Soziale Verantwortung beim Reisen!
Je mehr Menschen auf dem Erdball auf Reisen gehen, desto mehr konzentrieren sie sich an wenigen „attraktiven“ Orten: das Phänomen Massentourismus, der zu einer grundlegenden Veränderung der sozialen Verhältnisse der besuchten Orte führt. Im Baskenland ist im Sommer 2017 zum ersten Mal Kritik laut geworden an der von den baskischen Behörden verfolgten hemmungslosen Vermarktungs-Strategie. Das TourCert-Konzept wäre eine Alternative, die helfen könnte, die schlimmsten Auswüchse zu vermeiden.
Entgegen der rücksichtslosen Verwertung aller verfügbaren Kultur- und Natur-Ressourcen im Tourismus setzt das TourCert-Konzept auf ein Gleichgewicht zwischen Besucher*innen und Besuchten, auf würdige Arbeitsverhältnisse und ökologische Kriterien.
Massentourismus verändert die Lebenswelten der besuchten Orte: Preise steigen, Wohnraum wird knapp und teuer, alteingesessene Geschäfte werden geschlossen und durch Souvenirläden ersetzt, Altbewohner*innen werden vertrieben, Altstädte verkommen zu Windowshopping und Fotoobjekten, internationale Mode- und Ladenketten beißen sich fest – die Liste der Konsequenzen von Massentourismus ist fast beliebig verlängerbar. Wenn Bilbao seine Zukunft vorhersehen will, reicht ein Blick nach Barcelona, wo seit den Olympischen Spielen 1992 eine Stadt auf den Kopf gestellt wurde (1).
Weil Kapitalismus unersättlich ist, reicht es den Verantwortlichen in den Reisezielen nicht, eine bestimmte begrenzte Anzahl von Tourist*innen an Land zu ziehen, es müssen immer mehr sein. Auf der Strecke bleibt das Gleichgewicht zwischen den Interessen der Reisenden und der Besuchten, denen der Boden unter den Küchenmöbeln weggezogen wird. Dabei geht es nicht um die Negation von Tourismus, wie es von Reise-Promotoren schnell polemisch in die Debatte geworfen wird, es geht um Verhältnismäßigkeit. Vor allem geht es darum, Lebenswelten vor der Zerstörung zu bewahren. Gebremst werden können Entwicklungen zum Massentourismus einerseits durch politische Maßnahmen und Entscheidungen (wie z.B. das Verbot von privaten Tourismus-Vermietungen) oder durch Initiativen wie TourCert – ein Konzept, das an dieser Stelle vorgestellt werden soll. (2)
Interessenskonflikte beim Reisen
Zum Reisen gehören immer zwei Orte: ein Ausgangs- und ein Zielpunkt. Akteure sind auf der einen Seite Personen, die über genügend Mittel verfügen, um sich arbeitsfreie Tage und Reisekosten leisten zu können. Auf der anderen Seite stehen Personen, die aktiv oder passiv mit dem Empfang der Reisenden in Zusammenhang stehen bzw. gar ihren Lebensunterhalt damit verdienen. Viele dieser Empfänger*innen (Afrika, Lateinamerika, Südeuropa) können die Besuche aus wirtschaftlichen Gründen jedoch nicht erwidern. Immer schon gab es zwischen der einen und der anderen Seite ein Gefälle.
Je stärker bestimmte Orte für den Tourismus erschlossen, oder besser gesagt: monopolisiert wurden, desto schwerwiegender sind die negativen Auswirkungen der Reisetätigkeit für den besuchten Teil. Teilweise gehen die Auswirkungen soweit, dass die Besuchten gegenüber den Ankommenden eine Antihaltung entwickeln, die Auswüchse von Sextourismus und Kinderprostitution z.B. sind hinreichend bekannt. In jedem Reiseziel leben neben Tourismus-Arbeiter*innen auch Personen, die nichts mit Tourismus zu tun haben und dennoch zu Betroffenen der Massenanstürme werden. Viele Reisende vergessen das geflissentlich.
Verträglicher Tourismus
Im Schatten des uniformen Massentourismus existiert ein kultureller Tourismus, geprägt von individuellen Interessen, individuell praktiziert oder in kleinen Gruppen, Wanderer*innen und Pilger*innen zum Beispiel. Ökologischer oder nachhaltiger Tourismus (3) wird diese Version des Reisens genannt, gelegentlich auch sozialverträglich (wenn zum Beispiel eine beschränkte Anzahl von Kleingruppen in Venezuela auf einer Ranch ihren Urlaub verbringen und der Erlös der Reise den Landbewohner*innen direkt zugute kommt, ohne dass Pauschalanbieter den Mammutanteil der Gewinne abziehen). Solche sanften oder verträglichen Reisekonzepte werfen die Besuchsgebiete nicht aus dem Gleichgewicht, sie sind perfekt integrierbar in das Alltagsleben. Aus diesem Grund entstanden neue Organismen, die sich die Suche nach neuen Kriterien und deren Überwachung auf die Fahnen geschrieben haben.
Verantwortlicher Tourismus
„Verantwortlicher Tourismus ist eine weltweite Herausforderung", ist auf den Webseiten von TourCert zu lesen (2). Dafür wurde eine Organisation geschaffen, die jene Anstrengungen ernsthaft kontrollieren will. „TourCert, die gemeinnützige Zertifizierungs-Gesellschaft, vergibt ein CSR-Siegel für Nachhaltigkeit und Unternehmens-Verantwortung im Tourismus. CSR bedeutet Corporate Social Responsibility. CSR ist die Verantwortung der Unternehmen für Auswirkungen des Tourismus auf Gesellschaft und Umwelt. Dazu müssen die Unternehmen über die gesetzlichen Vorgaben hinaus soziale und ökologische Anforderungen erfüllen. CSR steht nicht für einzelne gute Taten, sondern für eine im ganzen Unternehmen verankerte Haltung. Mit dem CSR-Siegel bekennen sich Tourismus-Unternehmen klar zu ihrer Verantwortung für einen nachhaltigen Tourismus. Sie verpflichten sich dazu, ihre Nachhaltigkeitsleistung kontinuierlich zu verbessern. Das CSR-Siegel wird in verschiedenen Sektoren vergeben: für Reiseveranstalter, Reisebüros und Unterkünfte gelten jeweils spezifische Anforderungen und Kriterien für die Zertifizierung“ (2).
CSR steht also für kontrollierte gesellschaftliche Verantwortung im Tourismus. „TourCert" ist das Zertifikat, das die CSR-Organisation jenen ausstellt, die auf freiwilliger Basis die Kriterien akzeptieren und die sich regelmäßig prüfen lassen von der „Gesellschaft für Zertifizierung im Tourismus". Folgende Kriterien liegen der Prüfung zu Grunde:
1. Was bleibt im Land, wenn die Reisesaison vorbei ist?
2. Zahlen Touristikunternehmen ihren Beschäftigten im Land Löhne, mit denen sich eine Familie ernähren lässt?
3. Vermeiden Hotelanlagen Müll und entsorgen sie umweltgerecht?
4. Nimmt die Reiseplanung Rücksicht auf natürliche Ressourcen, z.B. bei der Wasser- und Energieversorgung und beim Natur- und Artenschutz?
5. Stammen die Lebensmittel im landestypischen Restaurant wirklich aus heimischer Produktion?
6. Wieviel CO² produziert der Reiseweg pro Kunde?
Diese und weitere Fragen ergeben ein Bild, wie ökologisch, nachhaltig oder sozial verantwortlich Reiseveranstalter wirtschaften.
Unabhängige Qualitäts-Prüfungen
Unternehmen, die das CSR-Siegel „haben sich mit den sozialen, ökologischen und ökonomischen Stärken und Schwächen ihrer Produktpalette, ihres Umgangs mit Kunden und Mitarbeitenden auseinandergesetzt. Entsprechend den Standards von TourCert haben Unternehmen einen Nachhaltigkeitsbericht sowie ein Verbesserungsprogramm erstellt. CSR ist der Beitrag eines Unternehmens zu einer nachhaltigen Entwicklung, indem es über gesetzliche Vorgaben hinaus soziale und ökologische Verantwortung übernimmt" (2).
Die Berichtsstandards von CSR wurden gemeinsam mit Pilotunternehmen des Unternehmensverbands entwickelt und im Betriebsalltag erprobt. Dadurch wurde ein branchenorientierter Standard für den Bereich des Tourismus geschaffen, der nachprüfbar ist, der Vorschläge zu Verbesserung entwickelt und der auch auf kleine und mittlere Betriebe anwendbar ist. Dieses CSR-System ist kompatibel mit der ISO 26000 (Social Responsibility), der Global Sustainability Tourism Criteria (GSTC), den Berichtsstandards der Global Reporting Initiative (GRI) und den allgemeinen Qualitäts- und Umwelt-Standards nach ISO und EMAS – Zeichen dafür, dass bereits eine internationale Vernetzung der Standards stattgefunden hat (2).
CSR-Leistungsbewertung
Bei der Prüfung werden alle Aspekte der Geschäftstätigkeit beleuchtet: wirtschaftliche Kennzahlen, ökologische und soziale Aspekte, die Leistungsträger, sowie die Verantwortung gegenüber Kunden und Beschäftigten. Alle Aspekte werden zusammengefasst und veröffentlicht. Zum Beispiel wird überprüft, ob Unterkünfte sich aktiv mit dem Schutz vor sexueller Ausbeutung von Kindern auseinandersetzen, oder aus welchen Quellen sie Energie beziehen. Für jede Reise werden CO² Emissionen ermittelt, nicht nur für An- und Abreise, sondern auch für den Transport und die Unterkunft im Gastland.
Indikatoren-Katalog
Vier „Nachhaltigkeits-Checks" beziehen sich auf zentrale Elemente der Dienstleistungskette:
1. die Produktentwicklung bzw. das Zielgebiet, 2. die Partneragenturen, 3. die Unterkünfte, 4. die Reiseleitungen. Der „Mitarbeiter-Zufriedenheits-Index" wird über eine Mitarbeitenden-Befragung erstellt, der „Kunden-Zufriedenheits-Index" auf Basis der Kundenrückmeldungen ermittelt. Zehn Kernindikatoren messen den Grad der Erfüllung der Anforderungen:
1. CO²-Emissionen pro Gast/Tag
2. Unternehmensökologie: CO²-Emissionen pro Mitarbeitenden
3. Anteil des Reisepreises, der ins Reiseland fließt (lokale Wertschöpfung)
4. Qualität der Kundeninformation
5. Zufriedenheitsindex Kunden (mit Rücklaufquote)
6. Zufriedenheitsindex Mitarbeitende
7. Unternehmenserfolg: Cashflow im Verhältnis zum Gesamtumsatz
8. Nachhaltigkeitsindex Partneragenturen
9. Nachhaltigkeitsindex Unterkünfte
10. Nachhaltigkeitsindex Reiseleitung
CSR-Zertifizierung – unabhängig und kompetent
„Die Prüfung wird von einem unabhängigen Gutachter auf der Grundlage der CSR-Berichtsstandards und der CSR-Zertifizierungsrichtlinie durchgeführt. Anforderungen für die CSR-Zertifizierung sind der vollständige Nachhaltigkeitsbericht, ein Nachhaltigkeits-Leitbild, die Benennung eines CSR-Beauftragten, die Erfüllung von Mindestanforderungen sowie ein Verbesserungsprogramm. Bei Unternehmen mit mehr als vier Vollzeitstellen wird eine Überprüfung vor Ort vorgenommen, bei kleineren Unternehmen eine Fernprüfung. Das Zertifikat ist nach Erstübergabe 2 Jahre gültig, dann jeweils für 3 Jahre. Zur Rezertifizierung muss der Nachhaltigkeits-Bericht aktualisiert werden. Das Verbesserungsprogramm ist jährlich zu aktualisieren und TourCert vorzulegen" (2).
TourCert – die Zertifizierungsgesellschaft
Die CSR-Organisation TourCert setzt sich zusammen aus verschiedenen gemeinnützigen Institutionen, die selbst keine materiellen Interessen im Tourismus-Bereich haben, was die Glaubwürdigkeit der Kontrollergebnisse garantiert. Gesellschafter sind: der Evangelische Entwicklungsdienst, Tourism Watch in Bonn, die Kontaktstelle für Umwelt & Entwicklung KATE aus Stuttgart, die Naturfreunde International in Wien, die Hochschule für nachhaltige Entwicklung aus Eberswalde. „TourCert vereint Experten aus Tourismus, Wissenschaft, Umwelt, Entwicklung und Politik. Mit ihrer langjährigen Erfahrung stehen sie für eine qualifizierte Schulung, Beratung und Zertifizierung", heißt es in der Selbstbeschreibung von CSR.
TourCert führt das Register der zertifizierten Unternehmen. Im Februar 2014 trugen das Siegel für Unternehmens-Verantwortung und Nachhaltigkeit im Tourismus insgesamt 79 Unternehmen: 66 Reiseveranstalter, 7 Reisebüros sowie 6 Hotels, vorwiegend aus dem deutsch-sprachigen Raum in der Schweiz, Österreich und Deutschland. Dazu kommen einige wenige Firmen aus Schweden, Frankreich, Finnland und den Azoren (4). Der Nachhaltigkeits-Bericht und die CSR-Siegel ermöglichen es Kund*innen, Reiseveranstalter auszuwählen, die neben wirtschaftlichen auch soziale und ökologische Ziele in ihrem Handeln und ihren Angeboten verfolgen.
Theorie und Praxis: ein baskisches TourCert?
Eine Prüfung nach den CSR-Kriterien würde sicher nicht einmal 5% der weltweit vertretenen Tourismus-Unternehmen aller Art bestehen. Den eingangs zitierten Standards müssten sich vor allem staatliche und lokale Tourismus-Behörden angliedern, wenn sie es denn ernst meinen mit der nachhaltigen Orientierung ihrer Tourismus-Politik. Denn sie sind es, die den Rahmen abstecken, in dem sich die Reise-Unternehmen bewegen können und müssen.
Was bei den Lebensmitteln der Begriff „Bio" ist für Reiseunternehmen das Prädikat „nachhaltig". Beides sind keine geschützten Begriffe, jeder kann sie sich an die Krawatte heften. Für eine objektive Beurteilung ist deshalb eine neutrale Instanz (wie TourCert) notwendig und hilfreich, die selbst keine materiellen oder wirtschaftlichen Interessen im Tourismussektor aufweist.
Für die zu prüfenden Unternehmen bedeutet TourCert in jedem Fall Mehraufwand, Mehrkosten und bei Beachtung aller Vorgaben eine (zumindest vorläufige) Reduzierung der Gewinnspanne. Wo TourCert eingeführt werden soll müssen somit zuallererst die Widerstände der im Tourismus-Sektor präsenten Unternehmen überwunden werden. Eine Option zum Einstieg wäre eine „unfreiwillige und kritische“ Unternehmens-Beurteilung von außen, die zwar nicht die gesamte Betriebsrealität erfassen, die aber medial zu einer Resonnanz führen könnte.
ANMERKUNGEN:
(1) Ein ausführlicher Artikel bei Baskultur.info hat sich bereits vor drei Jahren mit dem Thema Massentourismus und dessen Limitierung befasst: „Alternative Reisekonzepte - Die Reichweite der Nachhaltigkeit“ (Link)
(2) TourCert, die gemeinnützige Gesellschaft für Zertifizierung im Tourismus (Link)
(3) Nachhaltigkeit (Zitate aus Wikipedia): Ende der 1990er Jahre kam aufgrund der zunehmenden Kritik am rücksichtslosen Umgang mit natürlichen Ressourcen - auch im Tourismus - der Begriff der Nachhaltigkeit auf, "ein Handlungsprinzip zur Ressourcen-Nutzung, bei dem die Bewahrung der wesentlichen Eigenschaften, der Stabilität und der natürlichen Regenerationsfähigkeit des jeweiligen Systems im Vordergrund steht". In verständliche Sprache übersetzt heißt das: dem bedenkenlosen Verbrauch von natürlichen Ressourcen soll mit bremsenden Maßnahmen ein Ende bereitet werden, damit künftige Generationen nicht vor verschmutzten Meeren, Hotelburgen und Müllhalden stehen und dort leben müssen. Verträglich sollten sowohl die industrielle Produktion wie auch das Reisen werden. Stelltsich die Frage: verträglich für wen? Vor allem für die kapitalistische Wirtschaft. Denn schlaue Köpfe hatten entdeckt, dass dieses gesellschaftliche Produktionssystem zu Tode wachsen könnte, weil Rohstoffe und natürliche Grundlagen ihre Grenzen haben.
Im Laufe der Jahre hat der Begriff der Nachhaltigkeit in fast allen Tourismus-Programmen Eingang gefunden. „Nachhaltig“ wurde zum Bio-Label der Reise-Gesellschaft. Das stellt den Begriff in Frage. Um dem internationalen Tourismus-Sektor auch weiterhin seine Gewinn-Margen zu garantieren, werden ständig neue Konzepte gesucht, die allen Seiten gerecht werden: den Reisebüros, den Unterkünften, den Reisenden und den Besuchten. Dafür ist jedes Prädikat recht. Nicht in Frage gestellt wird der Anspruch auf Profit, er bleibt eine Art Naturrecht derer, die die Reisekalender gestalten und die bestimmen, welches Ziel oder Land angesagt ist und welches nicht.
ABBILDUNGEN:
(*) Tourismus Baskenland, Foto-Archiv-Txeng