Dunkle baskische Leidenschaften
Als Martzelina in ein unbekanntes Dorf kommt, schlagen ihr Häme und Misstrauen entgegen. Von den Frauen wird sie gemieden, von den Männern bedrängt, weil man der Ansicht ist, sie sei “leicht zu haben“. Schließlich heiratet sie Domingo, der sein Leben immer häufiger bei waghalsigen Mut- und Härteproben riskiert. Bis eines Nachts eine Wette eskaliert. Roman des baskischen Schriftstellers Anjel Lertxundi, auf einer wahren Begebenheit basierend.
“Domingos letzte Wette“, Roman von Anjel Lertxundi (*1948 Orio, Gipuzkoa), erschienen 2008 im Verlag Pahl-Rugenstein, Übersetzung aus dem Baskischen von Hans-Joachim Wilke (90 Seiten).
Wetten haben im Baskenland eine lange Tradition. Nicht erst, seit über Internet die Wettangebote direkt ins Haus kommen. Auch nicht erst durch die Vervielfachung von Wettbüros in den Straßen. Wer zum Beispiel eine Partie Pelota anschaut, live oder am Fernsehen, kann nicht die Männer in grünen oder braunen Jacketts übersehen, die am Spielfeldrand stehen, dem Spiel den Rücken kehrend, den Blick auf die Zuschauer*innen gerichtet, von denen sie in aufgeschlitzten Tennisbällen Wettzettel zugeworfen bekommen. In längst vergangenen Zeiten, so heißt es, hat mancher Bauer beim Wetten Haus und Hof aufs Spiel gesetzt.
Pelota-Wetten sind die legale Version der Leidenschaft, die leicht zur Sucht wird. Denn jeder Verlust muss durch einen Gewinn wettgemacht werden (im wahrsten Sinne des Wortes). Und jeder Gewinn beflügelt dazu, die Glückssträhne ins Endlose zu verlängern. Zur dunklen Seite der Wett-Leidenschaft zählen Hahnenkämpfe – illegale Machenschaften, an denen fast ausschließlich Männer beteiligt sind, die immer höhere Einsätze riskieren und in ihrer Sucht jegliche Grenzen verlieren. Von solchen Leidenschaften handelt Anjel Lertxundis Roman “Domingo letzte Wette“. Von Realitätsverlust, Rücksichtslosigkeit, Männergesellschaften, Marginalisierung von Frauen, vom Versuch, aus der langweiligen Enge der dörflichen Sozialkontrolle auszubrechen oder davon zu profitieren.
Dorf-Idylle
Anjel Lertxundi ließ sich bei “Domingos letzte Wette“ von einer wahren Begebenheit zu diesem Roman inspirieren. Er bricht die Klischees von dörflicher Idylle und beschreibt mit beklemmender Intensität ein Milieu, das Grausamkeit billigt, fordert und gedeihen lässt. Zeugen und Akteure bringen die verhängnisvollen Verstrickungen ans Licht, aus ihren Erinnerungen fügt sich nach und nach eine Geschichte zusammen. Lertxundis Kurzroman gilt als Klassiker in der baskischen Literatur und kam 1985 als eine der ersten baskischen Literatur-Verfilmungen auf die Leinwand.
Das Buch ist keine chronologische Beschreibung der Geschichte von “Domingos letzter Wette“. Vielmehr handelt es sich um einen Flickenteppich von Aussagen und Beobachtungen, der einem nicht näher definierten Journalisten oder Chronisten den Fall langsam nachvollziehbar macht. Die Geschichte besteht aus Dutzenden von Beschreibungen und “Zeugen-Aussagen“ zum Alltag im Dorf, die alle in der Ich-Form gehalten sind. Nur der Protagonist Domingo fehlt dabei – zwangsläufig.
“Von meinen Eltern erfuhr ich von dem, was geschehen war und später noch folgte“, so mischt sich der Chronist im Laufe der Erzählung ins Geschehen ein. “Mein Vater lebt seit seiner Geburt in dem Dorf, in dem sich all das zugetragen hat, deshalb habe ich zu Hause so oft Äußerungen gehört, die auf diese Geschichte anspielten, aber auch in einigen anderen Orten, sowohl an der Küste als auch im Binnenland, in die ich durch meine Arbeit kam, habe ich zahllose Versionen desselben Ereignisses zu hören bekommen, zig unterschiedliche Darstellungen, zusammengesetzt aus den immer gleichen Worten. Es hat mich immer gewundert und beunruhigt, warum das Dorf solche Geschichten aufbringt und im Gedächtnis behält“.
Frauenschicksal
Trotz des Protagonisten Domingo macht Lertxundi in seinem Kurzroman Domingos Frau und Witwe Martzelina zur Hauptperson. Sie ist der weibliche Gegenpart zur verlogenen und dekadenten Machowelt. Erzählt wird ihre Geschichte seit ihrer Ankunft im Dorf: ihre Marginalisierung, ihre Entscheidung für Domingo, ihr dauerhaft ertragener Missbrauch, die Diktatur ihrer Schwiegermutter, ihr immerwährendes Warten auf die Heimkehr ihres Mannes, ihre Ahnung, dass irgendwann noch dunklere Wolken aufziehen und tragische Ereignisse um Domingo auf sie zukommen. Eine ihrer Geschichte beraubte Frau, die sich auch von den widrigsten Umständen nicht unterkriegen lässt.
Denn Domingo verbrennt nach der Hochzeit Martzelinas Koffer mit ihren Erinnerungen aus dem Leben zuvor. Martzelina: “Sie werden verstehen, warum ich Ihnen nicht von der Zeit, bevor ich ins Dorf kam, berichte. Weder meine Heirat noch der Hochzeitssegen und nicht einmal die Worte des Priesters brachten mir zu Hause und im Dorf Achtung ein. Die Missachtung im Dorf lernte ich später kennen als die, die ich im eigenen Hause erfuhr, wo ich die meiste Zeit verbrachte, um mich um die Mutter meines Mannes zu kümmern“.
Über den Priester vervollständigt Lertxundi seine dörfliche Sozialstudie: “Meine mehr als zwanzigjährige Tätigkeit als Priester hat mir deutlich gezeigt, dass mit diesen Leuten nicht so leicht klarzukommen ist, wie es scheint, ich kenne sie gut, und wenn Sie einen von ihnen um einen Gefallen bitten müssen, werden auch Sie das erleben, bedauerlicherweise hatten die Leute jahrelang Martzelina auf dem Kieker, und ich weiß, dass es noch heute so ist, dass sie ihr nicht verziehen haben, aber was soll ich Ihnen schon sagen, es sind alle meine Gemeindekinder, und ich werde jetzt keine Namen preisgeben, aber Sie sollen doch zur Kenntnis nehmen, dass das, was Sie mit so viel Mühe untersuchen und herausfinden wollen, die Leute hier kaum kümmert, ich will mich nicht in Ihre Arbeit einmischen, aber halten Sie Ihr Vorhaben für nutzbringend, wenn Sie das Leid, das wir seit Langem begraben haben, auferstehen lassen?“
Wetten und Spielen
Dass die Angst vor der alles überwachenden Guardia Civil in Lertxundis Geschichte ständig präsent ist, lässt darauf schließen, dass die Handlung im Franquismus angesiedelt ist. Wetten und Spiel-Leidenschaft haben im Baskenland eine lange Geschichte und sind gleichzeitig hochaktuell. Das Live-Wetten beim Pelotaspiel ist nur ein kleiner Teil des Panoramas. Bei der jährlichen Weihnachts- und Neujahr-Lotterie werden Millionen umgesetzt, ebenso bei der wöchentlichen ONCE-Lotterie, deren Wettbuden überall das städtische Bild zieren.
Jede noch so kleine baskische Gaststätte organisiert Neujahrs-Tombolas (span: rifa), bei denen ein Gewinnkorb mit (oft gesammelten) Gegenständen gefüllt und an Silvester verlost wird, der Erlös ist häufig für einen guten Zweck. Dasselbe gilt für die wöchentlichen Fußball-Tippwetten. In Kneipen stehen Spielautomaten, an die Kinder Stühle rücken, um an die Tasten zu kommen. In Zeiten von Internet haben auch Jugendliche Zugang zu Wetten, wenn die Eltern nicht aufpassen. Zuletzt machten sich in den größeren baskischen Städten Eltern Sorgen um ihre Sprößlinge, weil das Spinnennetz von Spielsalons immer engmaschiger wird, zu ihrer Minimalforderung wurde, dass solche Etablissements nicht näher als 500 Meter an Schulen situiert sein sollen. Psycholog*innen berichten von einer steigenden Zahl von Spiel- und Wettsüchtigen. All das macht “Domingos letzte Wette“ (Erstpublikation 1983) zu einer hyperaktuellen Beschreibung der baskischen Gesellschaft.
Der Autor
Anjel Lertxundi (*1948) stammt aus Orio in Gipuzkoa. Er gilt als einer der wichtigsten Autoren baskischer Literatur und schreibt auch regelmäßig für baskisch-sprachige Tageszeitungen. Er studierte am Priesterseminar in Donostia, später Philosophie und Geisteswissenschaften in Rom und Valencia. Er arbeitete als Lehrer, Schulleiter und Dozent. 1970 erschien sein erstes Buch, eine Sammlung von Kurzgeschichten. Mittlerweile umfasst sein literarisches und publizistisches Werk auch Romane, Essays und Artikel, Kunst- und Filmrezensionen für die Zeitungen Egin, Egunkaria, Berria, Diario Vasco, El Pais, El Mundo, La Vanguardia, Diario 16 und El Correo.
Lertxundis großes Anliegen ist die Pflege und Weiterentwicklung der baskischen Sprache Euskara. So befasst er sich unter anderem mit der Neuschöpfung baskischer Worte, für Begriffe aus der Welt des Internets. Er war Mitbegründer und Vorsitzender des Baskischen Schriftstellerverbands EIE und ist Mitglied von Euskaltzaindia, der Königlichen Akademie der Baskischen Sprache. Zweimal gewann er den Baskischen Literaturpreis sowie den Spanischen Kritikerpreis. Im Jahr 2000 wurde er mit dem Rosalia de Castro-Preis des galicischen PEN-Clubs geehrt.
Baskische Reihe “Zubiak“
Zwischen 2007 und 2009 publizierte der bundesdeutsche Verlag Pahl-Rugenstein eine Reihe von baskischen Romanen in deutscher Übersetzung, unter dem Titel “Zubiak“ (Brücken), Baskische Bibliothek. Unter den Autor*innen sind folgende Namen und Titel zu finden: Aingeru Epaltza: “Rock’n’Roll“ – Edorta Jimenez: “Der Lärm der Grillen“ – Arantxa Urretabizkaia: “Das rote Heft“ – Karmele Jaio: “Mutters Hände“ – Harkaitz Cano: “Pasaia Blues“ – Iñigo Aranbarri: “Löcher im Wasser“ – und: Anjel Lertxundi: “Domingos letzte Wette“.
ABBILDUNGEN:
(1) Anjel Lertxundi (zubiak)
(2) Pelota-Wetten (diario de navarra)
(3) Spielsucht (elcorreo)
(4) Anjel Lertxundi (zubiak)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-11-09)