Besetzungs-Tourismus
Beim üblichen Gang zum Mercado-Markt in Bilbao sahen sich im Oktober 2019 die Stammkund*innen plötzlich Polizeikontrollen und Verbotsschildern gegenüber. Niemand kapierte, worum es ging. In der Zeitung hatte nichts gestanden, erklärt wurde nichts. Dafür waren Polizisten und Security-Leute zugange, am frühen Abend kreiste sogar ein Polizei-Hubschrauber über der Altstadt. In letzter Minute entdeckten findige Nachbar*innen den Grund des Blockade-Manövers: Der Volkswagen-Konzern hatte den Markt besetzt.
Weil die Durchführung eines großen Kongresses in Bilbao billiger war als irgendwo in Deutschland, besetzte der VW-Konzern die historische Markthalle der Stadt. Gegen gutes Geld versteht sich. Die einheimische Bevölkerung reagierte mit zwei Lärmkonzerten, die für die ungebetenen Gäste die Terrasse zur Unmöglichkeit machten. Einmal mehr verkaufte sich Bilbao an die Meistbietenden.
Kongress-Tourismus
Dass der abgas-geschundene, multinationale deutsche Automobil-Konzern Volkswagen einen Kongress mit über 4.000 vorwiegend deutschen Gästen abhielt, war allgemein bekannt. Im Messezentrum Bilbao, das seltsamerweise in der Nachbarstadt Barakaldo liegt. Eigentlich keine Besonderheit, denn für Kongresse und Ausstellungen ist die Messe ja da.
Nicht bekannt war das After-Programm nach dem offiziellen Part. Dieses After betraf Bilbao direkt. Seltsamerweise wusste das niemand – außer ein paar Eingeweihten in der Stadtverwaltung. Denn als Sahnehäubchen hatten sich die Abgasschwindler die Markthalle in Bilbao gemietet, besser gesagt, den gastronomischen Teil davon, der somit der Öffentlichkeit eine Woche lang verschlossen blieb: für die Drinks nach dem anstrengenden Kongress und für eine lautstarke Disco unter dem historischen Dach.
Die Stadtverwaltung ließ sich nicht lumpen. Genehmigung für die Tanzparty (Montag, Dienstag) gab es keine, sie wurde posthum nachgereicht. Die Nachbar*innen konnten nicht schlafen, weil sich die Besucher*innen nicht an die Vorgaben hielten – ein touristischer Betriebsunfall. Schlaflose Nächte sind Kollateralschäden, wenn es um höhere Werte geht, sprich um viel Geld. 150 (kurzfristige) Arbeitsplätze und neun Millionen soll der zweifelhafte Spaß nach Bilbao gebracht haben, in welche Kassen, das ist eine andere Frage. Denn sogar das Wach- und Servierpersonal hatten die Deutschen mitgebracht.
Elitäre Cocktailbar
Dass die germanischen Kongress- und Cocktail-Gäste zumindest auf der flussnahen Terrasse nicht mehr kommunizieren konnten, dafür sorgte die empörte Nachbarschaft mit einer “Cacerolada“. Dabei handelt es sich um eine ziemlich geräuschvolle Protestform, bei der alle Teilnehmer*innen Töpfe und Deckel mitbringen, die sie kräftig aneinanderschlagen. Wenn es gar mehrere Hundert sind, kommt da schon einiges an Lärm zusammen. Bei einer Gelegenheit fragte ich einen der Kongressisten, weshalb die Tagung denn nicht in Germoney selbst abgehalten würde, das hätte doch immerhin 40 Charterflüge erspart. Die überraschende Antwort: “In Deutschland ist ein solcher Kongress nicht bezahlbar, Bilbao ist viel billiger“. Ich war platt. Er hätte auch sagen können: “Solche Kongresse organisieren wir lieber in der Dritten Welt“. Das war noch nicht alles. Ich fragte, wie er das denn finde, dass eine wichtige Einrichtung der Stadt für Einheimische geschlossen werde, um sie exklusiv Kongress-Touristen zu überlassen. Die lapidare Antwort: “Dafür bleibt ja auch viel Geld hängen“. Geld regiert die Welt, alles ist käuflich. Auch und gerade Bilbao. Deutschland, Deutschland …
Bananen und Prostitution
Tatsächlich: wo Tourismus über alles geht (wie derzeit fast überall im Baskenland), wird Bilbao zur Bananenrepublik. Dazu passte, dass die korrupte Autogesellschaft ihre eigenen Kellner mitgebracht hatte. Wenn hier irgendjemand touristischen Reibach machte, waren es die Hotelketten (in Barakaldo) und die Taxis – nicht zu vergessen die Prostituierten im bilbainischen Stadtteil San Francisco, keine 300 Meter vom Disco-Mercado entfernt, die zu nächtlicher Stunde kräftig gefordert waren. Bilbao ist zu klein, als dass irgendjemand irgendetwas entgehen würde. Nur die Abgas-Deutschen wissen das nicht.
Das VW-Kongress-After und die damit verbundene vorübergehende Marktenteignung hatten einen bislang unbekannten Überraschungs-Effekt. Üblicherweise werden touristische Großereignisse in Bilbao mit Pauken und Trompeten angekündigt, mit den kalkulierten Millionen-Einnahmen, von den Medien mit großen Überschriften begleitet. Das genaue Gegenteil war beim Hitlerauto-Hersteller der Fall: keine Ankündigung, keine Nachricht über den Mercado, kein gar nichts. Was entweder daran lag, dass von Seiten des Rathauses höchste Geheimhaltung angesagt war; oder dass sich die Medien als “embedded“ funktionalisieren ließen, wie dies in der Kriegssprache heißt, wenn die Journalisten in der Truppe mitreisen dürfen, um als Gegenleistung deren offizielle Pressemeldungen wortgetreu nachzuplappern.
Nichtinformation
Klar war, dass eine frühe Information über Kongress und Markbesetzung von Seiten der tourismus-kritischen Nachbarschaft zu einer deftigen Antwort geführt hätte. Die galt es aus Sicht des Rathauses zu vermeiden. Mit Nichtinformation. Demokratie in Bilbao, wo die Sonnenkönige das Sagen haben. Dafür wurden zur Abwehr des nachbarschaftlichen Protestes Dutzende von Stadtpolizisten geschickt – bezeichnenderweise nicht wie üblich die vermummten Schlägertrupps der baskischen Ertzaintza-Polizei, bei der ein Protesthusten in der Regel zum Einsatz von Gummigeschossen führt. Denn irgendjemand hustet immer.
Doch war ein solcher offizieller Gewaltakt in diesem Fall weder erwünscht, noch denkbar, sondern um jeden Preis zu vermeiden: unter den Augen der angefeindeten VW-lerinnen, die mit Sicherheit alle ihre Handys gezückt hätten, um den Ursprung des unerfreulichen Lärms sozialmedial in der Medienwelt zu verbreiten. Ein Schlagstockeinsatz wäre über twit und face um die halbe Welt gegangen. Zudem haben Gummi-Querschläger schon mehrfach die Falschen getroffen. Die leuchtgelben Stadthüter gingen deshalb mit ungewohnter Eselsgeduld vor. Ich schlich mich dennoch an den Bewachern vorbei Richtung Cocktailbar, um als Fotojournalist meine Arbeit zu tun. “Mich fotografierst du nicht!“ – bekam ich in drohendem Ton zu hören. “Ich mache meine Arbeit. Wirst du mich deshalb verprügeln?“ sagte ich so laut, dass es in der näheren Umgebung alle hören könnten. Sofort stürzten sich zwei “Verantwortliche“ auf den Droher und zogen ihn aus dem Blickfeld. Sein Ton war auch innerhalb der Partymeile nicht erwünscht.
Nicht informiertes Stadtparlament
Später nahm ich die Gelegenheit wahr und fragte einen Stadtrat, wann er denn von diesem unerfreulichen Discobesuch erfahren habe. Wenige Stunden vor der Party, sagte er. Aber irgendjemand muss es doch gewusst haben, erwiderte ich, zumindest die ganzen Kneipiers, deren Theken eine Woche lang geschlossen blieben. Er stimmte mir zu. Die hatten – außer Ausfallsgeld – wahrscheinlich keine weiteren Informationen erhalten. Oder sie hielten unter Androhung von Prügelstrafe dicht.
Nach dem Kongress und hinter verschlossenen Türen kam es im Rathaus dann zu lebendigen Diskussionen, zwischen den Intrigisten und den Nichtinformierten. Selbst die ersten waren mit dem Ablauf der Party nicht zufrieden, weil die Disco-Herren sich nicht an die Absprachen und vorgegebenen Dezibel-Zahlen gehalten hatten. Man habe daraus gelernt, Vergleichbares solle deshalb nicht mehr vorkommen. Aber natürlich machen die das wieder, meinte mein in den Rat gewählter Gesprächspartner. Im Übrigen spiele sich diese Diskussion unsichtbar hinter den Türen des Rathauses ab, eine öffentliche Auseinandersetzung gäbe es nicht, sie sei gar nicht gewollt. Ich konnte mich glücklich schätzen, so viel exklusive Information zu erhalten und einen Blick in die Abwasser-Kanäle der Politik werfen zu dürfen.
Fazit
Nach dem zweiten Cacerolada-Abend (Erinnerung: lautstarke Topfdeckel) durfte die Nachbarschaft Bilanz ziehen: Erstens: Öffentlicher Raum steht immer dann zur privaten Nutzung bereit, wenn allein die Bezahlung stimmt. Zweitens: Kongress-Tourismus ist immer auch Prostitutions-Tourismus. Drittens: Bilbao hat beste Chancen, demnächst als Bananenstadt der Dritten Welt zugerechnet zu werden. Viertens: Auf die Presse ist Verlass, wenn Schweigen angesagt ist, geht keine Information durch den Blätterwald. Fünftens: Demokratische Verhältnisse sind ein anderes Kapitel.
Ein Mal ist immer das erste Mal, beim zweiten Mal tut es dann schon nicht mehr ganz so weh. Was Bilbao bereits über sich ergehen lassen musste sind ein Formel-2-Autorennen in der Innenstadt, ein neuer Kreuzfahrt-Anleger für 120.000 Meerverseucher*innen pro Jahr, eine Basketball-WM, Turmspringen neben dem Guggenheim, ein europäisches Rugby-Finale, das die Hotelpreise um 1000% hochschnellen ließ, ein jährliches Rockfestival mit 120.000 (in diesem Fall Besucher*innen und nicht Dezibel), eine elitäre MTV-Europa-Gala, u.v.a.m. Was bevor steht sind eine Startetappe der Tour de France und die Europameisterschaft im Kicksport, bei der sogar eingefleischte Fußballfans angewidert den Kopf wegdrehen. “Piztu Bilbo“, schrieb kürzlich eine neue Bürgerinitiative auf ihre Plakate, auf Baskisch heißt das: “Bilbao anzünden“. Gemeint ist der Protest der Gentrifizierungs-Opfer und Tourismus-Gegnerinnen.
(Redaktion Baskultur.info)
ABBILDUNGEN:
(*) Foto Archiv Txeng (FAT)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2019-11-09)