covid7a 1
Noch eine Verlängerung ohne Fußball!

Im Baskenland gehen wir in die achte Coronavirus-Woche, gleichzeitig ist es die sechste Einschlusswoche, die Tage 36 bis 42, weiter mit Alarmzustand, Ausgangssperre mit Ausnahmen und starker Einschränkung der Bewegungsfreiheit. Wie vermutet waren die bislang publizierten Zahlen alle falsch, auf allen politischen Ebenen wird dies plötzlich eingestanden. Sogar die Chinesen haben sich diesem Trend angeschlossen. Alles ist schlimmer als es bisher schien. Nur für Kinder soll sich bald etwas verbessern.

Coronavirus: Die Zentralregierung hat zu Beginn sechsten Alarm-Woche bekannt gegeben, dass der Zustand erneut verlängert werden muss, bis zum 10. Mai. Das Bild vom Chaos in der Gesundheits-Versorgung nimmt langsam konkrete Formen an. Fehlerhafte Masken, gefährdetes Personal, klagende Gewerkschaften, prügelnde Polizisten prägen das Panorama.

Wie konnte bloß jemand auf die Idee kommen, die in Altersheimen verstorbenen Personen nicht in die Todesstatistik einzurechnen! Andere rechnen jene Toten raus, die mit multipler Diagnose gestorben sind, wieder andere wollen nichts von den zu Hause Verblichenen wissen. Dunkelziffer wird einmal mehr zum Zauberwort. Wo keine Tests gemacht werden steigen die Ansteckungszahlen nicht, wo keine Test-Kits vorhanden sind, können keine Tests gemacht werden. Wo keine Masken sind, können keine Masken getragen werden, das Personal in Krankenhäusern ist zum Recycling übergegangen. So und in weiteren hundert Versionen präsentiert sich das System, das zur Bekämpfung der Pandemie dienen soll.

(2020-04-19)

36. Tag Alarm – 8. Woche C19

CUPFINALE OHNE SIEGER

covid7a 2Das Finale um den Fußball-Cup zwischen zwei baskischen Teams hatte keinen Sieger, weil es wegen irgendeiner Pandemie zwischen New York und Wuhan nicht stattfinden konnte. Es hätte nur die Möglichkeit bestanden, das Finale nach Nicaragua oder Weißrussland auszulagern (dort wird tatsächlich noch gekickt), ohne baskische Fans versteht sich – aber wer konnte daran schon ein Interesse haben. Einen Sieg verbuchen konnte hingegen der spanische Regierungschef Peter Sanchez, er setzte sich gegen alle Epidemie-Zweifler und Wir-Wollen-Wieder-Kapitalisten durch und kündigte eine Verlängerung der relativen Ausgangssperre an. Bis zum 10. Mai soll das nun gehen. Dazu setzte er noch einen biblischen Hit drauf: “Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht“ – eine ansehnliche Leistung für einen Atheisten, könnte man meinen. Doch verbirgt sich dahinter die “Lockerungs-Übung“, dass ab 26. April die Kinder wieder frische Luft schnappen können dürfen sollen. Bisher durften sie (offiziell – und anders als Hunde) das Haus nicht verlassen – Höchststrafe. Wenige verstießen gegen diese Regel, ausnahmsweise und sicher auf Anweisung von höchster Stelle, drückte die Polizei beide Augen zu.

Halt! Moment mal, mir geht das viel zu schnell, ich muss nachrechnen. Da war der erste Einschluss, der heute geendet hätte. Dann die erste Verlängerung bis 3. Mai und nun die zweite bis 10. Mai. Heute schreiben wir den 36. Tag der Einsperre, so viel hatte ich Jahres-Urlaub, als ich in Deutschland noch in Lohn und Brot stand. Bis Mai bleiben nochmal drei Wochen, macht acht – soviel Urlaub hatte ich als Kind in den Sommerferien, wenn auch unbezahlt. Wenn ich richtig rechne, wären es am Ende 57. Tage Zwangsurlaub in Balkonien. Gott muss mit Vornamen Peter heißen. Peter der Größere. Guten Morgen Peter!

TITELFOTO

Übrigens: Ich sollte noch mein neues Titelfoto erklären, das den kryptisch anmutenden Namen Auzoviet trägt. Eines der besten Tshirt-Motive, die ich kennen gelernt habe. Auzo oder auzoa ist baskisch und bedeutet Nachbarschaft, die Verkuppelung mit Soviet führte zu einer neuen Wortschöpfung, die sich am ehesten mit “revolutionärer Rat der Nachbarschaft“ übersetzen lässt. Es stammt aus einem der Armenviertel Bilbaos, geprägt von Konflikten und Betonburgen. Die Botschaft ist wichtiger denn je: ohne Freundinnen und Nachbarinnen bist du in diesen Zeiten verloren – Grüße von Olatz

ROTE FAHNEN

Wenn am Fenster deiner Nachbarin plötzlich eine rote Fahne hängt, musst du nicht denken, dass sie über Nacht Kommunistin geworden ist. Es bedeutet, dass sie Hunger hat. An den Fensterrahmen tauchen die ersten roten Fetzen auf. Ein Hemd, ein Putzlappen, ein verknotetes Halstuch. Wichtig ist die Farbe. Wichtig ist das, was sie bedeutet: In diesem Haus lebt eine Familie, oder eine Person, die nichts zu essen hat. Dieses Notruf-System ist aus Südamerika importiert. Es ist eine Form, um Hilfe zu bitten, die Nachbarinnen oder die wenigen Passantinnen, die vorbeigehen, auf dem Weg zur Arbeit oder zum Wocheneinkauf. Eine SOS-Flaschenpost, mit der die mittellosen Betroffenen versuchen, etwas auf ihre Insel zu lotsen.

covid7a 3So sehr wir uns verkleidet auf den Balkonen präsentieren, um den Nachbarinnen mit Wein zuzuprosten, um den Isolationsstress zu bekämpfen – wir können nicht die 148.000 Nachbarinnen vergessen, 21% der Bevölkerung, die bereits vor der Pandemie an der Armutsgrenze lebten. Selbst wenn sie nur eine befristete Kündigung mit Anspruch auf Stütze erhalten haben, die Überweisung kommt erst im nächsten Monat. Die vielen Männer und vor allem Frauen, die in der informellen Schatten-Wirtschaft gearbeitet haben, hängen von einem Tag zum nächsten völlig in der Luft. Wer von der Hand in den Mund leben musste, konnte nichts für schlechte Zeiten zurücklegen, die Vorräte gehen zur Neige.

Währenddessen bleibt die versprochene Minimalunterstützung ein Versprechen aus der Zukunft, das im besten Fall Wirklichkeit wird, wenn wir zwei Monate eingeschlossen sein werden. Ausreichen wird es im besten Fall, um die überfälligen Zahlungen von Miete und Strom zu begleichen. Deshalb hängen nun rote Lappen am Fenster. Die sie sehen bringen Essen und verständigen eines der vielen neu entstandenen Solidaritäts-Netzwerke, die das ihnen Mögliche versuchen, diesen Hunger zu stillen. Zum Glück hängen die Lappen nicht lange, nicht wenige haben ausreichend Empathie, um einzuspringen. Das Volk rettet das Volk.

PS: Diesen Text habe ich aus den Medien. Der letzte Satz mag in mitteleuropäischen Breitengraden für Irritation sorgen, weil er dort sicher als Nazi-Vokabular verstanden wird. Bei uns ist das anders, wenn von Volk die Rede ist, sind die armen Leute gemeint, die Arbeiterklasse, oder zumindest deren bewusster Teil, die helfenden Nachbarschafts-Netze. Das ist Volk. Unten ohne oben. Bei diesem Text geht es nicht um das Baskenland, er stammt aus Asturien. Wir nehmen zur Kenntnis.

SO WIRD GERECHNET UND GEHEILT

Fast 90% der aktiven COVID-19-Betroffenen in Navarra kurieren eine leichte Version der Krankheit zu Hause. Von den 3.295 aktiven Fällen (in diese Zahl fallen nicht die Verstorbenen, auch nicht diejenigen, die epidemiologisch wieder gesund sind), werden 8,2% im Normal-Krankenhaus behandelt (271) und 1,6% in Intensivstationen (55). Weitere 2,9% sind zu Hause hospitalisiert, das heißt sie werden von professionellem Pflegepersonal besucht (96). Die verbleibenden 87,3% (2.873) befindet sich mit leichten Symptomen zu Hause.

ZAHLEN OHNE GEGENPROBE

WWW: 2.350.056 Fälle, 161.268 Tote, 606.124 Dissidenten. Spain: 195.944 Fälle (+4.218), 20.453 Tote (+410), 77.357 Dissidenten (+3.947). In Navarra: 4.656 Fälle (+77), 369 Tote (+15). In Euskadi: 12.569 Fälle (+214), 1.062 Tote (+42), 6.972 Dissidenten (+416). Der urbane Virus: Gasteiz (2.703 Fälle/ +31), Bilbao (2.270 / +67), Barakaldo (652 / +20), Donostia (554 / +24), Basauri (411 / +26), Getxo (445 / +10), Santurtzi (282 / +11).

(2020-04-20)

37. Tag Alarm – 8. Woche C19

KLEINE NEUE WELT (1)

Guten Morgen fremde Welt. Mit dem Einschluss wird die individuell erlebte Welt kleiner, das Mediale und Virtuelle nimmt überhand. Wir wissen weniger Dinge aus eigener Anschauung und sind jeden Tag mehr von den Kriterien der Nachrichten-Macherinnen abhängig. Mein Auto steht seit 35 Tagen ungenutzt auf der Straße rum, in der virtuellen Welt hingegen komme ich bis in die Südsee oder nach Manhattan. Ich träume von Bergwanderungen, einem Besuch im Oppidum, Küstenspaziergängen, oder einem Gang nach Zorrotzaurre. Um die Situation auf der Straße zu beschreiben hilft der gute alte Heinrich Heine mit seiner Weitsicht: “Wo ihrer drei beinander stehn, da soll man auseinander gehen. Des Nachts soll niemand auf den Gassen sich ohne Leuchte sehen lassen. Wer auf der Straße räsoniert wird unverzüglich füsiliert. Das Räsonieren durch Gebärden soll gleichfalls hart bestrafet werden“. Er hatte bereits eine lebhafte Vorstellung von einem Polizeistaat.

covid7b 1Wichtiger denn je ist deshalb ein Gang durch die Gemeinde, ein Streifzug um den Block mit zufälligen Begegnungen. Um den Bezug zur Realität nicht zu verlieren und um individuelle Realitäten auszutauschen. Immerhin dürfen wir noch Zigaretten kaufen und eine Tageszeitung. Irgendjemanden triffst du immer, schneller Nachrichten-Austausch. Bloß kein Tratsch, direkt zum Wesentlichen, zu dem, was nicht in der Zeitung steht. Also los!

Xabi arbeitet in einer Fabrik, 30 Kilometer von Bilbao. Er wurde zur Arbeit gezwungen. Mindestabstand ist Vorgabe aber Illusion. Einzige radikale Maßnahme: die Schließung der Kantine, “um Massen zu vermeiden“. Also die nächsten vier Wochen Mittagessen kalt und am Arbeitsplatz. Xabi gehört als Diabetiker zur einer Risikogruppe. Der Anruf beim Betriebsarzt ergab, dass erstens keine klaren Kriterien für Krankschreibung von Risikoleuten vorlagen, zweitens der Mediziner sich gerade in Sevilla befand, wo die Firma eine weitere Niederlassung hatte. Er solle mal eine Bescheinigung vom Hausarzt schicken. Keine Antwort, erneut ein Anruf. Hör mal, du nimmst die Sache nicht wirklich ernst! Noch ein Nachweis erforderlich. Freitags kam eine Ersatz-Ärztin in den Betrieb: Krankschreibung bis zur Aufhebung des Alarm-Zustands. Über diese teuflischen Handhabungen kommt nichts in den Nachrichten.

ZAHLEN OHNE GEGENPROBE

WWW: 2.419.184 Fälle, 165.774 Tote, 633.376 Dissidenten. Spain: 200.210 Fälle (+4.266), 20.852 Tote (+399), 80.587 Dissidenten (+3.230). In Navarra: 4.733 Fälle (+59), 384 Tote (+15). In Euskadi: 12.628 Fälle (+59), 1.081 Tote (+19), 7.124 Dissidenten (+152). Der urbane Virus: Gasteiz (2.718 Fälle/ +15), Bilbao (2.288 / +18), Barakaldo (658 / +6), Donostia (564 / +10), Basauri (416 / +5), Getxo (447 / +2), Santurtzi (285 / +3).

(2020-04-21)

38. Tag Alarm – 8. Woche C19

FIESTA-FREIE ZEIT

Der Morgen beginnt mit zwei Nachrichten, die zusammenpassen und doch unterschiedliche Interpretationen zulassen. Das Münchner Oktoberfest und die San-Fermin-Fiesta in Iruñea-Pamplona wurden abgesagt. Absolut logisch! Wenn große Menschen-Ansammlungen gefährlich sind und vermieden werden müssen, sollten als erstes die Großevents dran glauben, Fiestas, Festivals, leider auch Demonstrationen. Was den Unterschied ausmacht zwischen den beiden Absagen ist das Datum. In Navarra wären es noch drei Monate bis zum Startschuss, in München sind es noch sechs zum Anzapfen. Scheinbar wird die Fiesta-Grippe in Germany ernster genommen als hierzulande, obwohl die bisherigen Resultate mit Ansteckungen und Toten weit verheerender sind.

covid7c 1Mehr als anderswo gilt hier im Baskenland das Prinzip “Die Hoffnung stirbt zuletzt“ – vielleicht das Prinzip der unterdrückten Völker. Wie wenig baskisch ich dann doch wäre! Für mich ist klar, dass es in diesem Jahr weder eine Aste Nagusia geben wird, die Fiesta, die wir alle so hingebungsvoll begehen, noch der Tourismus den Kopf heben wird. Wir werden die Straßen wieder für uns haben, jedoch auf unsere heiß geliebten Feste verzichten müssen, auf hunderte Umsonst-Konzerte, auf glückliche Nachtumtrunke (gaupasa) unter Freundinnen, auf die Euskara-Feste, die in der Vergangenheit mehr als 100.000 Unterstützerinnen angezogen haben.

Besonders leiden wird die jüngere Generation, die bereits jetzt auf ihre regelmäßigen Wochenend-Besäufnisse – botellón – verzichten muss. Leiden werden die Euskaldunen, die sich so gerne die baskische Sprache und Kultur um die Ohren hauen. Leiden werden die unermüdlichen Pensionäre, die zwei Jahre lang wöchentlich für eine würdige Rente auf die Straße gegangen sind. Unerträglich wird es für die Rebellischen, Widerständigen und Streikenden und ihre Gewerkschaften, die sich auf längere Zeit hin nicht mehr versammeln und in der Öffentlichkeit mobilisieren können. Wir alle waren nicht darauf vorbereitet.

Um die kommerziellen Festivals und touristischen Großevents (wie die Fussball-Eurocopa) ist es nicht schade. An die Existenz geht es jedoch den vielen sozialen und politischen Aktionsgruppen, die ihre Existenzgrundlage über Stände und Txosnas bei den vielen Fiestas organisiert haben, sie stehen vor einem Nuller-Jahr, für einige könnte das Coronavirus das Ende bedeuten. Es erfordert keine besondere Weitsicht, festzustellen, dass das C19-Jahr tiefe Spuren hinterlassen wird im Gefüge der so aktiven und differenzierten sozialen Bewegungen des Baskenlandes, die in ganz Europa einen guten Ruf haben. Die Hoffnung liegt im Erfindungsgeist und in der Fähigkeit zu Improvisation – die sind gegen den Virus immun.

ZAHLEN OHNE GEGENPROBE

WWW: 2.500.000 Fälle, 171.000 Tote, 658.000 Dissidenten. Spain: 204.178 Fälle (+3.968), 21.282 Tote (+430), 82.514 Dissidenten (+1.927). In Navarra: 4.831 Fälle (+98), 396 Tote (+12). In Euskadi: 12.810 Fälle (+182), 1.103 Tote (+22), 7.277 Dissidenten (+153). Der urbane Virus: Gasteiz (2.726 Fälle/ +8), Bilbao (2.306 / +18), Barakaldo (664 / +6), Donostia (564 / +40, Basauri (417 / +1), Getxo (448 / +1), Santurtzi (286 / +1).

(2020-04-22)

39. Tag Alarm – 8. Woche C19

KLEINE NEUE WELT (2)

Beim Einkaufen traf ich eine Nachbarin, die gerade vom Gemüsemarkt kam. Ich mit Handschuhen und Mundschutz, sie weder das eine noch das andere. Wir hielten den vorgeschriebenen Abstand und unterhielten uns. Für ihre 9jährige Tochter wird die Zeit in der Wohnung lang, schon mehr als 30 Tage Einschluss. Das Mädchen bewegt sich viel, die Nachmittage immer mit den Freundinnen auf Straßen und Plätzen, nun plötzlich eingesperrt. Die Wohnung hat zwar große Fenster, aber keinen Balkon, sagt die Nachbarin. Vor zwei Tagen waren sie draußen, aber die Kleine bekam Angst, weil überall Polizei war, und wollte nach Hause zurück.

covid7d 1Ein dritter Nachbar kam vorbei an dieser Ecke zwischen Altstadt, Markthalle, Brücke und meinem Viertel, an dem wir alle mindestens zweimal täglich vorbeikommen. Auf die Frage nach seinem Wohlbefinden sagte er, es sei der erste Tag, an dem er nach vier Wochen Quarantäne aus dem Haus gehe. Er ist Asthmatiker und hat jährlich eine starke Grippe oder sogar Lungenentzündung. Dieses Jahr war es deutlich heftiger, tagelang hohes Fieber. Er ist überzeugt, dass er den Virus durchgemacht hat, dennoch wurde bei ihm nie ein Test durchgeführt. Seine Lebensgefährtin war auch krank, das Fieber nicht ganz so hoch. Sie hat mehrere Jobs als Sozialarbeiterin und begegnet in ihrem Alltag vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft. Auch bei ihr wurde kein Corona-Test gemacht. Also doch Corona-Fälle in der Nachbarschaft.

Noch ein Nachbar kam über die Brücke, ebenfalls ohne Mundschutz. Er wohnt am anderen Ende des Viertels und hat “eigentlich“ keinen Anlass, diese Brücke zu benutzen, um einkaufen zu gehen. Er ging vorbei, ohne anzuhalten, grüßte nur und murmelte etwas von “den Kopf durchlüften“. Vielleicht sah er sich genötigt, seinen Spaziergang ohne Hund zu rechtfertigen. Die Gesprächsgruppe löste sich auf, ich blieb, weil ich wegen einer bürokratischen Formalität noch verabredet war. Ein paar Unterschriften auf einem Mauervorsprung, nach einem kurzen Wortwechsel gingen wir auseinander, weil von oben ein Polizeiwagen kam.

GERADE NOCH GEFEHLT

Eine Nachricht von gestern besagt, dass in China ein neues oder verändertes Coronavirus aufgetaucht ist, importiert von einer im März aus den USA zurückgereisten Chinesin. Was diese neue Variante gefährlich macht ist, dass sie mit den bisher gängigen Tests nicht getestet werden kann, denn vier der üblichen Tests fielen bei dieser Person negativ aus, obwohl sie das Virus in sich trug. Eigentlich keine Überraschung, Epidemiologen wissen, dass Viren, wenn sie langwierig bekämpft werden müssen, die Fähigkeit zur Mutation haben, um an ähnlicher Stelle und gefährlicher wieder aufzutauchen.

BEISPIEL-HAFT

Ein Fahrzeug wird nachts in Schlangenlinien gesteuert, Polizeikontorolle. Der Fahrer ist betrunken, weigert sich, eine Alkoholkontrolle durchführen zu lassen. Er rempelt und beißt den Polizisten. “Du weißt wohl nicht, wer ich bin! Ich bin der Bürgermeister der Nachbarstadt.“ Festnahme, in die Zelle, Rücktritt vom Posten. Beispielhaftes Benehmen. Eine Bürgermeisterin geht zur Maniküre, wird erwischt, 600 Euro Strafe, 3.000 Euro für das Studio. Der Ex-Ministerpräsident wird bei seinen regelmäßigen Spaziergängen erwischt. Die Chefin des staatlichen Gesundheitswesens wird beim Ausflug an die Küste gesehen und fotografiert, die Direktorin einer Medikamenten-Behörde versucht, für einen Familienbesuch in 600 Kilometer Entfernung den Zug zu nehmen. Auf polizeiliche Nachfrage erklärt sie, sie fülle eine unverzichtbare Funktion aus und könne sich frei bewegen. Die Kontrolleure sehen das anders. Beispielhaft die Beamten und Politiker. Bei uns hier im Barrio werden Leute mit voller Einkaufstüte neben ihrer Haustür angehalten und geschlagen, wenn die Hautfarbe nicht stimmt.

ZAHLEN OHNE GEGENPROBE

WWW: 2.500.000 Fälle, 178.000 Tote. Spain: 208.389 Fälle (+4.211), 21.717 Tote (+435), 85.915 Dissidenten (+3.401). In Navarra: 4.958 Fälle (+127), 400 Tote (+4). In Euskadi: 13.044 Fälle (+234), 1.124 Tote (+21), 7.651 Dissidenten (+374). Der urbane Virus: Gasteiz (2.771 Fälle/ +45), Bilbao (2.357 / +51), Barakaldo (671 / +7), Donostia (566 / +2), Basauri (421 / +4), Getxo (452 / +46), Santurtzi (293 / +7).

(2020-04-23)

40. Tag Alarm – 8. Woche C19

DIE GRAUEN HERREN

Vierzig Tage Einschluss sind eine Menge Holz! Mit der vielen Gymnastik stehe ich körperlich besser da als vor sieben Wochen. Doch mental und emotional … das schlägt sich auch in den Träumen nieder. Ein Gefühl, nicht voran zu kommen, immer beschäftigt sein, immer ein Projekt vor Augen, aber keine wirkliche Bewegung. Im Traum hatte ich eine Vision des Kindes Momo, das verfolgt wird, doch je schneller die Verfolger sein wollen, desto weiter bleiben sie zurück. Nach dem Aufwachen lässt mich die Erinnerung im Stich, keine Details mehr von Michael Endes Vorzeigewerk. Da hilft – wie so häufig dieser Tage – Internet:

covid7e 1Eines Tages tauchen die grauen Herren auf. Sie bringen die Menschen dazu, Zeit zu sparen, um sie sicher und verzinst aufzubewahren. In Wahrheit jedoch werden die Menschen um ihre Zeit betrogen. Sie vergessen, im Jetzt zu leben und das Schöne im Leben zu genießen. Momo spürt die Kälte, die durch das Zeitsparen aufkommt. Sie bekommt Besuch von einem Aschgrauen. Er will sie von ihren Freunden ablenken. Als sie den grauen Herren fragt, ob ihn jemand liebhabe, erschüttert ihn dies so, dass er ihr das ganze schreckliche Geheimnis der Zeit-Sparkasse verrät. Momo erzählt es ihren Freunden. Zusammen beschließen sie, die Stadt auf die Gefahr aufmerksam zu machen und organisieren eine Kinder-Demonstration. Die grauen Herren wollen Momo fangen, doch sie kommen zu spät, da Momo Besuch von der Schildkröte Kassiopeia bekam, die eine halbe Stunde in die Zukunft sehen kann. So weiß Momo, wie sie den grauen Herren ausweichen muss. Kassiopeia führt Momo zu Meister Hora, dem geheimnisvollen Verwalter der Zeit. Dieser lebt im Nirgendhaus außerhalb der Zeit, ihn zu erreichen muss man die Niemalsgasse rückwärts durchqueren, wobei die Zeit aus dem Besucher herausfließt. Alles muss langsam getan werden, um schnell voranzukommen. Meister Hora erklärt Momo das Geheimnis der Zeit, wie sie entsteht und dass die grauen Herren die von den Menschen aufgesparte Zeit “verrauchen“, um am Leben zu bleiben.

Langsam gehen, um sicher anzukommen. Keine Zwischenhändler, keine Banken, keine abhängige Lohnarbeit. Am ENDE treffen sich MICHAEL und MARX.

ZAHLEN OHNE GEGENPROBE

WWW: 2.660.000 Fälle, 185.000 Tote, 730.000 Dissidenten. Spain: 213.024 Fälle, 22.157 Tote, 89.250 Dissidenten. In Navarra: 5.063 Fälle, 408 Tote. In Euskadi: 13.436 Fälle, 1.167 Tote, 8.136 Dissidenten. Der urbane Virus: Gasteiz (2.800 Fälle), Bilbao (2.457), Barakaldo (703), Donostia (577), Basauri (431), Getxo (457), Santurtzi (299).

(2020-04-24)

41. Tag Alarm – 8. Woche C19

JUBILÄUMSTAGE

Die Luft ist klar zum tiefen Einatmen, über den baskischen Flughafen-Landebahnen Foronda, Hondarribia, Loiu, Noain und Biarritz gab es gestern keine einzige Bewegung. Normalerweise fliegt jeder in Bilbao ankommende und abfliegende Jet in 200 Metern Höhe donnernd über den Friedhof Derio. Endlich schlafen die Toten fest. Friedhofsruhe. Ähnliches wird von der Kreuzfahrt-Front gemeldet (der militärische Begriff ist bewusst gewählt). In 65 Monsterschiffen sollten 80.000 Kreuzritter kommen, berichtet der Leiter der Hafenbehörde. Daraus werde nun nichts, wahrscheinlich käme in diesem Jahr keines mehr. Das sei schade: “es wäre Rekord gewesen“. Wir hingegen würden uns freuen, wenn dieser Rekord erst 2045 wieder übertroffen werden würde.

Wir befinden uns zwei Tage vor dem 83. Jahrestag der Bombardierung und Vernichtung der baskischen Stadt Gernika durch die nazi-deutsche Legion-Condor-Luftwaffe. Auf den Tag 49 Jahre später wurde ein Atomkraftwerk in der Ukraine vernichtet, in jenem Fall nicht durch deutsche Bomber, sondern durch russische Nachlässigkeit beim Betrieb von Atomanlagen. Am morgigen 25. April jährt sich zum 36sten Mal die unblutige Nelken-Revolution in Portugal, mit der immerhin sechzig Jahre Diktatur beendet wurden (wer weiß das heute noch).

covid7f 1Doch vorher feiern wir heute Geburtstag, die Grüße gehen Tausende von Kilometern westwärts, wo die Sonne (trotz Trump) gerade erst aufgegangen ist. Ein Kollege von Baskale hat mich beauftragt, die allerherzlichsten Freiheitsgrüße dorthin zu schicken, nicht nur wegen Geburtstag, sondern ausdrücklich wegen Freiheit. Denn das Geburtstagskind leidet derzeit nicht nur an vorübergehender Ausgangssperre (wie wir hier im Baskenland), sondern an andauerndem Einschluss. Wir grüßen Mumia Abu-Jamal, afro-amerikanischer politischer Gefangener, der nicht nur 66 Jahre alt wird, sondern ganze 39 davon im Gefängnis verbracht hat. Zuerst in der Todeszelle, dann in “Normalhaft“, sofern es so etwas in einem Gefängnis-Industriellen-Komplex überhaupt geben kann. Unser Freund Mumia hat nichts weiter getan außer mit seiner verletzend spitzen Feder gegen Rassismus, Faschismus und Ungerechtigkeit in den USA anzuschreiben – heute wichtiger denn je. Aber “he was framed for a murder-crime he didn’t commit“. Auch wenn es in diesem geliebten Baskenland noch hunderte von politischen Gefangenen gibt, nimmt Mumia unter ihnen dennoch einen besonderen Platz ein: in Form einer Erinnerungstafel am Platz unseres Barrios. Und auf einem in den vergangenen Wochen wegen der Pandemie so wichtig gewordenen Balkon. Mumia askatu!

ZAHLEN OHNE GEGENPROBE

WWW: 2.760.000 Fälle, 193.000 Tote, 762.000 Dissidenten. Spain: 219.764 Fälle, 22.524 Tote, 92.355 Dissidenten. In Navarra: 5.180 Fälle, 420 Tote. In Euskadi: 13.780 Fälle, 1.193 Tote, 8.459 Dissidenten. Der urbane Virus: Gasteiz (2.846 Fälle), Bilbao (2.568), Barakaldo (718), Donostia (588), Basauri (442), Getxo (465), Santurtzi (308).

(2020-04-25)

42. Tag Alarm – 8. Woche C19

NELKEN FÜR ALLE

Urlaub? Zumindest in der Erinnerung. Als wir uns im Sommer 1976 in den Süden aufmachten, um im damals noch Geheimtipp-Urlaubsland Portugal fünf Wochen Urlaub zu verbringen, hatten wir nur ganz peripher im Bewusstsein, dass dort gerade zwei Jahr zuvor eine Revolution stattgefunden hatte, die sechzig Jahre Diktatur beendete. Nur als wir durch Grandola im Alentejo kamen, suchten wir nach Spuren. Doch es war Mittagszeit und zu heiß, sich überhaupt auf der Straße aufzuhalten. So fuhren wir weiter zur Küste. Gerade im Alentejo, dem portugiesischen Süden, hatte die Revolution tiefe Spuren hinterlassen. Ländlich strukturiert hatte die weitgehend in Armut lebende Bevölkerung begonnen sich zu organisieren, um die Verhältnisse zu ändern. Dazu wurden Dorf-Versammlungen einberufen, Organisierung an der Basis.

covid7g 1Gegen Ende unserer Reise erreichten wir die Algarve, die südliche Küstengegend, die heute angesichts des Massentourismus jeglichen Reiz verloren hat. Es begab sich, dass uns das Marihuana ausging und wir vorsichtig Ausschau hielten nach Leuten, die uns vielleicht aus der Patsche helfen könnten. Zu zweit fuhren wir in der Nacht durch kleine Dörfer und trafen in einer Kneipe schließlich einen jungen Mann, der sich auf unser Nachfragen hilfreich zeigte. Dazu müssten wir aber ein Stück fahren. Er stieg ein, wir fuhren und fuhren, und verloren praktisch die Orientierung. Schließlich kamen wir in einen dunklen Ort, ich fragte mich schon, ob wir vielleicht einen Fehler gemacht und uns in die falschen Hände begeben hatten. Unser Begleiter verschwand in einem Haus und kam nach einer Weile zurück, um uns zu einem anderen Haus zu führen. Wir gingen durch ein paar Türen und ich erlebte eine der größten Überraschungen meines Lebens, als wir plötzlich auf der Bühne einer Dorfhalle standen. Vor, oder besser unter uns saßen vielleicht zweihundert Personen, die uns langhaarige Nordeuropäer neugierig fixierten. Unser Begleiter vermittelte uns, dass wir doch bitte ein deutsches Lied singen sollten. Schnell war eine Gitarre zur Hand und die zu spielen kam nur ich in Frage, weil mein Freund keine Ahnung hatte. Es war wie im Film, ich hatte keine Zeit zum Nachdenken oder für Ausreden, so spielte ich das, was wir in jenen Jahren der umherschweifenden Haschrebellen häufig spielten: Die Moorsoldaten. Einfach, ich kannte es auswendig. Ich muss wohl Beifall bekommen haben, daran erinnere ich mich nicht.

Vielleicht der größte musikalische Auftritt meines Lebens. Unserem Begleiter hatte ich in Gedanken Unrecht getan. Dazu erhielten wir auch noch das, was uns überhaupt erst in dieses Abenteuer getrieben hatte: portugiesisches Gras. Erst viel später, als ich mich mit der Geschichte von Revolutionen und Anarchismus beschäftigte, wurde mir bewusst, dass wir damals nicht in irgendeine Dorf-Versammlung geraten waren, sondern in eine politische Zusammenkunft im Alentejo, Zentrum der portugiesischen Revolution. Plötzlich fand ich es unendlich schade, dass in jener Situation der Groschen nicht fiel, wir hätten vielleicht noch viel mehr erfahren können. Heute jährt sich der Tag der Revolution zum 36. Mal. Meine Aufgabe ist, wenigstens zwanzig Mal "Grandola Vila Morena" von José Afonso zu hören. Es wird mir nicht schwer fallen, im Internet kursieren so viele Versionen. Urlaub? So schnell nicht wieder. Vielleicht im Nachbar-Stadtteil. Grüße – Olatz

ZAHLEN OHNE GEGENPROBE

WWW: 2.801.000 Fälle, 195.000 Tote, 775.000 Dissidenten. Spain: 223.759 Fälle, 22.902 Tote, 95.708 Dissidenten. In Navarra: 5.274 Fälle, 432 Tote. In Euskadi: 14.132 Fälle, 1.212 Tote, 8.941 Dissidenten. Der urbane Virus: Gasteiz (2.908 Fälle), Bilbao (2.672), Barakaldo (748), Donostia (608), Basauri (445), Getxo (468), Santurtzi (312).

(25-04-2020 – Letzter Eintrag der achten Coronavirus-Woche im Baskenland, zum Abschluss der sechsten Alarm-Woche mit relativer Ausgangssperre. Am morgigen Sonntag erscheint an gleicher Stelle ein neuer Beitrag, der die Ereignisse täglich kommentiert.)

(ERST-PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-04-19)

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