atado1Der fortgesetzte Franquismus

1. Oktober 1975. Der Monat beginnt mit einer Rede, Francos letzte. Auf dem Oriente-Platz schreien Tausende mit gestutzten Schnurrbärten dem Caudillo zu: Franco, Franco, Franco! "Es lebe Spanien!" und das Falangisten-Lied "Cara al Sol" (Gesicht zur Sonne) werden skandiert. Spanische Fahnen und Transparente, getragen von in Bussen angereisten Menschen, preisen den Völkermord und das imperiale Mutterland. Für alle, die am franquistischen Putschtag 18. Juli 1936 kleben Gebliebenen ist es ein großer Tag.

Nach dem Tod Francos im November 1975 schien es naheliegend, auf große Veränderungen zu setzen, nicht auf kleine. Es gab Möglichkeiten dazu. Aber das Gegenteil geschah.

Der Balkon des Palacio de Oriente ist voll. In der Mitte Franco und seine Frau, daneben Sofía von Griechenland und Juan Carlos de Borbón, der designierte Nachfolger des Völkermörders. Sie sind umgeben von Regierungsmitgliedern in voller Uniform, einige auch mit Bischofsmütze. Francos Rede, mit seiner typisch flatterhaften Stimme gehalten, ist kaum länger als zehn Zeilen. Er begleitet die Lesung mit Auf- und Abbewegungen seiner rechten Hand, spricht von den Angriffen, unter denen Spanien zu jener Zeit zu leiden hatte: "eine linke freimaurerische Verschwörung der politischen Klasse in Zusammenarbeit mit kommunistisch-terroristischer Subversion im sozialen Bereich". Vierzig Jahre fest im Sattel. Genie und Persönlichkeit.

Vier Tage zuvor waren fünf militante Franco-Gegner, die Basken Txiki und Otaegi (ETA) sowie José Humberto Baena, Ramón García Sanz und José Luis Sánchez Bravo (FRAP), in Barcelona, Burgos und Hoyos de Manzanares erschossen worden, nachdem sie von verschiedenen Kriegsgerichten zum Tode verurteilt worden waren. Der Priester, der den Hinrichtungen der drei letztgenannten beiwohnte, sagte: "Neben den Polizisten und Zivilgardisten, die an den Erschießungen teilnahmen, alles Freiwillige, gab es viele andere, die in Bussen angereist waren, um die Hinrichtungen zu bejubeln. Viele waren betrunken".

atado2Im Baskenland wird ein dreitägiger Generalstreik ausgerufen. Die Repression durch die Polizei ist brutal. Kurz zuvor, am 31. August 1975, war Jesús Mª García Ripalda in Donostia während einer Demonstration gegen die Todesurteile ermordet worden. Auch in anderen Teilen des spanischen Staates kam es zu großen Demonstrationen: Madrid, Barcelona ... Doch der Protest ging über den staatlichen Rahmen hinaus. In Portugal stürmten Zehntausende von Demonstranten die spanische Botschaft und steckten sie in Brand. In Paris gingen 100.000 Menschen auf die Straße, in Rom waren es 50.000. In Florenz wird das spanische Konsulat gestürmt.

Der mexikanische Präsident Luis Echevarria fordert den Ausschluss Spaniens aus der UNO und 17 Länder ziehen ihre Botschafter aus Spanien ab. Olof Palme, schwedischer Ministerpräsident, ging mit einer Sammelkasse durch die Straßen Stockholms und bat um Solidarität mit den Familien der Verurteilten. Auch Papst Paul VI. rief dazu auf, die Urteile nicht zu vollstrecken. Unterstützung durch Hunderte von Politikern und Intellektuellen aus der ganzen Welt.

An jenem 1. Oktober wusste noch niemand, dass Franco nur noch 50 Tage blieben. Am 12. Oktober erkrankte er an einer Grippe und erlitt Tage später drei Herzinfarkte hintereinander, die durch eine Darmlähmung und eine Magenblutung kompliziert wurden. Von da an verkomplizierte sich alles, die Situation verschärfte sich. Am 30. Oktober ließ der Diktator (bzw. die Verantwortlichen des Regimes) die Übertragung von seinen Macht-Befugnissen als Staatsoberhaupt auf seinen Nachfolger Juan Carlos anordnen. Am 20. November schließlich holte ihn der Satan. Ministerpräsident Carlos Arias Navarro verkündete schluchzend: "Spanier: Franco ist tot". Andernorts floss der Champagner in Strömen.

Während all dies geschah, nahmen die Konflikte zu und wurden radikaler. Im Jahr 1975 verdoppelte sich die Zahl der Streikenden gegenüber 1973 von 357.523 auf 647.100. Es entstanden neue Kämpfe und Bewegungen (soziale, nachbarschaftliche und feministische), und die Forderung nach dem Recht auf Selbstbestimmung nahm Gestalt an.

Der Tod Francos leitete den Übergang ein, die sogenannte Transition. Zu dieser Zeit gab es, grob gesagt, zwei große Projekte. Das erste war die Reform des Regimes, die im Wesentlichen darauf abzielte, die wichtigsten Befugnisse des Franquismus (Armee, Polizei, Kirche, Justiz, Banken, usw.) und die “heilige Einheit Spaniens“ zu erhalten. Das zweite Projekt bestand in einem demokratischen Bruch, es zielte darauf ab, die Verbindungen zum Franco-Regime zu kappen: Republik, Selbstbestimmung, Säuberung von Armee und Polizei, Säkularisierung des Staates, Amnestie, usw.

atado3Der Sturz der portugiesischen Salazar-Diktatur eineinhalb Jahre zuvor (Nelken-Revolution April 1974) hatte im Franco-Regime einige Nervosität hervorgerufen. Die “Demokratische Front“ (Junta Democrática) und die “Plattform für Demokratische Konvergenz“ (Plataforma de Convergencia Democrática), die schon vor Francos Tod gegründet worden waren, sprachen von einem demokratischen Bruch, einer politischen und gewerkschaftlichen Amnestie, einem verfassungsgebenden Prozess, einer Volksbefragung über die Staatsform, politischen Freiheiten für die ethnischen Minderheiten und mehr. Linke Gruppen arbeiteten daran, die Mobilisierungen auszuweiten und sie mit einem Generalstreik zu krönen, der diesen verbrecherischen Franquismus stürzen sollte, der alle Freiheiten verweigerte.

Nach dem Tod Francos im November 1975 schien es naheliegend, auf große Veränderungen zu setzen, nicht auf kleine. Es gab Möglichkeiten dazu. Aber das Gegenteil geschah. Politische Programme und Strategien wurden aufgeweicht, die Mobilisierungen verlangsamt, wenn nicht gar als provokativ kritisiert. Der demokratische Bruch wurde durch das Oxymoron (paradoxes Konzept) eines “ausgehandelten Bruchs“ ersetzt. Von dort ging es weiter zum Konsens und zur Versöhnung mit dem Franquismus. Das Amnestie-Gesetz, die Moncloa-Pakte (Wirtschafts-Konzept) und die Vereinbarungen mit dem Vatikan öffneten einem neuen Regime die Türen. Der Taktstock sollte ausschließlich von der neuen Regierung von Adolfo Suárez getragen werden (einem alten Falangisten), die wichtigsten Oppositionskräfte sollten sich darauf beschränken, im Vorfeld der angekündigten Wahlen die besten Ausgangspositionen zu suchen.

Diejenigen, die sich freiwillig für die Erschießung von Txiki, Otaegi, Baena, García Sanz und Sánchez Bravo gemeldet, und jene, die sie in betrunkenem Zustand angefeuert hatten, ihre Vorgesetzten und Kommandeure sowie der Ministerrat, der die Todesurteile gebilligt hatte, kamen nicht nur in den Genuss einer Amnestie, sondern stiegen in den Rängen der Polizei weiter auf und wurden zum Teil mit “wohlverdienten“ Posten in Verwaltungen belohnt. Bis heute gewährt ihnen das eben beschlossene “Gesetz über das demokratische Gedächtnis“ (Oktober 2022) weiterhin Straffreiheit und das Gesetz über Verschlusssachen (Amtsgeheimnisse) schützt ihre Anonymität. Dies sind nur einige der Nachwirkungen jenes Herbstes von 1975. Folgerichtig wird die aus dem “demokratischen Übergang“ hervorgegangene Staatsform als “Regime von 1978“ bezeichnet.

Der Franquismus ging nie zu Ende. Das sagte Franco bereits lange vor seinem Tod voraus: “Atado y bien atado“ – “Alles ist vorbereitet, bestens vorbereitet“ ist bis heute die beste Beschreibung, was aus den Versuchen einer demokratischen Umgestaltung geworden ist.

ANMERKUNGEN:

(1) “Aquel otoño de 1975“ (Jener Herbst 1975), Tageszeitung Gara, Autor: Iñaki Egaña, 2022-10-07 (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Franco, Juan Carlos (publico)

(2) Franco, Juan Carlos (eulixe)

(3) Franco, Juan Carlos (gara)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-10-08)

Für den Betrieb unserer Webseite benutzen wir Cookies. Wenn Sie unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen, akzeptieren Sie unseren Einsatz von Cookies. Mehr Information