covid11a 1
Was ist hier schon normal!

Am Montag 11. Mai treten alle jene spanischen Regionen, die den Höhepunkt der Coronavirus-Pandemie überwunden haben, in die sogenannte Phase Eins. Dazu gehört auch das Baskenland, nicht jedoch Madrid und Barcelona, die weiterhin um die Eindämmung der Epidemie zu kämpfen haben. Erste Gaststätten können wieder öffnen, der Ausgang wird auf den ganzen Tag verlängert, allerdings dürfen die Stadtgrenzen nicht verlassen werden. Lockerung des Einschlusses bedeutet jedoch auch die Gefahr einer zweiten Welle.

Die elfte Woche der Coronavirus-Pandemie im Baskenland bedeutet weitere Lockerungs-Maßnahmen innerhalb des Alarm-Zustands, der vor Tagen bis Ende Mai verlängert wurde. Wie die Lockerungen im Detail aussehen, entscheidet nunmehr die baskische Regierung.

(2020-05-10)

57. Tag Alarm – 11. Woche C19

WIEDER GRÜSST DAS MURMELTIER

covid11a 2Es ist wie in der Schule: nur wer die Prüfung besteht, darf in die nächste Klassenstufe aufsteigen. In diesem Fall werden die Stufen Phasen genannt. Nach der bestandenen Nuller-Phase sind das Baskenland und Navarra in die Einser-Phase aufgestiegen. Alle Läden können öffnen, auch erste Kneipen, alles mit Personen-Limits. Die erste Woche Lockerungs-Maßnahmen hat gezeigt, dass viele ohne Polizeikontrolle nicht Maß halten können und sofort zu alten Gewohnheiten zurückkehren: Saufgelage auf der Straße, ein kleiner Kick mit Körperkontakt, und überhaupt: körperliche Distanz ist bereits wieder ein Fremdwort. Dazu kommt, dass alle zu gleicher Zeit am selben Ort spazieren gehen müssen (der bekannte baskische Herdentrieb). Das wird sich im besten Fall ändern, wenn die Zeitphasen für die Altersgruppen künftig wegfallen.

Weitere Neuerung: Mit der Drohung, der Verlängerung des Alarm-Zustands nicht mehr zuzustimmen, hat die baskische Regierung eine Ko-Verwaltung erzwungen. Das bedeutet, dass die künftigen Ausgangs-Details nicht mehr in Madrid, sondern in Gasteiz beschlossen werden. Erster Unterschied: In den zur Phase Eins freigegebenen Regionen können sich alle innerhalb der Provinzgrenzen bewegen, nur im Baskenland nicht. Hier gilt die Stadt als Limit für Spaziergänge, Wanderungen und Reisen. Warum die baskische Regierung nach zuvor so viel Eigenlob nun die Zügel anzieht, versteht niemand. Ist aber auch egal. Wir dürfen uns endlich wieder ins Auto setzen und zum Zigarettenholen in den nächsten Stadtteil fahren. Dass der Bürgermeister von Bilbao allgemein eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h verordnet hat, beraubt die Essenszusteller ihrer zuletzt erlangten Freiheit, als neue Asphalt-Cowboys mit Hochgeschwindigkeit durch die verlassenen Alleen zu düsen. Nur kontrollieren wird es niemand. Die Entschleunigung ist zu Ende.

KLIMAWECHSEL

covid11a 3Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit hat in Hego Euskal Herria (Süd-Baskenland, also Euskadi und Navarra) zu einer deutlichen Verbesserung der Luftqualität in den vier Hauptstädten geführt. Dies zeigen die Zahlen der Umwelt-Organisation Ekologistak Martxan (Ökologinnen in Aktion). Die Daten besagen, dass die urbane Luftverschmutzung in Gasteiz (Vitoria) um 58% abgenommen hat, in Iruñea (Pamplona) um 54%, in Donostia (San Sebastian) um 49% und in Bilbo um 46%. Nach Ansicht von Ekologistak Martxan macht die Coronavirus-Krise deutlich, dass die strukturelle Reduzierung des Straßenverkehrs und Änderungen in der Mobilitäts-Politik bestens geeignet sind, “die Luftverschmutzung zu senken, auch wenn wir uns der Ausnahmesituation bewusst sind, in der wir uns befinden“. EM plädiert dafür, auch in der Lockerungs-Phase die neuen positiven Gewohnheiten beizubehalten, wie den Einkauf in der Nähe, die freiwillige Telearbeit und die elektronische Verwaltung. Gleichzeitig sollte die Geschwindigkeit auf öffentlichen Straßen auf 30 Stundenkilometer beschränkt und die Mobilität von Fußgängerinnen und Radfahrerinnen gefördert werden, der öffentliche Transport müsse mit neuen Subventionen garantiert werden. The times they are a changing.

(2020-05-11)

58. Tag Alarm – 11. Woche C19

BASKISCHE NORMALITÄT

Schon nach wenigen Stunden “Normalzustand“, der heute wieder begonnen hat, kann festgestellt werden, dass sich alles bereits wieder an den Grenzen bewegt: Autoschlange in der Altstadt, alle rasen, als hätten sie etwas nachzuholen, KM 30 in der Stadt ist Utopie, in den wieder eröffneten Straßencafes herrscht alles nur nicht Mindestabstand. Fatale Haltung der Mehrheit: an die Grenze des Erlaubten gehen, und dann noch einen Schritt weiter.

covid11b 1GEKAUFT

Immer deutlicher wird, dass dieser Normalzustand von der baskischen Regierung “gekauft“ wurde. Mit der Zustimmung für eine Verlängerung des Alarm-Zustands im spanischen Parlament. Die Methode ist alt in der baskischen Politik, es geht nicht um Inhalte, sondern um: ich geb dir – was gibst du mir. Geschachere und Dealereien. In diesem Fall wollten die PNV-Basken mehr Mitbestimmung bei den Entscheidungen zu Coronavirus. Eigentlich nachvollziehbar. Denn je näher die Behörde, die etwas zu entscheiden hat, desto realistischer und vernünftiger fällt die Entscheidung aus. Aber weit gefehlt. Die PNV-Basken spielen ein Doppelspiel. Erstens wollen sie noch im Juli regionale Wahlen durchführen lassen (was alle anderen Parteien ablehnen). Zweitens wollten sie (natürlich) bei den Lockerungs-Maßnahmen in die Phase Eins aufsteigen.

Vorweg sei bemerkt, dass nicht alle spanischen Regionen und Metropolen in Phase Eins kamen. In Madrid und Barcelona, sowie in Provinzen in Andalusien und Castilla gilt weiter die Ausgangssperre. Weil die C19-Zahlen und die Situation im Gesundheitssystem fragwürdig sind. Euskadi hat den Zuschlag zur Phase Eins erhalten, oder besser: erkauft. Die Zahlen anderer Regionen sind besser als die baskischen, aufsteigen durften sie dennoch nicht. Araba und Gipuzkoa erfüllten die Bedingungen, Bizkaia nicht. Klar ist: Euskadi hatte die schlechteren Zahlen, aber die PNV die notwendigen Stimmen für die Verlängerung von Sanchez.

DER HALBE RÜCKZIEHER

Nun die Überraschung: Die baskische Regierung hat von ihrem Recht zur Ko-Regierung, wie es neuerdings so schön heißt, nur zur Hälfte Gebrauch gemacht. Das liegt daran, dass die von Sanchez abgenickten baskischen Zahlen in Wirklichkeit so besorgniserregend sind, dass Phase Eins übertrieben wäre. Weil jedoch auch die PNV-Basken keinen Rückfall erleben wollen, habe sie eine neue Phase erfunden: die Phase Null Komma Fünf. Das heißt: in Euskadi gelten nicht die Provinzgrenzen als Limits für die Bewegungsfreiheit, sondern die Stadtgrenzen. In den baskischen Krisenzentren – Gasteiz und der Industriegürtel um Bilbao – stehen die Covid-Aktien noch ziemlich schlecht. Deshalb die Kollektivstrafe für alle, mit oder ohne Pandemie, denn nach wie vor gibt es kleine Orte unter tausend Einwohnerinnen, die keine Ansteckungen kennen. Auch sie bleiben jedoch eingeschlossen, wie wir Durchgefallenen in Bilbao. Mit dem Unterschied, dass das Stadtgebiet deutlich größer ist, in Bilbao kann ich mich ohne Probleme 10 Kilometer weit bewegen, ohne die Stadtgrenze zu überschreiten. In Larrabetzu, Fika oder Urduliz jedoch nicht. Wieder mal eine Arschkarte.

covid11b 2UNBEDINGT WÄHLEN LASSEN

Mehrfach in der jüngeren Vergangenheit wurde deutlich, wie die baskischen Verantwortlichen die Covid-Zahlen manipulieren. Wenn Wahlen anstehen, stellt sich die Frage, ob und wie die Manipulationen in der baskischen Bevölkerung wahrgenommen werden und inwiefern das schlechte Krisen-Management das Wahlverhalten beeinflusst. Die PNV hat ihre Soziologen, Strategen und Fabulierer längst in Stellung gebracht, bis in das öffentliche Fernsehen. Mit Stimmen für Alarm wurden die Wahlen gekauft. Für Juli. Während es keine Konzerte, Fiestas und andere Massenveranstaltungen geben darf sollen Wahlen durchgeführt werden. 100% Briefwahl wäre immerhin ein Hit für das Guinness-Buch der Rekorde.

Bleibt der schwarze Humor. Die baskische Regierung werde nur Stimmzettel für die PNV auslegen, um Coronavirus-Infektionen zu vermeiden. In Navarra, das sei am Rande bemerkt, kann ab heute wieder von den Pyrenäen bis zum Ebro gereist werden. Macht 170 Kilometer. Das Baskenland bleibt weiter geteilt. Wir harren in Bilbao aus. Olatz

(2020-05-12)

59. Tag Alarm – 11. Woche C19

HORROR-FORTSCHRITTE

covid11c 3Was zum Tag der Hoffnung hätte werden können, wurde zum Horror: der erste Lockerungstag. Trotz aller nach wie vor bestehenden Einschränkungen schwappten viele Mitbürgerinnen direkt in den vorherigen Alltag zurück. Kein Halten. Der Autoverkehr vervielfacht. Raserei ohne Rücksicht auf 30 kmh. Straßencafes geöffnet, ohne Mindestabstand. Jugendliche, die sich zum Saufen auf der Straße treffen (erwischt, Strafe). Die Beamten mussten von der Telearbeit zurück in die Büros, sind davon alles andere als begeistert und haben keine Ahnung, wann das Publikum wieder zugelassen werden soll. Auskünfte im schrillen Ton des Coronafiebers. Die Dealer in den Arbeiter-Vierteln haben ihre Straßenpositionen wieder eingenommen, die Müllsammler räumen Container aus. Die Straßen der Altstadt voll, Menschenschlangen wie nie zuvor in der C19-Zeit. Alle auf dem Weg zum Einkauf ihres Lebens. Weil ich in der Seniorenzeit ohne Maske zu einer Pressekonferenz ging, wurde ich beglotzt wie eine Außerirdische.

Also bitte, so nicht, ich will zurück zu Phase Null! Vor meinem inneren Auge vollzieht sich bereits der Rollback, der Rückfall, die zweite Covid-Welle, von der viele sagen, dass sie schlimmer sein wird als die erste, ich möchte gerne wissen warum. Die acht Seiten Kreuzworträtsel, Suchbilder, Zahlenpyramiden und Symbolfolgen in der meistgelesenen Tageszeitung lassen sich nicht anders interpretieren, als dass uns noch viel bevorsteht, ziemlich viel. Dieser 58. Tag war der schlimmste des gesamten Einschlusses, kein Zweifel. Ich hoffe, nicht eines Tages sagen zu müssen: ich habe es gewusst. Dazu passen Nachrichten aus Südkorea, wo durch Disco-Besuche neue Infektionswellen provoziert wurden. Auch in Deutschland hat die neue Lässigkeit zu einer Erhöhung des Verbreitungs-Faktors über eins geführt.

STRESSFAKTOR

Vielleicht ist es nur mein persönlicher Stressfaktor, der verrückt spielt. Vielleicht habe ich mich in zwei Monaten zu sehr an die Langsamkeit, die Leere, die Stille und an das Vogelgezwitscher gewöhnt. Nun der Kollateralschaden der Lockerung. Ein Blick in die Zeitung, in die Nachrichten macht deutlich, dass ich nicht allein auf dem Weg ins Chaos bin. Die berüchtigte baskische Ko-Regierung beschließt heute Maßnahmen und nimmt sie morgen wieder zurück. Heute wären Versammlungen von 10 Personen in geschlossenen Räumen möglich gewesen, morgen schon nicht mehr. Viele wissen nicht mehr, was erlaubt ist und was verboten.

Und in Spanien? In Sevilla wurden 86 Teilnehmer eines – auch in covid-freien Zeiten illegalen Hahnenkampfes – kurzfristig festgenommen; ich stelle mir ganz selbstverständlich vor, dass diese Typen die neofranquistische Vox-Partei gewählt haben. Die halbstaatliche Fluggesellschaft Iberia führte einen Flug durch mit voll besetzter Maschine, die Fluggäste protestierten heftig und filmten die Situation, die Guardia Civil ermittelt. Keine Ausnahmen.

covid11c 2UND DIE SCHULEN

Navarra hat die Militäraufmärsche erlebt, scheint nun aber entspannter in die Zukunft zu schauen. Mehr Bewegung erlaubt. In Iparralde, dem französischen Teil des Baskenlandes, beginnen demnächst die Schulen wieder mit ihrer Mission. Weil die marginale Region nicht stark befallen war, fällt die Antwort der Schulverantwortlichen moderat aus.

Den drei Euskadi-Provinzen steht ein anderes Panorama bevor. Die Wir-wollen-Wahlen-Regierung hat die Wiederaufnahme des Unterrichts für Oberstufen-Schülerinnen angeordnet. Eltern und Lehrerinnen sind davon gar nicht begeistert. “Im Fußball werden Tests gemacht bei allen Beteiligten, in der Schule weder bei den Schülerinnen noch bei den Lehrerinnen. Was ist die Begründung für so unterschiedliche Kriterien?“ fragt sich eine Lehrerin. Sie muss sich die Antwort selbst geben, denn eine vernünftige Antwort gibt es nicht, erst recht nicht von denen, die die Entscheidung getroffen haben. Gestern dachte ich noch an die Möglichkeit eines neuen Schulstreiks. Heute gehe ich davon aus, dass die PNV auch diese Entscheidung zurücknehmen wird. Denn ausgerechnet der Verband der christlichen Schulen (eigentlich minoritär) hat sich deutlich gegen den Wiederbeginn ausgesprochen. Ausgerechnet die kleine einflussreiche Minderheit. Die kann nur beruhigt werden mit gefälligen Versprechen für die Zukunft, oder mit Partei-Ausschluss-Verfahren.

Einzig positive Nachricht: im nahen Getxo wird ein altes Autokino neu eröffnet. Ich ziehe meine Decke über den Kopf, nichts sehen, nichts hören – bis alles vorbei ist. Olatz

(2020-05-13)

60. Tag Alarm – 11. Woche C19

HÖHLE DER LÖWINNEN

Wenn Politiker Besuche machen, wollen sie fotografiert werden mit lachenden und zufriedenen Bürgerinnen. Der baskische Ministerpräsident hat gestern jene Heldinnen des Gesundheitswesens besucht, die jeden Abend um 20 Uhr von den Balkonen des gesamten Baskenlandes aus beklatscht werden für ihren Einsatz, der über das schlicht berufliche weit hinaus geht. Diese Personen arbeiten an vorderster Front gegen den Virus, dabei setzen sie ihre Gesundheit aufs Spiel und die ihrer Familien, wenn sie nach Hause kommen. In diesem Fall wurde der Besuch des Lehendakaris zum Rohrkrepierer.

covid11c 1Statt zufriedene und lachende Gesundheitsbedienstete vorzufinden, trafen Urkullu und die für Gesundheit verantwortliche Senatorin Nekane Murga im Krankenhaus Barakaldo auf kritische Gewerkschafterinnen und ein zutiefst unzufriedenes Personal. Noch bevor im öffentlichen Fernsehen entschieden werden konnte, ob die mit Handy gefilmten Videoszenen gezeigt oder zensiert werden sollten, gingen die Aufnahmen breit durch die sozialen Medien. Auch ohne Teleberri-Nachrichten wussten alle Bescheid (die Bescheid wissen wollten).

Dutzende von Personen des Pflegepersonals ließen sich die Gelegenheit nicht entgehen, auf die unverantwortlich schlechte Arbeits-Situation des Personals hinzuweisen. In den Krankenhäusern wird geschuftet und gestorben, die Regierungs-Propaganda malt ein positives Bild mit Erfolgen am laufenden Meter. Die Protestierenden machten deutlich, dass die unerträglichen Situationen in den Krankenhäusern zum großen Teil vermeidbar waren. Doch stellte die Partei des Ministerpräsidenten (PNV) die wirtschaftlichen Interessen und Wahl-Kalküle über die Gesundheit der Bediensteten von Osakidetza und der Bevölkerung in Euskadi. Folgerichtig wurde auf Plakaten der Rücktritt der Senatorin gefordert.

Der ebenfalls anwesende Osakidetza-Chef versuchte zwar, eine direkte Begegnung zu verhindern, dennoch gelang es Gewerkschafterinnen, dem Regierungschef ihre Kritik persönlich mitzuteilen und deutlich zu machen, dass die fehlende Sicherheit der Bediensteten in seiner Verantwortung liege. “Wir beklagen den Versuch, die freie Meinungsäußerung und unsere Rechte zu begrenzen. Urkullu, Murga und Diego wollten das Bild der guten Hirten wiederholen, was ihnen besonders gefällt, mit lachenden und zufriedenen Pflegerinnen, die dankbar sind für den Besuch. Die Empörung der Bediensteten bei Osakidetza sollte einmal mehr versteckt werden. Dieser Spielzug hat nicht geklappt, sie mussten sich unsere Entrüstung anhören.“ Beugen musste sich denn auch die TV-Nachrichten-Redaktion, ein kurzer Filmbericht schilderte die Begegnung.

ERSTE DEMO OHNE MICH

covid11c 4Die Karten sind ungleich verteilt. Die einen bestimmen, wer zu Hause bleiben muss, die andern sind draußen und kontrollieren. Ideale Situation, ungeliebten Projekten den Garaus zu machen. Den vielen besetzten Zentren zum Beispiel, auf Baskisch Gaztetxeak genannt. Vor Tagen wurde in der Hauptstadt Gasteiz das feministische Talka-Zentrum geräumt, das immerhin ein Jahr auf dem Buckel hatte. Vor zwei Tagen war ein Squat in Getxo-Romo dran, nachts um elf, als die Ausgangssperre alle Nichtpolizisten von der Straße abhielt. Ein Gaztetxe in einem Block, der abgerissen werden soll (gazte + etxe = Jugend + Haus). Staats- und Polizeimacht haben mit dem Alarm-Zustand alle Möglichkeiten der Welt. Solche Aktionen führen normalerweise sofort zu Reaktionen auf der Straße, nun haben sie nichts zu befürchten.

Oder doch! Am Tag nach der Räumung hat sich Spektakuläres ereignet. Eine Protest-Demonstration nach allen neuen Regeln des Coronavirus marschierte die Romo-Straßen ab. Von der Polizei genehmigt gingen die Protestierenden in zwei Reihen und säuberlich voneinander getrennt durch die engen Gassen des Stadtteils, um sich auf einem Platz zu versammlen. Ein neuer Anfang.

(2020-05-14)

61. Tag Alarm – 11. Woche C19

WER HAT RECHT?

Medizinerinnen aus Bizkaia befürchten, dass die in den vergangenen Tagen häufig beobachteten Kneipen-Exzesse ein negatives Nachspiel haben. Nachdem Kinder seit fast zwei Wochen kurzen Ausgang haben, hat sich die Zahl der Ansteckungen der Kleinen vervielfacht. Schlechte Corona-Zahlen schreibt nach wie vor der Großraum Bilbao: in Barakaldo, Portugalete und der Hauptstadt selbst ist das Virus nur schwer in den Griff zu bekommen. Nach der Entdeckung des R-Faktors (Zahl der Ansteckungen pro Person) ist in den Nachrichten nun von der Herden-Immunität die Rede. Die Pandemie kann als überwunden gelten, wenn entweder ein Impfstoff vorhanden ist, oder wenn mehr als 60% der Bevölkerung als Reaktion auf den Virus Antikörper gebildet hat und immun ist. Dabei schneiden die baskischen Süd-Provinzen schlecht ab. Gipuzkoa liegt bei 3%, Bizkaia und Navarra bei 5%, nur das schwer gebeutelte Araba hat 9% kollektive Immunität erreicht. Deshalb fragen manche, ob das schwedische Modell nicht doch besser gewesen wäre. Hätte, würde, müsste …

covid11d 1Ein Anruf bei meiner alten Freundin endete etwas surrealistisch. Ich klagte ihr meine Beobachtungen, dass in dieser Stadt fast niemand die notwendige Distanz einhält, die Raserei auf der Straße wieder begonnen hat, und viele nichts besseres zu tun haben, als zum Tattoo-Shop und zur Friseurin zu gehen, sich Maniküre machen zu lassen oder der neuesten Mode hinterher zu hecheln. Sie reagierte überraschend schroff. “Was erwartest du? Für meine Begriffe reagieren die Leute normal. Sie tun das, was sie in Jahrzehnten gelernt haben, was ihnen ein ganzes Leben lang eingetrichtert wurde. Du kannst es Gehirnwäsche nennen, aber das ist die Realität. Bei der ersten Gelegenheit wieder auf den Konsumzug zu springen ist die normalste Sache der Welt. Dazu wurden wir erzogen, darauf basiert diese Gesellschaft. Ich kaufe also bin ich. Konsum ist das neoliberale Adrenalin, das die große Mehrheit hier auf Trab hält. Damit müssen wir uns abfinden, solange wir keine wirklichen Alternativen zu bieten haben. Du verurteilst die Tussi, die sich die Maniküre machen lässt, anstatt die Peseten in die Solikasse für die Hunger Leidenden zu legen. Das ist absurd. Du bist im Unrecht, die Tussi hingegen erfüllt ihren sozialen Auftrag in der neoliberalen Gesellschaft. Sie bringt die Wirtschaft wieder in Gang, egal an welchem Extrempunkt. Davon lebt der Kapitalismus. Konsum ist die Essenz des Lebens. Wer dieses System des unkritischen und umwelt-vernichtenden Konsums ablehnt, sollte sich dennoch nicht über die anderen stellen!“ Bumm, da war ich aber platt!

(2020-05-15)

62. Tag Alarm – 11. Woche C19

POLIZEISTAAT

covid11e 1Die heutigen Nachrichten sind nicht positiv und haben nur indirekt mit dem Coronavirus zu tun. Polizeistaat, Polizeirepression. Bei Spaziergang gestern Abend gingen wir im Stadtteil San Francisco durch ein Spalier von etwa 50 Polizisten, die mit mehr als zehn Fahrzeugen präsent waren, die Mehrheit Sondereinsatz-Kommandos, dazu Stadtpolizisten. Von getarnten Zivilpolizisten ganz zu schweigen. In der Straße war es ruhig, wenig Leute waren zu sehen. Ausnahmezustand.

Im entfernten Gefängnis von Murcia wurde der baskische politische Gefangene Patxi Ruiz seit langem mit Schlägen und Schikanen in eine verzweifelte Notwehr getrieben. Bereits mehrfach hat er sich den Unterarm aufgeschlitzt, nicht um sich umzubringen, sondern um auf die Krankenstation gebracht zu werden. Seit mehr als zwei Monaten erhalten die Gefangenen keine Besuche mehr, sind also vollends isoliert. Nun hat Ruiz einen Hunger- und Durststreik begonnen. Die Gefängnisleitung ignoriert den Streik, dafür haben verschiedene Personen wieder angefangen, auf der Straße zu protestieren. In Pamplona zum Beispiel, dem Ursprungsort des Gefangenen, vorschriftsmäßig und mit Sicherheitsabstand zwischen den Teilnehmerinnen.

covid11e 2Polizeistaat in Vitoria-Gasteiz. Vergangene Woche hat die baskische Ertzaintza-Polizei versucht, ein feministisches Besetzungs-Projekt TALKA in der Altstadt zu verbarrikadieren. Weil das gescheitert ist kamen sie heute früh wieder, machten das Lokal dicht und verhafteten zwei Frauen, die sich dort befanden. Die linke Gewerkschaft LAB kritisiert diese Räumung ebenso wie die Räumung einer leerstehend-besetzten Fabrik und eines weiteren besetzten Jugendhauses. “Mit dem Vorwand der Gesundheits-Krise befiehlt die (rechte) PNV Angriffe gegen selbstverwaltete Initiativen. Ihre Vorgehensweise ist nichts anderes als politische Gewalt im Sinne des Kapitalismus, seiner wirtschaftlichen Eliten, der Privatisierung und der Spekulation. Dabei soll Angst verbreitet und die Polizei-Brutalität gerechtfertigt werden. Gerade in diesem entscheidenden Moment sind kollektive und selbstverwaltete Freiräume wichtiger denn je. Um uns zu organisieren und Alternativen zu entwickeln gegen die kapitalistischen Angriffe.“

In der Presse wird gemeldet, dass bei der berüchtigten Ertzaintza drei Untersuchungen wegen Missbrauch von Amtsgewalt laufen, unter anderem wegen des brutalen und rassistischen Vorgehens im Bilbo-Stadtteil San Francisco gegen einen jungen Marokkaner und seine Mutter. Die Polizeigewerkschaft wird alles tun, die Untersuchungen zu stoppen. Demokratische Instanzen zur Kontrolle der Sicherheitskräfte gibt es derzeit weniger denn je. Die Kontrolle der Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus stellen eine ideale Ausrede dar für verbale und physische Gewaltakte jeglicher Art. Dabei wird nur dort kontrolliert, wo ein politisches Interesse besteht, Personengruppen oder ganze Stadtteile zu stigmatisieren. Es droht kein Polizeistaat, es ist der Polizeistaat.

(2020-05-16)

63. Tag Alarm – 11. Woche C19

JAIAK – FIESTAS

Am gestrigen Freitag teilten die Bürgermeister der Hauptstädte Euskadis mit, dass die großen Sommerfeste ausfallen werden: in Bilbo, Donostia und Gasteiz. Wer etwas anderes erwartet hatte, läuft Illusionen hinterher. Dennoch war die Enttäuschung groß. Denn die Jaiak im Baskenland sind nicht nur Konsum von Bier, Kalimotxo und Kultur, es ist auch eine Gelegenheit zur Begegnung. Und für viele politisch arbeitende Gruppen ist es eine einmalige Einnahmequelle zur Finanzierung ihrer Aktivitäten quer durch das Jahr.

covid11f 2Ohne Coronavirus wäre heute im geschundenen Stadtteil San Francisco das Frühlingsfest der baskischen Sprache organisiert worden. Weil die Lockerungs-Maßnahmen distanzierte Kundgebungen wieder möglich machen, rief die Fiesta-Kommission des Barrios zu einem Stelldichein auf. Meine erste politische Aktion auf der Straße seit mehr als zwei Monaten! Ich holte meine verstaubte Fotokamera aus dem Schrank – und wurde maßlos enttäuscht. Statt Fest erlebte ich eine lahme Masse von 40 Personen, statt Frühling war ich mit einer beerdigungsähnlichen Stille konfrontiert. Stehen und ein Plakat hochhalten mit Selbstverpflichtungen für das Euskara. Beim abschließenden Lied fiel den meisten der Text nicht mehr ein. Was ein erster Aufschrei nach dem Einschluss sein sollte – “wir lassen uns unser Frühlingsfest nicht nehmen“ – wurde zum Beerdigungszug zweiter Klasse. Von den Balkonen, auf denen üblicherweise um 20 Uhr die Pflegekräfte beklatscht werden, gab es keinerlei Reaktion. Selbst die sonst gerade in San Francisco allgegenwärtige Polizei nahm die Geschichte nicht ernst und glänzte durch Abwesenheit. Ich musste mich wort- und grußlos zurückziehen. Dieser Neubeginn ging voll daneben!

covid11f 3ZWEITER VERSUCH

Der zweite Versuch am selben Tag hatte wenig von Fiesta und gar nichts von Beerdigung. Die Motivation war rein politisch. Der baskische politische Gefangene Patxi Ruiz ist seit sechs Tagen im Streik gegen die üble Behandlung, die er seit langem in einem Gefängnis in Murcia erfährt. Er isst nichts, und mehr als das, er nimmt auch keine Flüssigkeiten zu sich. Wer sich nur minimal auskennt, weiß, dass ein Durststreik in wenigen Tagen zur Schädigung wesentlicher Organe führen kann. Und zum Tod. Ernst, eindrucksvoll, laut und entschlossen – um die dreihundert Personen fanden sich ein, um gegen die Vernichtungspraxis in spanischen Gefängnissen zu demonstrieren. Tatsächlich war es nicht nur eine Kundgebung, sondern ein Marsch um die Altstadt, in zwei Reihen, mit vorgeschriebenem Abstand und intensiver Polizeiüberwachung. Sogar das öffentliche Fernsehen brachte Aufnahmen. Keine Wiederholung des Eindrucks einer Beerdigung, das widerständische Leben beginnt erneut zu pulsieren. Gabon. Olatz

(16-05-2020 – Letzter Eintrag der elften Coronavirus-Woche im Baskenland, zum Abschluss der neunten Alarm-Woche mit relativer Ausgangssperre. Am morgigen Sonntag erscheint an gleicher Stelle ein Beitrag, der weiter Tages-Ereignisse kommentiert.)

(ERST-PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-05-10)

 

 

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