Minderheit unterschreibt schlechten Vertrag
Die Existenz von Richtungs-Gewerkschaften (im Gegensatz zum deutschen DGB-Einheits-Modell) in Staaten wie Frankreich, Spanien oder Italien ist eine Garantie dafür, dass Arbeitskämpfe nicht immer auf die sozialdemokratische Art “befriedet“ werden. Denn Reste von Klassenbewusstsein führen zum kämpferischen Momenten. Nachteil: Wenn eine Gewerkschafts-Minderheit gegen den erklärten Willen der Mehrheit einen Tarifvertrag für alle unterschreibt. Geschehen in Gipuzkoa beim Streik der Angestellten in Pflegeheimen.
Nach 262 Tagen Streik ist die sozialdemokratische Minderheits-Gewerkschaft UGT mit der Unterzeichnung eines unzureichenden Tarifvertrages den Mehrheits-Gewerkschaften in den Rücken gefallen.
Die sozialdemokratische Gewerkschaft UGT, der Provinzrat von Gipuzkoa und die Arbeitgeber-Verbände Adegi, Lares und Garen werden nach längerem Streik den Tarifvertrag für private und öffentliche Altersheime in Gipuzkoa unterzeichnen. Diese Entscheidung wurde von den linken baskischen Gewerkschaften ELA und LAB scharf kritisiert. Sie bezeichnen die Vereinbarung als "undemokratisch" und "schwerwiegend". Diese beiden Gewerkschaften sind mit 60% und 20% im Pflege-Sektor vertreten, stellen also die große Mehrheit der Betriebsrät*innen. In einer Mitteilung nach der letzten Sitzung des Verhandlungstisches in Donostia kündigte die UGT an, dass sie den Tarifvertrag "aus Verantwortung" unterzeichnen werde, da dies beinhalte, "menschenwürdige Arbeitsbedingungen für einen stark weiblich geprägten Sektor zu garantieren".
Mit dieser Unterzeichnung durch eine Minderheit (nach Angaben von ELA verfügt die UGT nur einen Anteil von 7% in der Vertretung der Arbeitnehmer*innen), die in einer Vereinbarung verankert wurde und "in Kürze" offiziell in Form eines neuen Tarifvertrages in Kraft treten wird, hat die UGT nach eigenen Worten versucht, "aus der Sackgasse herauszukommen", weil die Verhandlungen ihrer Meinung nach "von den Interessen bestimmter Gewerkschaften bestimmt waren". Ziemlich klar, gegen wen dieser Seitenhieb gerichtet ist. Solidarität unter den Vertreter*innen der Beschäftigten sieht anders aus.
Solospiel der Minderheit
Der neue Tarifvertrag gelte für die Jahre 2022 bis 2024, sehe für diesen Zeitraum eine Lohnerhöhung von 6,5% vor (angesichts einer Inflation von 10%, also Reallohn-Verlust) und enthalte neben "anderen arbeitsrechtlichen Verbesserungen" eine Klausel, die "die Kaufkraft sichert", indem sie am Ende dieses Zeitraums "ihren Ausgleich an den kumulierten Verbraucherpreis-Index anpasst, wenn dieser Ende 2024 die 13,5% übersteigt" (… und wenn er “nur“ bei 12% liegt?). Die Vereinbarung sieht auch "die schrittweise Eingliederung der Pausenzeiten als Arbeitszeit" vor und "eine Erhöhung der Vergütung je nach Dienstalter".
Die UGT-Vertreterin wies darauf hin, dass die Vereinbarung, da sie nur von einer Minderheit unterzeichnet wurde, nur eine begrenzte Wirksamkeit haben werde, so dass alle Arbeitnehmer*innen gegenüber ihrem jeweiligen Unternehmen ihre Bereitschaft erklären müssen, der Vereinbarung beizutreten (oder auch nicht), um die darin vorgesehenen Erhöhungen in Anspruch nehmen zu können. Schließlich verteidigt die UGT ihr Einknicken gegen die Mehrheits-Gewerkschaften. Diese hätten sich ihrer Meinung nach "dafür eingesetzt, die Verhandlungen zu behindern und parteiliche Interessen zu verfolgen", um "aus einer absichtlich und künstlich provozierten Konfliktsituation egoistischen Profit zu schlagen".
ELA und LAB, kritisch
Die Gewerkschaft ELA beklagte ihrerseits, dass die UGT "wieder einmal 93% der Arbeitnehmer*innen und 27% der Arbeitgeber den Rücken kehrt und eine Vereinbarung von begrenzter Wirksamkeit unterzeichnet, die das Lohngefälle im Sektor und die bestehende Kluft zwischen den Arbeitsplätzen vergrößert". Nach Ansicht der Gewerkschaft wird die neue Vereinbarung nur dazu dienen, "die Taschen der (privaten) Arbeitgeber zu bereichern und die Bedingungen der Beschäftigten zu verschlechtern". ELA bezeichnete die Vereinbarung als "undemokratisch, weil sie 93% der Beschäftigten des Sektors außen vorlässt und den seit mehr als vier Jahren andauernden Kampf ignoriert".
Nach 262 Tagen Streik sehen sich die ELA-Beschäftigten zur Feststellung gezwungen, dass die Entscheidung der UGT die Realität des Sektors nur verschlimmert, da sie unter anderem "zu einer Vergrößerung des Lohngefälles gegenüber den von Männern dominierten Bereichen und sogar zwischen den Unternehmen des Sektors führen wird". "Es ist ein Skandal, dass der Provinzrat antidemokratische Vereinbarungen mit begrenzter Wirksamkeit befürwortet, ohne die aktuellen Probleme zu lösen. Erschwerend kommt hinzu, dass ein vermeintlich neues Modell für künftige Altersheime angekündigt ist. Auf diese Weise stimmt der Provinzrat der (mangelhaften) Vereinbarung in einem Sektor zu, der von der Pandemie besonders stark betroffen war", wird kritisiert.
LAB setzt nach
Im selben Sinne kritisiert auch die abertzale Gewerkschaft LAB die Position der Arbeitgeber und stellt fest, "dass sie keinerlei Verhandlungs-Bereitschaft gezeigt haben und stattdessen bereit waren, eine Vereinbarung mit begrenzter Wirksamkeit mit der Gewerkschaft UGT zu unterzeichnen, die die geringste Vertretung unter den Arbeitnehmer*innen hat". - "Arbeitgeber und Provinzregierung von Gipuzkoa verhöhnen weiterhin die Arbeitnehmer*innen in den Altersheimen, die seit Hunderten von Tagen im Streik sind. Für die zuletzt angekündigte Verhandlungsrunde hatten die Arbeitgeber ein Einigungsangebot vorgelegt, das wir für unzureichend halten", erklärte die der Unabhängigkeits-Bewegung nahestehende Gewerkschaft.
Betont wurde, dass LAB nicht mit einer "Destruktiv-Haltung" an der heutigen Sitzung teilgenommen hat. "Wir haben am Verhandlungstisch unsere Absicht geäußert, zum Vorschlag der Arbeitgeberseite einen Gegenvorschlag zu machen. Die Arbeitgeber haben dies unmöglich gemacht und sich für die Unterzeichnung einer Vereinbarung mit begrenzter Wirksamkeit mit der Gewerkschaft UGT entschieden".
Provinzrat: Vereinbarung ist eine "Chance"
Der Provinzrat von Gipuzkoa hat die Einigung zwischen den Arbeitgebern und der Gewerkschaft UGT als "positiv" bewertet und sieht darin eine "Chance", den Arbeitskonflikt im Altersheim-Sektor zu entschärfen und zu lösen. Die Abgeordnete für Sozialpolitik erinnerte daran, dass sie stets die Notwendigkeit verteidigt hat, eine Lösung zu finden, die dem Sektor Stabilität verleiht. Trotz der Tatsache, dass die Verhandlungen nicht in den Zuständigkeitsbereich der Provinz-Institution fallen. "Stabilität ist unerlässlich, um die Herausforderung der Überalterung der Bevölkerung zu bewältigen, auf dieses Thema konzentrieren wir alle unsere Bemühungen".
ANMERKUNGEN:
(1) Information aus: “UGT firma en solitario el convenio de las residencias de Gipuzkoa con el rechazo de ELA y LAB” (Die UGT unterzeichnet den Tarifvertrag im Bereich Pflegeheime in Gipuzkoa im Alleingang, ELA und LAB lehnen ab) Tageszeitung Gara, 2022-07-26 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Altersheim-Streik (diario vasco)
(2) Altersheim-Streik (noticias de gipuzkoa)
(3) Altersheim-Streik (diario vasco)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-07-27)