einseitig”. Die Wahrheit ist „tendenziös“. Die das fordern „zersetzen”den Staat. Es ist nachvollziehbar, dass die Nachkommen der Mörder und Kriegsverbrecher ihre Familienehre verteidigen. Dafür sollten sie wenigstens nicht mehr „Demokraten“ genannt werden, sondern das, was sie sind. Auch 79 Jahre nach Ende des Krieges ist der Krieg nicht zu Ende. Auch 43 Jahre nach dem Tod des Massenmörders ist die Diktatur nicht zu Ende. Als Gernika vernichtet wurde, sagten die Faschisten, es seien die Basken selbst gewesen, eine Kriegslist. Keine postdiktatoriale Regierung hat es geschafft, diese Lüge zu revidieren, die Wahrheit anzuerkennen und sich womöglich eine symbolische Geste der Wiedergutmachung aus den Rippen zu schneiden. Es war Krieg. Es ist Krieg. Krieg um die Geschichtsschreibung. Die Franco-Stiftung hat in diesem Krieg ein gewichtiges Wort mitzureden. 2018 – 43 Jahre nach dem Tod des Massenmörders.

Drei Angriffe

Der 31. März 1937 war ein schwarzer Tag für Durango. Gleich drei Mal wurde der Ort aus der Luft angegriffen, ohne auch nur die geringste Möglichkeit der Verteidigung zu haben. Es herrschte Krieg im spanischen Staat, die Faschisten hatten eben mit einer Offenisve an der Nordfront begonnen. Nordfront, das war zuallererst Durango. Der Osten war bereits in der Hand der Aufständischen um Franco, der Westen sollte unterworfen werden. Früh um sieben Uhr dreißig ist eine fatale Zeit für einen Fliegerangriff. Die einen liegen noch im Bett, die anderen beten schon bei der Frühmesse und die dritten arbeiten unter einem Dach. Es war der erste Angriff seit langem, deshalb nahmen die wenigsten die Alarmsirene Ernst. Als der Angriff rollte war es zu spät. Viele Tote gab es in den Kirchen und Klöstern. Die Faschisten nannten sich Nationalkatholiken, aber sie waren eben Faschisten. Über die Zahl von 336 Toten wird nicht gestritten. Bei Gernika ist das anders. Alles ist anders. Im Fall von Durango mussten die Franquisten nicht zur Lüge greifen, es wären die Basken selbst gewesen. In Durango war genug Zeit, die Toten zu zählen und zu begraben. In Durango war keine ausländische Presse, die die Nachricht sofort um den Erdball beförderte. In Durango war alles anders als in Gernika. Gernika hatte einen Picasso, Durango blieb die vergessene Bombardierung. Von Gernika heißt es, in der Kriegsgeschichte sei es der erste massive Luftangriff auf eine Zivibevölkerung gewesen. 336 Tote waren offenbar nicht genug, um den Begriff “massiv” zu rechtfertigen. Durango wurde 26 Tage vor Gernika zerstört. Gernika kennt alle Welt bis nach Hiroshima. Durango ist der vergessene Massenmord aus der Luft.

Friedensprozess

Ein Prozess ist – ein in mehreren Etappen ablaufender Vorgang oder ein Gerichtsverfahren. X ist Friedensaktivist und hatte neulich seinen Friedensprozess. Im Hafen war er über einen Zaun geklettert und hatte an einem Gabelstapler die Reifen zerstochen, der zum Verladen von Rüstungsgütern nach Saudi Arabien benutzt wurde. Das Land führt Krieg gegen den Nachbarn Jemen, besonders betroffen ist die Zivilbevölkerung. Als Friedensaktivist agiert X gewaltfrei. Festgenommen wurde er von der im Hafen zuständigen Guardia Civil Polizei. Auf dem Weg zum Untersuchungs-Gefängnis wurde er geschlagen von den Beamten, zu deren Aufgabe Gewaltfreiheit nicht gehört, sondern die Anwendung von Brutalität aller Art, bis hin zu Folter. Beim Friedensprozess machte X geltend, seine Aktion sei symbolisch gewesen und gewaltfrei abgelaufen. Der Staatsanwalt hingegen bezeichnete das Zerstechen von Reifen als Gewaltakt und forderte eine Gefängnisstrafe von drei Jahren. Erschwerend komme nämlich hinzu, dass die Tat auf einem sensiblen Gelände stattgefunden und die Sicherheit des Landes in Frage gestellt habe. Die Frage, welche Waffen der Staat an welche Länder liefere, sei nicht Angelegenheit des “verbohrten und radikalisierten” Angeklagten. Xs Aussage, er sei während des Transports misshandelt worden, bezeichnete der Staatsanwalt als “Frechheit”, dafür müsse X mit einer weiteren Strafanzeige rechnen wegen Verleumdung staatlicher Funktionsträger. Der Richter machte sich die Strafforderung zu eigen und sprach das entsprechende Urteil. Wochen später wurde über die Presse bekannt, dass der Richter ein halbes Jahr zuvor von der Guardia Civil einen Orden für besondere Verdienste in der Justiz erhalten hatte. Überreicht wurde ihm der Orden von einem pensionierten Beamten, der 20 Jahre zuvor wegen Folter an einem Gefangenen verurteilt worden war. Das Oberste Gericht des Landes hatte die Strafe damals deutlich reduziert, der Verurteilte musste seine Strafe nie antreten und wurde danach zwei Mal befördert.

Philosophie und direkte Aktion

Im Straßencafe sitzen, einen gemütlichen Tee trinken, den Vorbeigehenden nachschauen und über den Nachmittag philosophieren. Und dann von der Seite … einen kräftigen Faustschlag erhalten. Nein, kein Unfall, niemand ist unglücklich ausgerutscht. Volle Absicht. Der Faustschläger hat zudem einen Freund mitgebracht, der alles mit dem Handy filmt, um es gleich ins Netz zu stellen. Doch dieses Detail entgeht dem Philosophen, der perplex aufzustehen versucht, um sich schnellstens zu verkrümeln. Geschichten von dem, was viele Sport nennen, Fußball im konkreten Fall. Sevilla besucht Bilbao, könnte die Legende lauten, mit allem, was dazu gehört. Die Agression sah ich im Fernsehen, fast live, dank der prompten Berichterstattung. Ich kannte den Ort, sitze selbst gelegentlich an dieser Stelle. Nicht nur deshalb hat mich der Vorfall, der ohne physische Folgen blieb, besonders beeindruckt. Sich einer Gefahr oder Bedrohung bewusst zu sein ist eine Sache. In diesem Fall gab es weder Vorahnung noch Warnung. Direkte Aktion. Zufall, dass es dich getroffen hat und nicht die Konsumentin vorher. Apropos: für Frauen sind Agressionen dieser und anderer Art Lebensalltag. Immer zu erwarten, jeden Augenblick zu befürchten. Dem Philosophen half es nichts, ein Mann zu sein.

Masochisten wie du und ich

Ob ich ein Masochist sei - fragte mich vor Jahren ein Freund aus Bilbao. Weil ich doch so viel an der Aufarbeitung der Nazigeschichte im Baskenland arbeite. Er war nicht gerade ein Politaktivist, aber immerhin Historiker. Als Deutscher, der sich hartnäckig mit der Nazigeschichte auseinandersetzt war ich verdächtig geworden. Ich war von der Frage überrascht und hatte Mühe, mehr als Plattitüden zur antworten. Masochisten sind solche, die sich selbst oder das Eigene gerne quälen. Wer sich zu lange kritisch mit der Geschichte des eigenen Landes auseinandersetzt, auch wenn es sich um die politische Antipode handelt, fällt unter Masochismus-Verdacht. Ich fragte mich, ob ich bei dieser Tätigkeit besondere Lust verspürte. Kam aber zu dem Schluss, dass meine Insistenz eher der Tatsache entsprang, dass zu wenige an dieser notwendigen Arbeit beteiligt sind. Das Eigene, Nahe, Lokale oder Regionale, sei es politisch auch noch so entfernt, erfährt häufig einen Schutzrabatt. Diese rote Linie hatte ich offenbar überschritten. Als ich in einer anderen Situation – umgekehrt – das baskische Gesundheitssystem kritisierte – ich, der “Außenstehende” – erhielt ich heftigen Widerspruch, ohne jegliches sachliches Argument. Erneut die rote Linie, diesmal von der anderen Seite her. Im Fußball sind es “Lokalderbys”, die die größte Emotion und Feindschaft hervorbringen. Also Vorsicht vor dem Nahen, Eigenen und scheinbar Vertrauten. Und vor den Tabus.

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2018-03-01)

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