Zurück über die Nahrungskette
Jede Plastikflasche, die über baskische Flüsse ins kantabrische Meer gespült wird (in den Golf von Bizkaia), trägt zur zunehmenden Verschmutzung des Atlantik bei. Doch damit ist es nicht getan. Denn das Plastik kehrt zurück. Wenn nicht direkt als Strandgut, dann als Mikroplastik in Fischen, die den zerkleinerten Fremdstoff aufnehmen. Über die Nahrungskette kommen die Umweltsünden zurück auf den Mittagstisch. Letztendlich geht es um Gesundheit und eine große Tradition von baskischer Gastronomie.
Die Zunahme von Müllspuren im Golf von Bizkaia alarmiert Wissenschaftler*innen. Denn laut einer internationalen Studie ist die Plastik-Verschmutzung im Golf von Bizkaia größer als erwartet.
Alle fünf Kontinente sind bewohnt, auf allen werden riesige Mengen von Müll hinterlassen. Als wäre das noch nicht genug: es sind neue “Kontinente“ entstanden, die ausschließlich aus Abfall bestehen. Die Rede ist von den fünf großen “Müllinseln“, die in den Ozeanen treiben. Zwei im Pazifik, zwei im Atlantik und eine im Indischen Ozean. Das sind nicht die Einzigen, nur die größten. Auch im Golf von Bizkaia verursacht die Zunahme der Abfallströme aus Küstennähe ernsthafte Sorgen. (1)
Die Anhäufung von Plastikmüll im Meer ist kein Problem von fernen Ländern und Kontinenten. Es reicht ein Blick auf all das, was die baskischen Flüsse nach zwei Wochen Regen und die Wellen in diesen stürmischen Tagen (Dezember 2021) an den Stränden hinterlassen. Tonnen von Holz und Tausende von Kilo von Kunststoffen aller Art und Größe. Die größeren Elemente werden entfernt, doch die kleineren kehren ins Meer zurück, werden von den Gezeiten mitgerissen und landen in verschiedenen Gebieten des Golfs von Bizkaia. Dort bilden sie keine großen “Müllinseln“ wie an anderen Orten – jene im Nordpazifik ist dreimal so groß wie Frankreich. In diesem Teil des Kantabrischen Meeres gibt es "Anhäufungsgebiete, in denen die Meeresströmungen Müll ansammeln", wie es in der Expertensprache heißt, in diesem Fall aus dem Mund von Oihane Cabezas, Forscherin für Meeresmüll des wissenschaftlichen Zentrums AZTI (2), das auf die Bereiche Meeresumwelt und Lebensmittel spezialisiert ist und innovative Produkte und Technologien anbietet, die auf Wissenschaft und Forschung basieren.
"Wir untersuchen diese Ansammlungen und haben mit ihrer Überwachung begonnen. Soweit wir wissen, bleiben die Abfälle in diesem Bereich des Golfs von Bizkaia vor Ort, das heißt, sie zirkulieren nicht an andere Orte im Atlantik“, bestätigt die Wissenschaftlerin, die auch von anderen spezifischen und auffälligen Erscheinungen berichtet. Wer sich vom Meer aus der Küste nähert, findet immer mehr “Müll-Spuren". Das ist eine Art von “Abfall-Strömen, die vor allem Seeleute gut kennen. Wir haben mit einigen gesprochen, um mehr über diese Phänomene zu erfahren und ihre Entstehungsprozesse, ihre Zusammensetzung und den Umgang damit besser zu verstehen. Es gibt noch viel zu lernen, wir sind dabei, das alles zu untersuchen", erklärt Cabezas. Sie bestätigt, dass es vor den Küsten des Baskenlandes "sehr viel Müll" gibt. "Es existiert fast so viel Mikroplastik wie im Mittelmeer", warnt die AZTI-Expertin.
Im Frühjahr und Sommer 2018 nahmen Forscher*innen des AZTI-Technologie-Zentrums (eine Stiftung) an einer internationalen Studie zum Thema Schadstoffspuren teil. Die praktische Arbeit an Bord eines Fischerbootes bestätigte, dass es sich bei den Müllströmen um ein "gewöhnliches Phänomen" an der Südostküste des Golfs von Bizkaia handelt, der eine ganz eigene Strömungs-Dynamik aufweist.
Im Fisch
Während der Untersuchung im Meer wurden 16,2 Tonnen Müll gesammelt, aus denen 4.130 verschiedene Gegenstände für die Analyse herausgeholt wurden. Davon waren 96% Kunststoffe. Angesichts dieses Ergebnisses ist es nicht verwunderlich, dass die in kantabrischen Gewässern gefangenen Fische alarmierende Mengen diese Kunststoffe enthalten. Dies wurde in einer Studie bestätigt, die von den ozeanographischen Zentren Santander und Vigo (Izaskun Preciado bzw. Jesús Gago) geleitet und 2020 in der Fachzeitschrift "Marine Pollution Bulletin" veröffentlicht wurde. Darin wurde festgestellt, dass 78% der untersuchten Sardellen, Sardinen und Meerbarben Mikroplastik in ihren Mägen hatten.
Die Fischerei und der Seeverkehr sind Hauptverursacher jener Abfälle, deren Herkunft ermittelt werden konnte. "Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass diese Aktivitäten die Hauptquelle sind. Die Menge an Müll aus der Fischerei – vor allem Rettungsringe und Bojen – nimmt im offenen Meer zu", heißt es in der Studie, die auch darauf hinweist, dass eine große Menge Müll unbekannter Herkunft ist.
Die im Golf von Bizkaia treibenden Müllschlangen (im Sommer länger, weniger dicht und weiter von der Küste entfernt) beinhalten auch Abfälle von menschlichen Aktivitäten auf dem Festland. Dabei handelt es sich um Müll aus dem Küsten-Tourismus und Abfälle aus der Abwasserentsorgung. In Reichweite der Meeresfauna, auf der Suche nach Nahrung, befinden sich Polymerpartikel (Mikroplastik), Textilgewebe, Chips-Tüten, Tampons, Plastikflaschen, Verpackungsreste aller Art und eine lange Liste von weiteren Materialien, deren Entfernung für die Behörden eine Herausforderung darstellt.
Das "aktive Abfischen" dieser schwimmenden Abfälle ist (neben der Vermeidung der Verschmutzung) die beste Möglichkeit, die unerwünschten Stoffe zu entsorgen. Einige Regierungen erwägen sogar, die Fischereiflotte selbst mit der Beseitigung der Abfälle aus dem Meer zu beauftragen. Klar ist, dass Plastik die Weltmeere kolonisiert hat, sei es auf großen Inseln, in Schleppnetzen oder in der Tiefsee. Klar ist auch, dass nur der große und greifbare Plastikmüll abgefischt werden kann, nicht die Mikroteile. Das Plastik im Meer breitet sich weiter aus.
Küstenarten auf "Müllinseln“
Gleichzeitig sind Wissenschaftler*innen besorgt darüber, wie sich Tierarten an der Küste an die großen Abfallteiche des Pazifiks anpassen. Wie erwähnt treiben fünf riesige "Inseln" aus Plastik auf den Meeren des Planeten Erde. Sie bestehen aus Millionen von Mikroplastik-Partikeln, die in Meeres-Strömungen segeln. Sie werden gebündelt und an die Oberfläche gebracht, wo sie mit größeren Abfällen zusammentreffen, die von Strömungen aus den Tiefen des Meeres mitgerissen werden. (3)
Die erste und bisher größte dieser “Inseln“ wurde Ende der 1990er Jahre im Nordpazifik (zwischen Kalifornien und Hawaii) entdeckt (Fachsprache: Eastern Garbage Patch). Laut einer in der Zeitschrift Nature veröffentlichten Studie ist sie 1,6 Millionen Quadratkilometer groß und besteht aus 80.000 Tonnen Plastik (dreimal Frankreich). Ihre Existenz ist ein unbestreitbares ökologisches Desaster. Die Meeresfauna wird durch Mikroplastik vergiftet, ihre Lebenszyklen werden verändert, das Sonnenlicht wird abgeschirmt, Planktonarten werden getötet, größere Tiere bleiben darin hängen und sterben ... die Liste der Katastrophen ist lang.
Anfang Dezember bestätigte eine in Nature Communications veröffentlichte Studie, dass die große “Pazifikinsel“ mittlerweile zu einem eigenständigen Ökosystem geworden ist. Pflanzen und Tiere haben sich an diesen Lebensraum angepasst. Das mag wie eine gute Nachricht klingen, ist es aber nicht. Denn in Wirklichkeit sind diese neuen Insel-Bewohner Eindringlinge in einer Umgebung, die nicht ihre natürliche ist. "Die große Insel schafft Möglichkeiten für Küstenarten, ihren Lebensraum weit über das hinaus auszudehnen, was wir für möglich hielten", erklärt Linsey Haram, Autorin einer Studie und ehemalige Postdoc-Stipendiatin am Smithsonian Environmental Research Center. “Einige Pflanzen- und Tierarten, die sonst nicht im offenen Meer leben, haben anfangen, die Müllberge zu besiedeln. Anders ausgedrückt: Pflanzen und Tiere, die normalerweise an Land leben, haben einen Weg gefunden, auf dem offenen Ozean zu überleben“. (4)
Unbewohnbar
Die Autoren bezeichnen diese Gemeinschaften als neopelagisch (Begriff aus der Expertensprache für diese neu entstandenen Lebensgemeinschaften, wobei "neo" für "neu" steht und "pelagisch" sich auf das "offene Meer" bezieht, im Gegensatz zum Land). Wissenschaftler vermuteten nach dem japanischen Tsunami von 2011 erstmals, dass Küstenarten Plastik nutzen könnten, um im offenen Meer zu überleben, als sie entdeckten, dass fast 300 Arten den Pazifik mit den Trümmern des Tsunami überquert hatten. Doch bisher waren bestätigte Sichtungen von Küstenarten auf Plastik im offenen Meer selten. Allein die Existenz dieser "neuen Hochsee-Gemeinschaft" stellt für die Wissenschaftler einen Paradigmenwechsel dar. "Der offene Ozean war bisher für Küstenorganismen nicht bewohnbar", räumt der Smithsonian-Wissenschaftler Greg Ruiz ein. Das ändert sich nun, auch wenn der baskische Golf davon noch ein Stück entfernt ist.
Perspektiven
Die kürzlich zu Ende gegangene Klima-Konferenz von Glasgow 2021 hat gezeigt, wie langsam die internationale Politik – angesichts des Drucks der kapitalistischen Industrie – auf die deutlichen Zeichen einer Katastrophe reagiert. Dies trifft auf energiepolitische Themen ebenso zu wie auf den Abfall. Die an dieser Stelle angesprochene Beseitigung könnte einen Teil der Problem-Behebung darstellen, doch mit Müllvermeidung würde die Beseitigung unnötig gemacht. Die überall verbreitete baskische Plastikkultur ist allerdings Lichtjahre entfernt von den in Mitteleuropa mittlerweile üblichen (nachhaltigen) Wegen von Vermeidung und Recycling.
Solange der Plastikfluss aus der baskischen Gesellschaft anhält, werden die “Anhäufungen“ im Kantabrischen Meer und dem Golf von Bizkaia zunehmen. Im Gleichschritt dazu steigt der Gehalt von Mikroplastik in Fischen. Banal ausgedrückt: jede Plastikflasche, die bei Santo Tomas (Sidra-Fest vor Weihnachten) oder während der Aste Nagusia (Fiestawoche im August) über den Fluss in den Golf gelangt, kommt in Mikroversion auf dem Weg der Fische wieder zurück auf unseren Mittagstisch. Nicht nur die Gesundheit einer an Fisch gewöhnten Bevölkerung ist in Gefahr, sondern auch eine lange Gastronomie-Tradition.
ANMERKUNGEN:
(1) “La proliferación de regueros de basura en el Golfo de Bizkaia alarma a los científicos“ (Müllströme im Golf von Bizkaia alarmieren Wissenschaftler), Tageszeitung El Correo, 2021-11-21 (LINK)
(2) AZTI ist ein technologisches Zentrum (Stiftung), das gemeinsam mit Organisationen, die sich an den 2030-Vorgaben der UN orientieren, wirksame Transformationsprojekte entwickeln soll. Ziel ist es, positive Veränderungen für die Zukunft der Menschheit voranzutreiben und zu einer nachhaltigen Gesellschaft beizutragen. AZTI ist auf die Bereiche Meeresumwelt und Lebensmittel spezialisiert und bietet innovative Produkte und Technologien, die auf Wissenschaft und Forschung basieren. (LINK)
(3) “Especies costeras viven en las 'islas' de basura (Küstenspezies leben auf den Müllinseln) Tageszeitung El Correo, 2021-12-11 (LINK)
(4) “Lebensraum schwimmender Müll: Warum die Anpassung dieser Tiere Hoffnung und Sorge macht“, Euronews, 2021-12-04 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Müllinseln (afp)
(2) Müllinseln (ocean voyager)
(3) Müllinseln (wikipedia)
(4) Müllinseln (elcorreo)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2021-12-13)