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Demokratie oder Franquismus light?

40 Jahre demokratische Verfassung – oder – Light-Version des Franquismus: Am 6. Dezember 1978 wurde nach dem offiziellen Ende des Franquismus die neue spanische Verfassung per Referendum beschlossen. Sie sollte endlich eine demokratische Epoche in der spanischen Geschichte einleiten. Der 6. Dezember ist deshalb Feiertag und heißt Verfassungstag. Alle im Lande nehmen die Gelegenheit wahr, ein Fazit zu ziehen. Die Schlussfolgerungen zum Thema Verfassung könnten jedoch unterschiedlicher nicht sein.  

An der spanischen Verfassung von 1978 scheiden sich die Geister. Für die einen ist sie Symbol für Demokratie, für die anderen die bloße Fortsetzung des Franquismus mit anderen Uniformen. Kriegsverbrecher wurden amnestiert, historischen Nationen wird die Anerkennung verweigert. Verfassung und die von Franco eingesetzte Monarchie sind umstritten wie nie in 40 Jahren.

consti02Für die einen ist es ein schlichter Feiertag, bei dem ein Ereignis begangen wird, auf das alle stolz sein sollten. Dazu werden riesige rotgelbe Fahnen ausgepackt und patriotische Reden geschwungen (denn Nationalisten sind die anderen, die Minoritäten). Für diese anderen ist der Nikolaustag ein Tag der Ernüchterung. Sie sprechen vom „1978er-Regime“ und stellen das Scheitern einer Verfassung fest, die unter der eisernen Kontrolle der franquistischen Machthaber und Militärs zustande kam. Diese Kontrolle limitierte von Beginn an offene und wirklich demokratische Diskussionen oder Konzepte. Die sich an der Ausarbeitung beteiligten, schluckten mit Blick in die Gewehrläufe eine Kröte nach der anderen mit dem Argument „mehr ist momentan nicht drin“. Bis heute nicht.

Baskischer Widerstand

Für die baskische Linke und für ETA war das 1978 Beschlossene nicht ausreichend, um in eine versöhnliche Phase einzutreten. Im Gegenteil, sie sahen in der neuen Verfassung die Fortsetzung des faschistischen Regimes unter pseudo-demokratischen Vorzeichen. Denn das Staatsoberhaupt (König) war von Franco bestimmt worden, einer breit angelegten Autonomie oder gar dem Selbstbestimmungsrecht waren die Türen verschlossen. Der Staat sollte für alle Zeiten unteilbar sein, die Aufarbeitung der Diktatur blieb ausgeklammert, was dazu führte, dass bis heute 120.000 Leichen aus dem Krieg und der Nachkriegszeit in spanischen Massengräbern liegen. Wirkliche Entscheidungen konnten 1978 deshalb nicht beschlossen oder abgestimmt werden.

Schon gar nicht im Baskenland. Nur 45% der Wahlberechtigten ließen sich zur Stimmabgabe erwärmen. Dass ein Großteil der Wahlwilligen – um die 80% – für die Verfassung stimmte machte die Sache nicht besser. Seither gilt das Baskenland als die einzige Region, in der die Verfassung in der Bevölkerung keine Mehrheit erhielt. Denn 80% von weniger als der Hälfte der Wahlberechtigten ergibt keine wirkliche Mehrheit, so die Rechnung. Ergebnis: ETA setzte ihren bewaffneten Kampf fort, die baskische Linke nahm an den spanischen Institutionen nicht teil.

consti03Wie sehr der ausgehandelte Verfassungs-Vertrag im Schatten der Drohung der alten Garden stand, macht die Amnestie deutlich, die sich die Altfranquisten per Gesetz gönnten. Zwei Jahre lang war auf den Straßen die Amnestie der politischen Gefangenen gefordert worden, nicht nur Mitglieder von ETA und anderer militanter Gruppen, viele auch aus der Arbeiterschaft und anderen antifranquistischen Bewegungen. Als der Amnestie schließlich zugestimmt wurde, kam im letzten Moment – von vielen gar nicht zur Kenntnis genommen – die Amnestie für die franquistischen Massenmörder, Folterer und Kriegsverbrecher hinzu. Eine Kröte mehr.

Amnestie für Kriegsverbrecher

Ergebnis dieser zweiten Amnestie ist, dass seit dem Tod des Diktators nicht ein einziges Menschenrechts-Verbrechen aus der Zeit von Krieg und Diktatur vor Gericht verhandelt werden konnte. Ausnahmslos. Und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gab es zwischen 1936 und 1977 viele. Dass die UNO diese Art von Amnestie für illegal erklärt, ist das Sahnehäubchen dieser „spanischen Demokratie“. Auch die lateinamerikanischen Diktaturen der 1960er bis 1980er Jahre hatten sich Amnestien verordnet, die jedoch alle zurückgenommen werden mussten, weil sie den Grundsätzen der von allen Staaten unterzeichneten Internationalen Menschenrechtserklärung diametral entgegenstehen. Nicht so im spanischen Staat, wo Genozid bis heute unbestraft bleibt.

Demokratie?

Für die spanische, baskische und katalanische Linke verbietet es sich deshalb, von Demokratie zu sprechen. Doch damit hört der Konsens auch schon auf. Denn die einen setzen fortan auf einen imaginären künftigen Föderalismus und werden nicht müde, das westdeutsche Modell zu preisen. Die anderen setzen auf das Recht auf Selbstbestimmung und die Option des Austritts aus der falschen Demokratie.

consti04Die Trennungslinie dieser verfassungs-kritischen Haltungen verläuft dabei nicht immer zwischen rechts und links. Denn einerseits gibt es auch in der spanischen Linken stramme Nationalisten. Und andererseits wird in Katalonien wie im Baskenland auch von der politischen Rechten scharfe Kritik geübt am herrschenden Modell – aus diesem Grund sitzen konservative katalanische Politiker*innen seit 13 Monaten im Gefängnis.

Verfassungs-Charakter

Wichtigster Punkt des Verfassungs-Modells von 1978 ist die Unteilbarkeit des Staates, die Einheit in Frage zu stellen ist verboten. Der Text schreibt einen zentralistischen Staat fest und billigt den „historischen“ Nationen Galizien, Baskenland und Katalonien lediglich bescheidene Autonomierechte zu, die im Vergleich zu föderalen Länder-Kompetenzen in Deutschland, der Schweiz oder den USA lächerlich daherkommen.

Dabei sind die regionalen Autonomie-Statute in der Folgezeit zu purer Verhandlungsmasse verkommen. Die postfranquistischen Regierungen in Madrid haben bis heute 37 Kompetenzen, die im baskischen Statut festgelegt sind, nicht an die baskische Regierung übertragen. So viel zur Ernsthaftigkeit von Vertragsabschlüssen. Wenn in Madrid Mehrheitsmacher fehlen, wird an die Solidarität der Autonomen appelliert, dann fließt Geld und Kompetenz. Wenn jedoch in Madrid absolut regiert wird, werden die Autonomie-Rechte in Frage gestellt, dann ist Re-Zentralisierung angesagt.

Re-Zentralisierung statt Kompetenzverlagerung

Einige Vertreter aus dem postfranquistischen Lager wollen die Provinz-Verwaltungen abschaffen (z.B. Bizkaia, Gipuzkoa). Den Höhepunkt bildet neuerdings die Forderung der neuen Ultrarechts Partei VOX (von Le Pen und dem Ku Klux Klan freudig gelobt), die Autonomie-Statute abzuschaffen, „um den Staat zu retten“. Auch das historische Fuero-Modell (Selbstverwaltung-Rechte aus dem 13. Jahrhundert) soll nach Ansicht der Ultrarechten fallen. Das vor Tagen im traditionell „roten“ Andalusien erzielte Wahlergebnis könnte bei kommenden Staatswahlen durchaus eine Wiederholung finden: absolute Mehrheit von stramm rechts bis ganz rechts außen. Nur für das Baskenland lassen sich solche Verhältnisse definitiv ausschließen, weil es hier keinen relevanten Postfranquismus gibt, von dem sich viele nach weiter rechts abspalten könnten. Das baskische Navarra ist in dieser Hinsicht anders gestrickt, hier hat die faschistische Falange nie aufgehört, von sich reden zu machen, eine spanien-orientierte Regional-Rechte hat fast 40 Jahre das Zepter geschwungen.

consti05In solchen Zeiten von Verfassungsänderung zu reden, von Föderalismus oder der Verbindung von beidem ist naiv und Augenwischerei. Interessanterweise beteiligen sich daran sogar Leute von der rechten Partei Ciudadanos, die ansonsten alles weghauen wollen, was nicht rotgelb eingestellt ist. Gezielt soll die niemals einlösbare Illusion der Veränderung aufrecht erhalten werden. Realpolitisch schlägt die Partei auf alle historischen Rechte und Kompetenzen ein, die nicht in Madrider Hand sind. Demgegenüber ist der (geschwächte) Rajoy-Flügel der PP noch das geringste Übel.

Rollenverteilung am Verfassungstag

Soweit zu den Vorzeichen der Jubiläums-Sitzung im spanischen Parlament und ihren Protagonisten. Zur Rollenverteilung: 1. Die Hauptrede hielt ein umstrittener König, dessen Monarchie über immer mehr unverbindliche lokale Volksabstimmungen (u.a. in Madrid) in Frage gestellt wird; als Vertreter eines Borbonen-Hauses, das sich in den vergangenen Jahrzehnten regelmäßig durch Skandale verschiedenster Art ins Licht gerückt hat. 2. Die sozialdemokratische PSOE schickte ihren Ex-Ministerpräsidenten Gonzalez, der in den 1990er Jahren als andalusischer Noske Todesschwadrone organisieren und Basken auf der Straße erschießen ließ, ohne dafür jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden. Daneben der blasse aber skandalfreie Zapatero, dem 2006 ein geregeltes Ende mit ETA durch die Lappen ging.

PP und Podemos

consti063. Die postfranquistische „Volkspartei“ PP war von den Ex-Präsidenten und politischen Gegenspielern Aznar und Rajoy vertreten. Der kürzlich geschasste Rajoy, der bislang alle Korruptionsskandale in seinem direkten Umfeld unbeschadet überlebte; und Vorgänger Aznar, in seiner Jugend Falangist und aktuell der einzige seiner damaligen Regierung, der nicht wegen Korruption vor Gericht steht; Aznars Vorgänger hatten übrigens wie die baskische Linke 1978 gegen die Verfassung gestimmt, wenn auch aus komplett anderen Beweggründen. 4. Die Neofaschisten von VOX marschierten nach ihrem andalusischen Erfolgserlebnis in der „Verräter-Provinz Katalonien“ ein und provozierten Ausschreitungen. 5. Podemos und die Vereinigte Linke verschlossen sich dem monarchistischen Gruß und lamentierten fehlenden Föderalismus; zeitgleich reichten sie eine Klage gegen die spanische Monarchie ein wegen Korruption, das mag gut gemeint sein, wird aber rein symbolischen Charakter haben.

Die Selbstbestimmungs-Fraktion

6. Bask*innen und Katalan*innen (die sich als solche definieren) waren zur Jubelfeier gar nicht erst nach Madrid gereist, weder linke noch rechte. In Zeitungs-Interviews erinnerten vor 40 Jahren Verhandlungen führende Politiker der baskischen PNV-Christdemokraten an das vom Spätfranquismus geprägte Klima. Der Staat habe damals die einmalige Gelegenheit verpasst, die Realität der minoritären historischen Nationen anzuerkennen und sie zu integrieren. In jener bleiernen Atmosphäre habe man seinerzeit nicht gewagt, das Thema der Selbstbestimmung überhaupt auf den Tisch zu bringen, mehr als eine schwache Autonomie war nicht zu bekommen.

Der langjährige PNV-Parteivorsitzende und Ideologe Xabier Arzalluz zitiert sich selbst in einem Interview aus jener Zeit. „Im Lichte der Ereignisse von vier Jahrzehnten behielt ich Recht. Ich sagte damals, dass es nicht die Autonomien sind, die zu Sezessionen führen, sondern dass es Vereinheitlichung und Uniformierungszwang sind, die Völker, Bewusstsein und Persönlichkeiten zugrunde gehen lassen“. Die Verfassung müsse – genau wie es aktuell die katalanischen Befürworter*innen der Unabhängigkeit fordern – das Prinzip der freien Entscheidung aufnehmen, damit die Völker oder Nationen das Recht ausüben können, frei darüber zu entscheiden, welche Art der Beziehung sie zum spanischen Staat haben wollen. Die baskischen Christdemokraten sind weit von der Radikalität und Unilateralität ihrer katalanischen Kolleg*innen entfernt. Dennoch haben sie es nicht versäumt, zusammen mit der baskischen Linken eine Woche vor der Verfassungsfeier in einer Resolution das Scheitern des Verfassungs-Projekts festzustellen und das Recht auf Selbstbestimmung einzufordern.

consti077. Die baskische Linke organisierte am „Verfassungstag“ eine Demonstration für das Recht auf Selbstbestimmung, mit dem Ziel einer Republik von sozialer Gerechtigkeit. Der Hauptredner Arnaldo Otegi sprach vom Wunder von 1978: „Da haben sich welche als Franquisten schlafen gelegt und sind als Demokraten wieder aufgewacht. Das war keine Transition, sondern eine Transaktion“. Diese Analyse wird auch von der historischen anarchosyndikalistischen CNT geteilt, die ausgerechnet im nunmehr braun angehauchten Andalusien ihren Ursprung hatte. Sie gehörte zu den wenigen Kräften, die bereits 1978 das Unheil der „falschen Demokratie“ aufziehen sah. Die CNT ist die einzige relevante Organisation im Staat, die ihre politischen Ziele nicht in Parlamenten und Institutionen umzusetzen versucht, sondern in Betrieben und auf der Straße.

(Der Artikel wurde zuerst bei baskinfo.blogspot veröffentlicht und für die Publikation an dieser Stelle geringfügig verändert. baskultur.info 2018-12-08)

ABBILDUNGEN:

(1) Pro Amnestie 1978 (viejotopo)

(2) Militärparade (madridhappypeople)

(3) Protest gegen Straffreiheit (eldiario)

(4) Kampagne Referendum 1978 (wikipedia)

(5) Gedenkfeier Verfassung 2018 (efe)

(6) Protest gegen Straffreiheit (cadena ser)

(7) Spanien Karikatur (publico)

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