Hurra, die Schule brennt!
Die Coronavirus-Pandemie zieht sich dahin. Die zweite Welle (seit August) macht keine Anzeichen von Rückgang. Langsam zeigen sich die wirtschaftlichen Folgen der Covid-Krise: Läden, Gaststätten und Unternehmen schließen. Die Impfspritze ist in weiter Entfernung. Die Schulen wurden wieder geöffnet und zum neuen Dauerthema oder Dauerkonflikt, weil zu wenig Personal mit zu wenig Material einer unbekannten Situation gegenübersteht. Kaum geöffnet mussten einige Einrichtungen wieder geschlossen werden.
Früher als “geplant“ begann die zweite Coronavirus-Welle durch die baskischen Lande zu ziehen. Als Überträger werden der Tourismus, das Nachtleben, die Kneipen und die exzess-liebende Jugend gebrandmarkt. Die internationalen Reisewarnungen stehen. Im Baskenland stehen viele Mini-Unternehmen vor dem Ruin. Im Schulbereich stehen viele Konflikte an.
2020-10-15 / Zweite Welle (64) / Gesundheits-Notstand (60)
STREIK FÜR GESUNDHEIT!
Es ist müßig, nach dem Tropfen zu suchen, der das Fass bei den Bediensteten im Gesundheits-Bereich zum Überlaufen brachte. Seit Beginn des Lockdowns, seit die Krankenhäuser überquollen und die Angestellten besonders häufig Ansteckungen erlitten fordern sie bessere Ausrüstung, mehr Personal und die Verringerung der gesundheitlich-beruflichen Risiken: nicht gehörte Rufe in der Wüste. Sie haben bereits vor der Pandemie vor den vielen Unzulänglichkeiten im Sektor gewarnt und im vergangenen Jahr schon einen Warnstreik organisiert. Ohne Reaktion der Behörden. Nun werden es drei Tage Streik sein, einer in jeder der drei Provinzen Araba, Bizkaia und Gipuzkoa.
Die baskische Regierung sieht das Panorama selbstverständlich völlig anders, spricht von Dialog (den sie selbst verweigert) und wirft den Gesundheits-Gewerkschaften Verantwortungslosigkeit vor. Es gäbe keinen Grund zum Streik und schon gar nicht während einer Pandemie. Die Streikaufrufer*innen sind sich darüber im Klaren, dass ihr Ausstand problematisch ist, angesichts des erneut drohenden Kollaps im Gesundheitswesen. Dass sie dennoch die Streik-Entscheidung getroffen haben, macht nur deutlich, dass sie mit dem Rücken zur Wand stehen.
Die erste Welle Coronavirus hat viele Angestellten an den Rand ihrer Belastbarkeit gebracht. Ständig in nächster Nähe mit dem Virus konfrontiert, mit völlig unzureichenden Schutzmitteln ausgerüstet und zu Hause eine Familie, die auch nicht angesteckt werden soll. Im April und Mai waren haarsträubende Berichte zu hören – die von der Regierung regelmäßig dementiert oder heruntergespielt wurden. Der Gipfel ist, dass von Seiten der Regierung der Vorwurf kommt, die Gewerkschaften würden bewusst von falschen Zahlen ausgehen – wo es die Regierung war, die die Zahlen ständig nach unten gerechnet hatte.
Die kommenden Streiktage werden alle Ebenen des Gesundheitsbereichs betreffen, die Ambulanzen in den Stadtteilen wie die Krankenhäuser. “Sie haben uns keine andere Wahl gelassen“, argumentieren die Gewerkschaften und sind sich einig wie selten: SATSE, ELA, LAB, die Mediziner-Gewerkschaft, CCOO, UGT, ESK, SAE und UTESE. Die Einigkeit ist in weiterer Hinweis auf den Notstand, der überall herrscht, provoziert von Sozialkürzungen einerseits und vom Setzen auf den privaten Sektor andererseits.
Araba beginnt am 29. Oktober mit den Streiks, am 5. November ist Gipuzkoa dran, Bizkaia schließt den Zyklus am 12. November. Klar ist, dass der Streik nur das öffentliche System betrifft, die privaten Anbieter beteiligen sich nicht. Erwartet wird, dass die im öffentlichen Bereich beteiligten Subunternehmen sich den Streiks noch anschließen. Nach Ansicht der Gewerkschaften leidet der Bereich seit Jahren unter “strukturellen Missständen“, auf die die Regierung nur mit “propagandistischen Diskursen reagiert, nicht aber mit konkreten Maßnahmen. Es bedarf keiner besonderen Vorstellungskraft, dass diese Mängel durch die Pandemie vervielfacht wurden. Die Qualität der Arbeitsplätze ging rapide nach unten.
“Wir sprechen von zu wenig Material und Personal, von ständiger Überlastung, von zu viel Zeitverträgen, von körperlicher und emotionaler Erschöpfung, von der Beschneidung von Arbeitsrechten, von Privatisierung der Dienstleistungen und von Vernachlässigung der Gesundheit der Arbeitenden.“ Deshalb ist Streik die einzig denkbare Maßnahme, um die politisch Verantwortlichen unter Druck zu setzen.
2020-10-09 / Zweite Welle (58) / Gesundheits-Notstand (54)
SCHALLGRENZE
Die Coronavirus-Pandemie hat eine Million Tote gefordert. Schrieb die bürgerliche Presse am 28. September. In Berufung auf das globale-Statistik-Institut Worldometer, das sich die Mühe macht, die Infizierten und Toten in Echtzeit zu zählen. Die Welt-Gesundheits-Organisation WHO war noch nicht ganz so weit, ihr fehlten noch ein paar Tote zur Millionengrenze, gleichzeitig warnte sie davor, dass aus eins zwei werden könnte.
Die Medien sprechen von einer nicht nur zahlenmäßig eindrucksvollen Grenze, sondern von einer, die auch psychologisch ihre Spuren hinterlässt. Vorausgesetzt, der Covid existiert überhaupt, was nicht wenige Negationisten bis heute bezweifeln. Eine Million? Viele werden aufgrund der mannigfaltigen Zählfehler (oder Zahlen-Manipulationen) diese Angaben entweder nach unten oder nach oben korrigieren wollen. Das gehört mit zum Spiel beim Rennen des Hasen und des Igels.
In einigen Ländern ist die zweite Welle am Wüten, in anderen hat die erste noch gar nicht aufgehört. Der Befall ist nicht mehr so flächendeckend und metrolpolen-fixiert wie im April. Vielmehr schlägt der Virus ungleich zu. Wo die Maßnahmen gut und vernünftig sind, hat er weniger Chancen. Unfähige Politik und Fest- oder Tourismus-Exzesse öffnen hingegen alle Tore. Immer sind es bestimmte Orte, die gerade Rekordzahlen schreiben und neue Lockdowns erleben: das können heute Azkoien oder Azpeitia im Baskenland sein, oder morgen Paris, Brüssel und Marseille, Cardfiff und Swansea in Europa.
Völlig unklar, wohin die Entwicklung führen wird. Europa liegt mit 5,6 Millionen Betroffenen an dritter Stelle in der Kontinenten-Lliste, angeführt von Amerika mit 16,2 und Asien mit 6,7 Millionen Menschen. Die Prognosen sind pessimistisch, zudem heißt es, dass die Winter-Bedingungen den Virus begünstigen. Viele Gegenmaßnahmen waren schwer verdaulich und haben zu Protesten geführt, zuletzt in Berlin, Madrid und London. Proteste von sehr unterschiedlicher Natur: In Madrid wurde eine Verbesserung des Gesundheits-Systems gefordert, in Berlin verteidigen Ultrarechte die Demokratie.
Überraschend und (aus hiesiger Sicht) frustrierend wirkt ein Blick nach China, dem angeblichen Entstehungsland der Pandemie. Dort gibt es wieder Massenveranstaltungen, die Bevölkerung zirkuliert wie vorher und ohne Masken. Dafür wurde ein hoher Preis von Lockdown bezahlt, von dem sich in Europa kaum jemand eine Vorstellung machen kann.
Die Pandemie hat Akzente gesetzt innerhalb der sozialen und regionalen Ungleichheiten. Von den (offiziell) 33 Millionen Infizierten stammt ein gutes Drittel aus den USA und Indien (7 und 6 Millionen). Im Tal der Toten liegen die USA mit 205.000 an der Spitze, dahinter Brasilien mit 142.000. Beide Länder werden angeführt von Präsidenten, die mehrfach die Pandemie angezweifelt und konsequenten keine Maßnahmen ergriffen haben. Der Brasilianer Bolsonaro bezeichnete die Krankheit als “kleine Grippe“, bevor er selbst angesteckt wurde. Ähnliches geschah vor wenigen Tagen in den USA.
2020-10-08 / Zweite Welle (57) / Gesundheits-Notstand (53)
EINE BLEIERNE ZEIT
Schwermütige Normalität liegt auf den baskischen Straßen. Die meisten haben sich an die Masken gewöhnt und die Lehrerinnen und Schulbetreuerinnen daran, dass sie zu Hilfspolizisten gemacht wurden. Das Personal der Schulkantinen geht für mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen in den Streik, ebenso die Pelota-Spieler und die Ladearbeiter im Hafen. Und das Personal in den Krankenhäusern, diese vor wenigen Monaten als Helden der Nation hochgejubelte Berufsgruppe wird derzeit noch am ehesten ernst genommen.
Zur Gewohnheit geworden ist, jeden Tag eine Nachricht von einer Betriebsschließung zu hören, oder zumindest einer Reduzierung der Belegschaft. Wirtschaftskrise, allen geht es an den Kragen. Bei den kleinen Kneipen läuft der Kampf ums Überleben, wenn nicht ausreichend Tische und Stühle vorhanden sind. Auch sie gehen in Ausstand – Freitag abends eine viertel Stunde, mehr wäre Selbstmord.
An den Wochenenden wird der Kneipengang zum Roulette um die Sitzplätze, den im Stehen darf nicht getrunken werden, weder drinnen noch draußen. Diese Regel soll fallen, fordern die kleinen Kneipiers. Die ganz Kleinen, die gewöhnlich überhaupt keine Stühle haben (weil Sitzen für den Arsch ist), haben einen Survival-Trick entwickelt: die Getränke bleiben auf der Theke stehen, die Gäste stellen sich auf die Straße, wer einen Schluck nehmen will, geht eben kurz rein. Verwechslungen ausgeschlossen, noch so ein Teil neuer Normalität, die mit Gelassenheit und Selbstverständlichkeit genommen wird. Das Wichtige ist, sich zu treffen wie immer.
“Wie immer“ denken sich auch jene aus der jüngeren Generation, die “Keine Fiestas“ feiern, wenn die Fiestas abgesagt werden. Man kann den Eindruck bekommen, dass im Baskenland “das Recht auf Fiestas“ eine größere Bedeutung hat als “das Recht auf Wohnung“ oder “das Recht auf Gesundheit“. Ersteres wird bei jeder Gelegenheit eingefordert, die beiden anderen eher selten. Weil aber Fiestas in Corona-Zeiten nicht ganz ohne Grund untersagt sind, führt das Insistieren unweigerlich zum Zusammenstoß mit den Ordnungshütern, es ist wie „mit 180 an der Radaranlage vorbeifahren“: die Folgen sind schon vorher bekannt. Die einen tun ihre Pflicht mit dem Schlagstock, den anderen darf mentale Beschränkung bescheinigt werden. Die Alternative wäre, mit zehn Freundinnen ganz legal ein Straßencafé aufzusuchen, aber dort fehlt der Exzess, der Kick, der Kitzel, das Koma. Und die Sucht danach führt zu geistigen Kurzschlüssen, die nicht ohne Folgen bleiben.
Die Bekanntgabe der Zahl der Neuansteckungen und Toten ist wie die Verkündung, auf wen der erste Preis fällt: “Heute trifft es Gasteiz, morgen Eibar und übermorgen Orkoien“. – “Wir können uns nicht beschweren über die Corona-Misswirtschaft“, legt mir ein befreundeter Kneipengänger-Kollege nahe. “Die das entscheiden, haben wir doch selbst gewählt!“ ist sein Argument. Aber nicht alle gehen wählen.
“Wenn wir über den Atlantik schauen kommen wir direkt in Versuchung, uns mit den regierenden Politikern hier glücklich zu schätzen. Im Vergleich zu jenem Psychopathen, der von einer Krankheit befallen wurde, von der er noch vor Kurzem behauptet hatte, dass es sie gar nicht gäbe. So wie es die Klimakatastrophe ebenfalls nicht gibt. Im Krankenhaus wurde er mit Steroiden derart vollgepumpt, dass er völlig aufgedreht war und bei einem Dopingtest sicher auf Lebenszeit gesperrt werden würde. Als er entlassen wurde, sagte er, er fühle sich besser als vor 20 Jahren. Das ist nichts anderes als die Nebenwirkung der Stoffe, die von der staatlichen Gesundheitsbehörde noch nicht einmal legalisiert wurden. Der Typ war vorher schon gemeingefährlich und ein Amokläufer, jetzt hat er qualitativ die nächste Stufe erreicht.“
Indeed, beunruhigend. Trump bezeichnete seine Covid-Ansteckung als “Gnade Gottes“, weil er so ausprobieren konnte, was er ganzen Nation demnächst gratis zukommen lassen will. Nur zehn Patienten außerhalb klinischer Versuche hatten Zugang zu diesem pharmazeutischen Mega-Cocktail. “Von solchen Leuten werden die USA regiert“, sagte mir der Kollege im Stehen. Das überzeugt mich dennoch nicht von der heimischen Regierungstruppe. Beim Kriterium des kleineren Übels wird die Messlatte bekanntlich immer nach unten gelegt.
2020-10-07 / Zweite Welle (56) / Gesundheits-Notstand (52)
WEITER SCHULSTREIKS
Weiter sind die Schulkantinen ein zentraler Streitpunkt im neu gestarteten Schulbereich. Darin sind sich die vier großen im Baskenland aktiven Gewerkschaften einig: ELA, LAB, CCOO und UGT. Um die “Improvisierung“ zu beklagen, mit der sich die baskische Regierung durch die Corona-Krise schlängelt, wurden drei Streiktage für die öffentlichen und die privaten Schulen anberaumt: am 21., 27. und 29. Oktober.
Gefordert werden sichere und qualitativ gut ausgestattete Arbeitsplätze. Dafür muss mehr Personal eingestellt werden. Denn durch das neue System von Kleingruppen von Lehrer*innen und Schüler*innen kommt das Betreuungs-System an seine Grenzen. Obwohl die Notwendigkeiten und Forderungen klar auf dem Tisch liegen, ist die Regierung zu keinen Gesprächen bereit und arbeitet weiter mit Verordnungen von oben.
“Was wir erfahren, kommt aus den Medien, als Gewerkschaften werden wir ignoriert“, so das bisherige Fazit. Obwohl offiziell 500 neue Einstellungen versprochen wurden, ist nichts geschehen, in den Schulen wird trotz des Kleingruppen-Modells (zur Verhinderung von Covid-Ansteckungen) mit der gleichen Personalziffer gearbeitet. Ein Unding. Mehrbelastung bedeutet Stress. Dabei ist das Essen in der Schule fast so wichtig wie der Unterricht. Denn für viele Kinder ist es die einzige Mahlzeit, die sie bekommen, wegen von Armut und Ausgrenzung. Deshalb soll verhandelt und mehr Personal eingestellt werden.
2020-10-06 / Zweite Welle (55) / Gesundheits-Notstand (51)
GEGEN PRIVATISIERUNG, SOZIALABBAU, RASSISMUS UND COVID-LEUGNER
Es bestehen nicht wenige berechtigte Zweifel und Sorgen im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie. Dies betrifft sowohl die Berichterstattung wie die medizinischen Erkenntnisse, sowohl den politischen Umgang mit der Krise wie ihre sozioökonomischen Folgen. Ausreichend Grund, um wachsam und aktiv zu sein. Aber eben aus einer klar links-kritischen Perspektive, die rechten Positionen und Covid-Ignoranten keine Trittbrettfahrten ermöglichen. Vor dieser Aufgabe steht die Linke mit Blick auf die ultrarechten Vereinnahmungs-Versuche von pandemie-kritischen Positionen.
Leider reagiert ein Großteil der Linken meist defensiv gegenüber diesem Themenkomplex. Sobald Rechte, Ultrarechte oder Verschwörungs-Theoretiker auftauchen, wird schnell die "Anti-Haltung" eingenommen. In der Folge werden Aspekte wie zum Beispiel 5G-Internet-Technologie ausgeblendet oder verdrängt, manche zeigen sogar Tendenzen in Richtung eines vereinfachenden Technik-Glaubens. Ähnliches geschieht mit dem medizinischen Aspekt der Pandemie: kritische Studien werden ignoriert, um nicht mit den "Negationisten" in einen Topf zu wandern. Der Gipfel ist, dass auf Angriffe gegen die Gates-Stiftung verzichtet oder dass sie verharmlost wird, um nicht mit der Welt-Kontroll-Verschwörungs-Theorie in Zusammenhang gebracht zu werden.
Dies sind Zeichen von Schwäche im linken oder fortschrittlichen Lager. Vernünftiger und produktiver wäre ein stärkeres Engagement zu diesen Themen, mit Fokus auf die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie, kritisch in alle Richtungen, gemischt mit Kritik an der seit Monaten erlebten zunehmenden Militarisierung und den rassistischen Auswüchsen in diesem Zusammenhang. Um rationale Kritik am Corona-Management zu formulieren und den Rechten die Argumente zu nehmen und ihnen die Tür zu zeigen.
Zweifellos gibt es Ansätze und Projekte aus basisorientierten und solidarischen Quellen, wie der BiziHotsa-Fonds im Baskenland oder der Fragen- und Forderungskatalog von REAS, dem Netzwerk der Alternativen und Solidarischen Wirtschaft, der zu den baskischen Regionalwahlen vorgelegt wurde, danach aber aus dem Blickfeld verschwand. Ein weiterer Ansatz sind die Forderungen aus den relevanten Gewerkschaften und den Belegschaften im Gesundheitsbereich, die mehrheitlich einen Stopp der Privatisierungen fordern, sowie einen Ausbau des öffentlichen Systems. Es gibt genug Argumente, die den Rechten die Haare zu Berge stehen lassen.
2020-10-05 / Zweite Welle (54) / Gesundheits-Notstand (50)
TÖDLICHE GEFANGENSCHAFT
Seit mehr als 30 Jahren werden die baskischen politischen Gefangenen weit entfernt vom Baskenland eingesperrt. Die Angehörigen sprechen von Vergeltungs-Justiz, die aufeinander folgenden Regierungen nennen es Legalität, obwohl im Gesetz steht, dass eine heimatnahe Unterbringung der Resozialisierung dient.
Folge ist, dass jedes Wochenende Hunderte von Freundinnen und Angehörigen sich auf den Weg machen, um die Gefangenen zu besuchen, in Cadiz, Madrid, Galicien, Valencia oder Murcia. Sechzehn dieser Besucher*innen haben bei den Reisen über die Jahre durch unvermeidliche Unfälle ihr Leben verloren, hunderte wurden verletzt. Bestraft werden nämlich nicht die Gefangenen selbst, sondern ihr Umfeld. Dennoch wird von allen gemeinsam versucht, bei jeder und jedem Gefangenen jedes Wochenende ein oder zwei Besuche zu organisieren, schlicht, um der Isolation entgegen zu wirken.
Seit März und dem Covid-Lockdown war dies praktisch nicht mehr möglich. Die Knäste wurden für Besuche geschlossen, manche lassen bis heute Besuche zu. Betroffen sind auch Kinder, die ihre Mütter oder Väter seither nicht mehr gesehen haben. Die sonst üblichen Kontaktbesuche enger Verwandter bleiben in 30 von 44 spanischen Gefängnissen verboten.
Doch nicht nur die körperliche Unversehrtheit steht für die Besucher*innen der Gefangenen auf dem Spiel, die langen Entfernungen stellen auch eine enorme finanzielle Belastung dar. Die Vereinigung der Gefangenen-Angehörigen Etxerat! (Nach Hause!) hat kürzlich vorgerechnet, dass alle Besuche zusammen 14 Millionen 617 Tausend und 304 Kilometer ausmachen. Das entspricht 365 Weltumkreisungen. Manche Familien geben für die Reisen mehr als 20.000 Euro aus pro Jahr, insgesamt ca. 1,5 Millionen Euro nur für Sprit.
Normalerweise wird auf den Hunderten von Fiestas des Baskenlandes für die Besuchsfahrten Geld gesammelt. Dabei kommen ansehnliche Summen zustande, die in diesem Jahr komplett wegfielen, weil es keine Fiestas gab. Vor 15 Jahren wurde ein solidarisches Projekt gegründet, um die Besuche zu erleichtern und für die Angehörigen die Unfallgefahr zu reduzieren. Erst wurden kleine 9-Sitzer-Bullis gekauft, um die Reisen in die entferntesten Regionen gemeinsam zu organisieren. Dann wurde ein Team aus Freiwilligen zusammengestellt, die als Fahrer*innen fungieren und den Besucher*innen den nächtlichen Schlaf ermöglichen. Denn häufige Unfallursache war, dass die Besucher*innen sich um Mitternacht ins Auto setzten, um am Morgen den Besuch zu machen und im Anschluss wieder zurückzufahren – ein Wahnsinn mit vorprogrammiertem Risiko. Das Mirentxin genannte Projekt muss bislang auf keine Unfälle zurückblicken.
Weil die Situation nie so schwierig war wie in diesem Jahr hat Etxerat! eine Kampagne ins Leben gerufen, über Crowdfunding “Kilometer zu verkaufen“. Mit dem Erlös soll ein Teil der Fahrtkosten wieder finanziert werden, um den Familien den finanziellen Druck zu nehmen. Im Gegensatz zu anderen Staaten wurden im spanischen keine Gefangenen vorzeitig entlassen, bei Zwei Drittel oder Drei Viertel Strafverbüßung, wie es das Gesetz vorsieht. “Wegen der Pandemie wurde niemand freigelassen, weder die 17 schwer kranken Gefangenen, noch die vierzehn über 65-Jährigen, noch die Gefangenen mit Kindern im Gefängnis, und auch nicht die Schwangeren“. Rachejustiz eben.
2020-10-03 / Zweite Welle (52) / Gesundheits-Notstand (48)
BASKISCHER HUMOR
Die Bask*innen sind bekannt dafür, dass sie die besten Verlierer*innen der Welt sind, wie es sich für kolonisierte Nationen gehört. Und dass sie gerne über sich selbst lachen. Nachdem wegen Coronavirus das gesamte Jahresprogramm an Fiestas abgesagt wurde, werden nun ausgerechnet in dem von Polizeigewalt heimgesuchten Bilbao-Stadtteil San Francisco Fiestas der ganz besonderen Art ausgerufen:
SanFran Jaiak 2020, Programm: 10h - Startschuss und Öffnung der Intensivstation / 10.15h - am Brunnen: Händewaschen / 10.30h - Grußadresse des Gesundheitsministers / 11h - Festplatz: PCR-Tests / 11.30h - Lockdown-Tanz, individuell / 12h - Blutplatz: Weinprobe mit Hidrogel / 12.30h - Arbeitsamt: Hindernislauf / 13h - Rundgang der Asymptomatischen / 13.30h - Virus-Getränke / 14h - Hauptplatz: Gesichtsmasken-Wettbewerb / 14.30h - Volksessen (bis zur zulässigen Anzahl von sechs Teilnehmerinnen) / 16h - Steinbruch-Platz: Symbolische Einweihung des Frauenhauses / 17h - Gemüseladen: Einweihung der Ausstellung von Einkaufswägen / 17.30h - Apotheke: Geduld-Wettbewerb im Schlangestehen / 18h - Früchteladen: Wettbewerb “die längste Warteschlange“ / 18.15h - Straßencafés: das Spiel mit den Stühlen / 18.30h - Unsolidarische Kinderspiele: Rennen in kleinen Gruppen, Distanzhalten, Schminken von Daten / 18.45 - Schule: Märchenerzählen / 19h - Marzana-Kaimauer: Gassigehen mit Hunden / 19.30 – Haupt-Straße: Rassistische Ausweiskontrolle, Ausstellung von Missbräuchen / 20h - Applaus von den Balkonen / 20.15h - DJ Haustür / 21.30h - Gesichtsmasken-Umzug / 22h - Konzert: Das Dynamische Duo.
Die Einladung ging über soziale Medien auf ihre Umwege. Es ist davon auszugehen, dass das Programm von einigen Covid-Geschundenen ernst genommen wird. Von Gefahren für die Gesundheit ist jedoch nicht auszugehen, denn die Polizei ist im Stadtteil ohnehin 24 Stunden lang im Dienst.
2020-10-01 / Zweite Welle (50) / Gesundheits-Notstand (46)
DIE ISOLIERTE HAUPTSTADT
Wer in Madrid derzeit Geschäfte zu erledigen hat oder Freundinnen besuchen will, sollte sich einen anderen Termin suchen. Denn die Metropole wird demnächst von der Außenwelt abgeschnitten. Grund: die fortschreitende Pandemie, die in der Stadt so schlimm wie nirgendwo sonst wütet. Eigentlich hatte die sozial-liberale Zentralregierung mit der rechten Regional-Präsidentin (von der faschistischen Vox-Partei geduldet) ein Maßnahmen-Abkommen verhandelt, von dem sich die Rechte im letzten Augenblick wieder lossagte. Nun handelt das Gesundheits-Ministerium allein und warnt vor Nichtbefolgung der Maßnahmen.
Bewegungsfreiheit und soziale die Kontakte werden eingeschränkt, “wenn in einer Stadt mit mindestens 100.000 Einwohnern die 14-Tage-Inzidenz über 500 Neuinfektionen liegt, mindestens zehn Prozent aller Corona-Tests positiv ausfallen und die Betten auf Intensivstationen (UCI) zu mehr als 35 Prozent mit Corona-Patienten belegt sind“. In Madrid sind die UCIs längst wieder überbelegt, wie Expert*innen und Ärzt*innen beschreiben. Sie widersprechen den gefälschten Zahlen der Regionalregierung. Dennoch wird es keinen Lockdown wie im Frühjahr geben.
Die Bewohner*innen dürfen die abgesperrte Region nur für Arztbesuche, Arbeit und Pflege von Angehörigen verlassen und sich nur in kleinen Gruppen von maximal 6 Personen treffen. Kneipen bleiben mit Beschränkungen offen. Mit der Maßnahme soll verhindert werden, dass Covid aus dem Hotspot Madrid wieder ins gesamte Land geschleppt wird, wie im Frühjahr geschehen. Bislang wurden in Madrid skandalöser- und diskriminierenderweise nur die armen Stadtteile und Städte im Süden abgeriegelt. Ein baskischer Gesundheits-Experte hält die kommenden Maßnahmen für zu schwach und plädiert für einen harten Lockdown über einen Monat, da das Kind bereits in den Brunnen gefallen und das Virus in Madrid außer Kontrolle sei.
2020-09-30 / Zweite Welle (49) / Gesundheits-Notstand (45)
DEZENTRALISIERUNG
Die gestrige Kultur-Nachricht des Tages war, dass das Plateruena-Kulturcafé in Durango (Bizkaia) geschlossen wird, so hat es die geschäftsführende Kooperative beschlossen. Über die Beweggründe muss nicht viel nachgedacht werden. Eines der bekanntesten und renommiertesten baskischen Kulturbetriebe fiel schlicht dem Covid zum Opfer. Wenn Kneipen und Konzerthallen behördlich geschlossen werden, dann gleich doppelt das Plateruena, weil sich dort beide Dienstleistungen vereinten. Die gesamte baskische Kulturszene beklagt den Verlust.
In der benachbarten Hauptstadt Bilbo lässt das Kulturcafé BIRA seine Motoren warmlaufen. Wie alle anderen geschlossen während des Lockdown, begannen schon im August wieder zarte Versuche, den Konzert- und Literaturbetrieb wieder aufzunehmen. Mit reduziertem Forum versteht sich. Das Publikum zog mit. Bei diesem Kulturcafé handelt es sich um ein eher kleines Projekt, das auch mit Freiwilligen arbeitet, das in den drei Jahren seiner Existenz um Anerkennung in der bilbainischen Kulturszene zu kämpfen hatte und jetzt ein Programm bis Dezember vorlegt mit Konzerten, Lesungen, Dokfilmen. Mit Masken und Distanz. Trotz alledem.
Antagonistische Nachrichten? Die einen sterben, die andern leben. Gehen wir einen Schritt weiter. Das Plateruena-Kulturcafé steht auf einer Scholle mit dem Landako Messe-Pavillon von Durango. Dort findet seit 15 Jahren die beliebte Baskische Buch- und Musikmesse statt. Diese Messe war für das Kulturcafé einer der Hits des Jahres, kulturell einerseits, sicher auch wirtschaftlich. Denn Durango ist ansonsten nicht eben der baskische Kulturtempel. In diesem Jahr – bislang ohne offizielle Bestätigung – wird die Messe nicht stattfinden. Zum ersten Mal nach 67 Jahren.
Die Messe ist – wie so vieles im baskischen Kulturbereich – eine Massenveranstaltung. Sie ist ein Muss für die baskische Literatur- und Musik-Szene. Aber nicht nur zum Konsum von Büchern und Platten, auch als Treffpunkt. An vier regnerischen Tagen im Dezember platzt die Stadt aus den Nähten. Der Ausfall der Messe ist der Todesstoß für das Kulturcafé, dem die Aufgabe zukam, einen Teil dieser Massen gastronomisch und kulturell zu versorgen.
Viertes Element in dieser Überlegung. In der Küstenstadt Portugalete (Bizkaia) fand am vergangenen Wochenende (wie berichtet) ebenfalls eine Buch und Fanzine-Messe statt. Erst zum zweiten Mal und eher von der bescheidenen Sorte. Zwar waren 25 Kollektive aus dem Großraum Bilbo beteiligt (weitestgehend unprofessionell), doch waren keine Massen am Start. Eine ruhige und besser als im Vorjahr besuchte Drei-Tages-Veranstaltung. Mit Masken, Abstand, gutem Ambiente und keinen weiteren Ansteckungen trotz Krisengebiet.
Schlussfolgerungen. Mehr denn je zuvor ist die Kultur durch Coronavirus in die Krise gekommen. Besonders jener Teil, der in der baskischen Sprache Euskara funktioniert. Mit der Buchmesse und dem Plateruena sind zwei große Projekte über den Deister gegangen. Zwei kleine Projekte, BIRA und Portugalete funktionieren besser als je zuvor. Große Projekte (Monokulturen?) sind anfälliger für störende Elemente von außen, das ist eine Lehre lange vor der Covid-Erfahrung. Kleine Projekte sind flexibler, unauffälliger, unverdächtiger und lebensfähiger. Sin más – besterik ez.
2020-09-29 / Zweite Welle (48) / Gesundheits-Notstand (44)
ZURÜCKSCHIESSEN
In einem melancholischen Moment beschwerte ich mich einer Freundin gegenüber über die Einschränkungen durch die Covid-Schutzmaßnahmen, über die wenigen Kneipen, die mir zur Kommunikation blieben und über diese lästige Pflicht, Masken zu tragen. Ihre Antwort überraschte mich.
Vielleicht weißt du es nicht, aber wir Baskinnen sind es gewohnt, mit Niederlagen zu leben und dennoch das Beste daraus zu machen. Du weißt ja, das Baskenland ist eine hochpolitisierte Gesellschaft. Früher kam das dadurch zum Ausdruck, dass es so gut wie keine einfarbigen T-Shirts gab. Alle waren bedruckt und trugen irgendeine Botschaft. Das hat sich seit dem Ende von ETA und seit der Sozialdemokratisierung der baskischen Linken verändert. Botschafts-Klamotten sind fast schon verpönt und selten geworden. Glaub mir, mir gefallen dies Masken ebenfalls ganz und gar nicht. Aber ich bin es leid, mich über deren Nutzlosigkeit aufzuregen und dabei meine Zeit zu verlieren. Wenn wir schlau sind, drehen wir den Spieß um und machen aus der Maske unsere neue Botschaft, oder Botschaften im Plural. Ich habe mir drei spezielle Masken gekauft, eine mit einer feministischen Botschaft, eine mit Antifaschismus und eine Pro-Flüchtlinge. Glaub mir, seither ist es mir regelrecht zu einem Vergnügen geworden, meine Masken zu tragen. Aber nicht nur das. Es ist mir ein Vergnügen, in diesen traurig-grauen Zeiten bunte, lila-schwarz-rot-gelbe Botschaften vor mir herzutragen. So macht sogar die Maske noch einen Sinn, gegen diese herrschende Ordnung, die mir den Mundschutz auferlegt hat. Wir können den Ball ja zurückschießen, wenn wir wollen.
Zugegeben, ich war verblüfft und hatte keine Entschuldigung parat.
2020-09-28 / Zweite Welle (47) / Gesundheits-Notstand (43)
DIE SCHNECKENSTADT
Bilbo (spanisch: Bilbao) sucht Rekorde und Einträge ins Guinness-Buch. Nicht was Bürgerbeteiligung betrifft, Grünflächen oder Geschlechter-Gleichstellung. Spektakulär muss es sein, keine Langweiler aus dem Alltag. Erst wurde mit dem G-Effekt gespielt, dann kam der „beste Bürgermeister der Welt“ hinzu, diverse Europa- und Weltmeisterschaften und Kongresse, nur beim Wettbewerb für die mundiale Designstadt sprang nur der zweite Platz heraus.
Nun ist Bilbo die langsamste Stadt der Welt! Oder besser: die langsamste unter den Städten über 300.000 Einwohnerinnen. Und wie das? Im gesamten Stadtgebiet gilt für Kraftfahrzeuge das Tempolimit 30 km/h. Das hört sich gut an und lässt sich im internationalen Nachrichtenmarkt platzieren. Denn darum geht es: attraktive Nachrichten produzieren, um in die Weltmedien zu kommen. Alles weitere machen Internet und die Tourismus-Promotion.
Eigentlich nicht schlecht, die Geschwindigkeit in den hektischen Städten zu begrenzen. Oder? Denn Schnelligkeit ist Aggression, Hektik führt zu Verkehrstoten, Geschwindigkeit führt zu Schrecken für Kleine und Alte. Also runter mit dem Speed-Anzeiger.
Wenn da nur alle mit einverstanden wären … denn in der schnell-lebigen, hektischen Infarkt-Gesellschaft sind viele auf Tempo angewiesen: die Taxifahrer, die Auslieferer, die Transporteure, die im Akkord von einem Ort zum anderen brausen und mit der Vitesse ihr Geld verdienen. Sie meutern selbstverständlich gegen die fußgänger-freundliche Maßnahme – und drücken weiter das Pedal durch. Denn solange begrenzende Maßnahmen nicht kontrolliert werden (und das Übertreten sanktioniert), machen alle das, was sie immer gemacht haben. Keine 30, kein 50, sondern lieber 85 km/h in der Stadt. Das Leben ist schließlich kurz genug, also Vollgas.
Die 30er-Idee war schon älter, im Rathaus traute man sich nur nicht. Die Pandemie mit leeren Straßen wie seit 300 Jahren nicht mehr erschein die ideale Gelegenheit, den Schritt zu vollziehen. Keine Gegenstimmen. Die Maßnahme galt nur für speziell ausgezeichnete Verkehrsverbindungen. Eine Art Probelauf. Nun gilt sie für das gesamte Stadtgebiet und viele maulen. Wo bleibt das Recht auf freie Fahrt für freie Bürger! Bisher kam noch niemand auf die Idee, die Beschränkung mit einer möglichen Absatzkrise auf dem Automarkt in Verbindung zu bringen – warten wir es ab.
Eine andere Stadt-Spezies heizt derweil weiter fröhlich, nicht nur durch die bilbainische Innenstadt, sondern bevorzugt durch die Fußgängerzonen, wo es weniger Blechkonkurrenz gibt. Die Rede ist von den energiebetriebenen Rollern und den kraftverstärkenden Fahrrädern, die sich für ihre Praxis die ruhigsten Zonen aussuchen, unkontrolliert von Rathaus und wachendem Auge. Fazit: die Geschwindigkeit verlagert sich, von den unkontrollierten Wildwest-Straßen auf die bislang langsameren Schonbezirke. Eines Tages wird es einen schweren Zusammenstoß geben, der zu Kontrolle und drastischen Verboten führen wird. Ohne solche GAU-Erfahrungen geht nichts. Eine/r muss den Preis bezahlen. Aber egal. Hauptsache Bilbo erscheint eine Woche lang in den internationalen Medien als die erste Stadt, die … den Coronavirus mit dem Tretroller besiegt!
2020-09-27 / Zweite Welle (46) / Gesundheits-Notstand (42)
MIT SELBSTVERSTÄNDLICHKEIT
Der Raum ist ein ehemaliger Gemüse- und Fischmarkt, in den fast zwei Basketballfelder passen würden. Die untere Etage ist unbebaut und ließ Raum für ambulante Stände oder kulturelle Großveranstaltungen. Die obere Etage ist nach außen hin mit anschließbaren Läden bestückt, die große Aussparung in ihrer Mitte lässt den Eindruck einer riesigen Galerie entstehen.
Heute kommt Leben in dieses alte Gebäude in Flussnähe. Gruppen von jüngeren und älteren Polit-Aktivistinnen haben Fisch durch Bücher und Gemüse durch T-Shirts ersetzt: anarchistische Feministinnen, linke DJs, autonome Antifaschistinnen, Hausbesetzerinnen aus dem ganzen Großraum, Antifa-Hooligans, Gruppen von Historikerinnen, die ihre Forschungsarbeiten anbieten, eine abertzale Gruppe, die das baskische Selbstbestimmungs-Recht verteidigt, ein feministischer Buchladen aus Gernika, historische und unorganisierte Anarchistinnen, Künstlerinnen, die ihre Handarbeiten, Drucke, Komiks und bunten Hemden verkaufen wollen.
Wir befinden uns auf der II. Buch- und Fanzine-Messe im ehemaligen Industrie-Standort Portugalete, an der Mündung des Nervion-Flusses vor der Hauptstadt Bilbao. Vor Jahren hat ein Verbund von sozialen Bewegungen und emanzipatorischen Gruppen die Verwaltung des leerstehenden Gebäudes übernommen und organisiert seither Kunst, Kultur und Politik von unten.
Der große untere Raum ist zweigeteilt, in der Mitte steht ein Sperrgitter, auf dem Boden sind Pfeile, die eine Laufrichtung empfehlen. Die aus Tischen bestehenden Verkaufsstände sind unter der Galerie angesiedelt, am Eingang steht auf einem Podest eine Flasche mit Desinfektionsmittel.
Die Sondermaßnahmen sind der Ausdruck dessen, dass wir uns mitten in der zweiten Coronavirus-Pandemie-Welle befinden, die das Baskenland mit besonderer Wucht heimsucht. In sämtlichen öffentlich betretbaren Räume (Kneipen, Theater, Cafés, Kinos) sind die Besuchszahlen reduziert, auf die Hälfte, ein Drittel, für viele kleine Einrichtungen lohnt sich das Öffnen gar nicht mehr. Großveranstaltungen ohne die Möglichkeit Stühle aufzustellen sind verboten. Insofern ist es mehr als überraschend, bei dieser zweiten Buch- und Fanzine-Messe einen derart großen Raum offen zu sehen.
Es sind nicht die Massen, die den Eintritt suchen. Über drei Tage verteilt haben alle die Möglichkeit, sich einen geeigneten Moment auszusuchen. Es regnet wie lange nicht mehr, für viele ist es ein netter Wochenend-Ausflug ins Trockene, auch mit Kindern. Alle Anwesenden tragen vorschriftsmäßig ihre Schutzmasken, nicht einmal die Organisatorinnen müssen darauf hinweisen. Die Laufrichtung wird weitestgehend respektiert, nur auf der Bühne und für Buch-Vorstellungen wird das lästige Utensil kurz abgelegt. Der Eindruck von friedlicher Normalität liegt über dem Ganzen. Buchmessen – umso mehr mit alternativem Charakter – sind nicht nur eine Gelegenheit, das produzierte politische Material unter die Leute zu bringen. Es ist auch ein Moment, sich nach langer (und entbehrlicher) Zeit wiederzusehen und auszutauschen.
In Zeiten, in denen die Treffpunkte rar geworden sind, sind solche Freiräume willkommen. Endlich einmal bleibt das Dauerthema Covid außen vor, die elementaren Schutzregeln werden respektiert, niemand beschwert sich über lästige Masken, es gibt Wichtigeres als das. Die Selbstverständlichkeit von Besuch und der Begegnung in Anbetracht des derzeitigen Panoramas verursacht angenehmes Erstaunen. Alle Anwesenden verbindet eines: die Arbeit an einer widerständischen Kultur, ob feministisch, antifaschistisch oder anarchistisch.
Wer 10 Stunden am Tag über unnütze Masken, drohende Impfungen und in Frage gestellte Grundrechte diskutiert (die ohnehin schon lange nicht mehr ernst genommen werden), wird zum Kollateralschaden des Coronavirus und hat keine Zeit mehr, gegen die auch vor der Pandemie bereits herrschenden Zustände zu arbeiten.
2020-09-25 / Zweite Welle (44) / Gesundheits-Notstand (40)
DABEI SEIN IST ALLES
Die Pandemie hat Geschichten hervorgebracht, die wir uns nicht träumen ließen: dass wir uns auf der Straße nicht mehr küssen sollen, dass Hunde und Raucher besser wegkommen als Kinder, dass die Gewerkschaften nicht mehr zähneknirschend von Telearbeit sprechen. Die Liste ist lang. Und dann kommt da noch dieser olympische Mythos dazu vom “Dabei sein ist alles“. Das ist erklärungsbedürftig.
Im Zusammenhang mit Lohnarbeit schon mal was von Absentismus gehört? Sicher! Eines der Lieblingsthemen der modernen kapitalistischen Sklavenhalter, die doch so sehr unter der Arbeitsverweigerung leiden. “Absentismus ist“, so erklärt uns Wikipedia, “die Neigung von Personen, einem Termin, einer Verpflichtung oder einer Vereinbarung nicht nachzukommen, obwohl es keine objektiven Verhinderungsgründe wie etwa Krankheit gibt. Gegensatz ist der Präsentismus“.
Schon mal was von Präsentismus gehört? Möglicherweise oder wahrscheinlich nicht. Also Nachhilfe. Von Präsentismus wird gesprochen, wenn abhängig Beschäftigte insbesondere in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit trotz Krankheit am Arbeitsplatz sind. Eine Studie hat festgehalten, dass im spanischen Staat und im Baskenland zwei von zehn Personen (20%), die in irgendeiner Form mit Kundenbetreuung beschäftigt sind, in den vergangenen Monaten mit Covid-Symptomen zur Arbeit gegangen sind. Bei den abhängig Beschäftigten insgesamt waren es 13%, also etwas weniger.
Die Gründe für diese Präsentismus genannte Übererfüllung von Arbeitspflichten in Pandemie-Zeiten sind Sozialwissenschaftler*innen wohl bekannt. Doch nur selten schaffen sie es in die Schlagzeilen der “embedded media“ der kapitalistischen Gesellschaft, das heißt, all jener Medien, die staatstragende Propaganda verbreitet. Präsentismus ist hierbei ein eher unangenehmes Thema.
Gründe für den Übereifer sind: “Mir gefällt die Arbeit“. Oder: “Ich will meine Kollegen nicht zusätzlich belasten“. Oder: “Hinterher muss ich das selbst alles aufarbeiten“. Vor allem aber die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Wiederum die Sozialwissenschaftler*innen warnen vor so viel Verantwortlichkeit. “Es ist nicht wünschenswert, da die kranken Mitarbeiter trotz ihrer körperlichen Anwesenheit nicht die volle Leistung bringen können und damit die Produktivität sinkt, sowie die Unfallgefahr ansteigt. Die durch körperliche und geistige Beeinträchtigungen negativ beeinflusste Konzentrationsfähigkeit führt zu mehr Fehlern.“ Sie rechnen vor, dass Präsentismus in der Wirtschaft letztendlich das Doppelte an Kosten verursacht wie Absentismus. Doch die christliche Arbeitsmoral sieht das anders. Womit wir wieder im Baskenland angelangt wären: nirgendwo sonst wird die Arbeitsmoral derart hochgehalten als dort, wo Verträge noch per Handschlag und einem Glas Wein abgeschlossen werden – und Gott schaut zu.
2020-09-24 / Zweite Welle (43) / Gesundheits-Notstand (39)
DIE BALLADE VON JUDAS
Nur mal so zur Erinnerung. Das Baskenland, im Norden etwas anders als im Süden, befindet sich in der zweiten Welle der Coronavirus-Pandemie. Die Zahlen steigen nach wie vor. Vor Reisen aus dem Ausland in die baskischen Gebiete wird gewarnt. Die überschnell eröffneten Schulen werden langsam wieder geschlossen. Die Arbeitgeber fordern Lohnverzicht für Arbeitsplatz-Garantie. Einzelne Orte gehen freiwillig in den zweiten Lockdown. Was es im Baskenland kaum gibt, ist eine sichtbare Covid-Verleugnungs-Bewegung. Über soziale Medien werden Botschaften verteilt, die bisher jedoch zu keiner nennenswerten Ausdrucksform auf der Straße führte. Es sind eher transparente Kopien aus Deutschland oder Madrid. Wo die Ultrarechte keinen ganzen Fuß in der Tür hat, geben die Leugner und Verweigerer ein schwaches Bild ab.
BAUERNFÄNGER
Wenn Nachrichten aus vertrauten Quellen kommen, haben sie größere Chancen, ernst genommen zu werden. Auf diese Weise ging uns ein Artikel zu, der zu Beginn den Anschein machte, die Coronavirus-Maßnahmen der Regierungen sachlich zu diskutieren, um sie zu kritisieren. Dabei wurde die Pandemie nicht geleugnet, vielmehr wird behauptet, ihre Erscheinung sei maßlos übertrieben, angefangen beim Virus selbst, bis hin zu den Zahlen von Toten, Infizierten und Krankenhaus-Belegungen.
Der Artikel springt zwischen unbelegten Behauptungen und Zitaten aus einer Change-Initiative, dadurch bleibt offen, ob es sich um einen Bericht oder eine eigene Argumentation handelt. Doch nach einigem Vorgeplänkel geht es dann zum Generalangriff: 100 Mediziner aus den USA und Deutschland (ohne Namen) sprechen von einem “Klima von Terror, Manipulation und Lügen“, von völlig übertriebenen Maßnahmen und davon, dass alle Zahlen gefälscht sind. Eine glatte Lüge sei es, dass die Krankenhäuser übervoll gewesen seien (was bedeutet, dass alle Gewerkschaften und Krankenpflegerinnen, die von Überlastung gesprochen hatten, die Unwahrheit erzählten). Die Rede ist vom “größten Gesundheitsbetug des 21. Jahrhunderts“ – auch das ist falsch. Dieser größte Betrug bestand darin, Teile des Gesundheits-Systems zu zerschlagen und andere Teile zu privatisieren und einem kapitalistischen Diktat zu unterwerfen. Genau das hat in der ersten Covid-Welle vor allem in Madrid zur Katastrophe und zu Tausenden von Toten geführt.
KEULEN AUSGEPACKT
Dann werden Schuldige genannt. Einmal die Pharma-Industrie, die (zweifellos) an der Pandemie verdient, und sie – so wird sinniert – in die Wege geleitet haben könnte. Zusammen mit dem großen Verbündeten, der Volksrepublik China, die sich zu diesem Zweck die Welt-Gesundheits-Organisation WHO gefügig gemacht hat. Mal ehrlich, wer im linken Lager wollte eine diese drei Institutionen bzw. Regierungen verteidigen. Im Gegenteil. Eine andere Sache ist es, von einer gezielten Pandemie-Intrige zu sprechen.
Die Schrift strotzt vor Argumenten, die linke oder ökologische Organisationen seit Jahrzehnten (weitgehend vergeblich) durch die Welt schicken. Die Rede ist von Humanismus, Ökologie, Tierschutz, Menschlichkeit, steigender Kriegsgefahr, Gefährdung des sozialen Friedens. Die Frage ist, wo der Schreiber oder die sympathisierende Bewegung waren, als Millionen von Menschen über die Jahre hinweg in vielen Ländern genau dafür auf die Straße gingen. Die Antwort: sie waren mit Wichtigerem beschäftigt, nur nicht mit einer Humanisierung der Weltgesellschaft.
Der Schreiber zum Beispiel, stellt sich als strammer Rechter heraus, der rechtslastige Medienprojekte organisiert. Für ihn sind die Sozialdemokrat*innen von EH Bildu Proetarras, die Leute von Podemos sind Linksextremisten. Die neofranquistische Vox-Partei benutzt genau dieselben Begriffe. Wenn als Fazit der Schrift die Aufhebung aller Covid-Schutzmaßnahmen gefordert wird, um eine “Diktatur“ zu verhindern (die die Vox-Partei in Form des Franquismus ganz freimütig verteidigt), dann darf getrost von Bauernfängerei als Motivation für die Covid-Kritik ausgegangen werden.
GEFAHREN
Diese Versuche – deutlich mehr noch in Deutschland – tragen zwei Gefahren in sich. Zum einen werden linke Diskurse und Analysen oder Bruchstücke daraus benutzt, die nicht zuletzt das kapitalistische, patriarchale, rassistische und neokoloniale Gesellschafts-System in Frage stellen. Damit wird die Empfindlichkeit jener Personen berührt, die sich nicht erst seit Corona über die Zukunft der Menschheit sorgt.
Die zweite Gefahr ist, dass die ohnehin im Aufwind befindliche Ultrarechte, um nicht zu sagen: neofaschistische Rechte, Profit schlägt aus der Coronavirus-Misswirtschaft der großen Mehrheit der Regierungen der Welt.
FASCHISTEN-PROPAGANDA
Wer sich die Mühe macht, den Artikel im Internet zu suchen, darf sich nicht wundern, wenn sie oder er am rechten Rand (im wahrsten Sinne des Wortes) Werbung für zweifelhafte Bücher vorfindet. Eine Warnung vor dem neuen roten Totalitarismus (Naves en llamas – El nuevo totalitarismo rojo); oder ein Buch über Trump, “der Mann, der Amerika groß macht“ (Trump, el hombre que hace grande America); oder zwei Schriften über die neo-franquistische Vox-Partei; die erste mit dem Titel “Zwischen konservativem Liberalismus und der identitären Rechten“, die zweite “Es lebe Spanien! Wie Vox in Spanien eine neue Rechte vorantreibt“ (Viva España! – Cómo Vox impulsa una nueva derecha en España). Die Schriften dürften keine Warnung vor autoritären Regimen darstellen (wie im Artikel vorgegeben), sondern das genaue Gegenteil: ultrarechte Propaganda.
Interessant ist darüber hinaus, dass der Artikel einen Kopierschutz eingebaut bekam. Er lässt sich – mit der ganzen wild-rechten Werbung und extra Rollups – nur online lesen. Wer diese “Rezension“ bis hier gelesen hat (freundlichen Dank!), verdient es, mit Namen bedient zu werden. Das Medium trägt den Namen “la tribuna del pais vasco .com”, Autor ist der Basken-Hasser Raúl Gónzalez Zorrilla (auch bei Wikipedia zu finden), die Publikation trägt den Titel “Centenares de médicos y profesionales de la salud de todo el mundo firman un comunicado alertando de que el covid-19 es la mayor estafa sanitaria del siglo XXI". Die URL ist der Redaktion Baskultur bekannt und kann bei Interesse gerne abgefragt werde; ein primäres Interesse an der Verbreitung solcherart von Propaganda haben wir nicht. Redaktion Baskultur.info
2020-09-23 / Zweite Welle (42) / Gesundheits-Notstand (38)
AZKOIEN REKORDVERDÄCHTIG
Mit Sicherheit hat sich die Feier wunderbar angefühlt: nach so viel Distanz, nach so viel Einschluss, nach soviel Einsamkeit zu Hause. Selbstverständlich wurden in Zeiten der Coronavirus-Pandemie auch nach dem Lockdown alle traditionellen Fiestas abgesagt. Doch die absolut Fiesta-Hungrigen haben einen Fluchtweg gefunden und statt den “Fiestas“ in vielen Orten nun eben “Keine Fiestas“ organisiert. Nicht im üblichen Stil, nicht auf der Straße, eher in Clubs, vielleicht auch in Parks. Gut gemeint, aber haarscharf vorbei an dem empfohlenen oder verordneten Covid-Protokoll.
Das mussten nun viele Bewohnerinnen des süd-navarrischen Ort Azkoien-Peralta zur Kenntnis nehmen. Denn vor Corona ist nach Corona. Und umgekehrt. In der vergangenen Woche, just nach den “Keine- Fiestas“ stieg die Zahl der C19-Positiven bei einer Bevölkerung von 5.800 auf satte 125 Personen, das ist etwa fünf Mal so viel wie der Durchschnitt in der Region Navarra. Eine Art Rekord. Ein weiterer Rekord wird sein, wenn ab Mitternacht vom 23. auf den 24. September 175 Polizisten verschiedener Einheiten (laut Presseangaben) den neu ausgerufenen Lockdown kontrollieren sollen. Der Begriff Polizeistaat wäre untertrieben für diese Situation. Doch werden sich die Leute aus dem Ort derzeit eher weniger mit Begrifflichkeiten und Philosophie, dafür eher mit Schuldzuschreibungen beschäftigen. “Keine Fiestas“ – warum wurden nicht gleich alle eingeladen! Dann hätte sich der Spaß wenigstens gelohnt!
Neben dem traurigen Rückfall in die Lockerungs-Phase zwei (niemand verlässt den Ort, wenn nicht höhere Gewalt) macht Azkoien eine Tendenz deutlich. Bei der ersten C-Welle lieferten vor allem die Metropolen negative Schlagzeilen. Von vielen kleinen Ortschaften wurde berichtet, dass Covid ein Fremdwort blieb. Möglicherweise hat diese Tatsache in den besagten ländlichen Gebieten zu Nachlässigkeit geführt. Das rächt sich nun. Nach Covid ist vor Covid. Oder umgekehrt.
Insbesondere in Anbetracht des nahenden Herbstes, der wie gewohnt die Grippe auf seinen Schwingen trägt und sie mit dem ersten Temperatur-Einbruch auf die sonnenverwöhnte und spärlich bekleidete Bevölkerung fallen lässt. Am Ende der Fahnenstange sind wir noch lange nicht angelangt. “Es gibt ein Leben jenseits von Fiestas und Besäufnissen“, sagte mir gestern ein Freund, der mit andern zusammen erst eine linke Buchmesse und dann eine antifaschistische Woche organisiert. Mitten in der Pandemie. “Wir ziehen das durch, alle Schutzregeln befolgend, aber unsere Inhalte dürfen nicht auf der Strecke bleiben. Das ist wichtiger als jede Fiesta. Das ist unsere Antwort auf den Lockdown.“
2020-09-22 / Zweite Welle (41) / Gesundheits-Notstand (37)
DER UNTOTE TOURISMUS
Coronavirus lädt nicht zum Reisen ein. Die Zahl der Übernachtungen in Hotels der Region Baskenland (Euskadi) fiel im August um 43% im Vergleich zu August 2019. Diese Zahl lag geringfügig über der von Juli, in dem der Einbruch 50,8% betrug. Auch die Ankunft von Reisenden ging im August zurück, um 39,2%, im Juli betrug die Zahl 45,2%. Das meldet das baskische Statistik Institut Eustat.
Die Reduzierung der Zahlen gilt für alle drei Euskadi-Provinzen. Die Zahlen im Einzelnen: Bizkaia (August -53%, Juli -59,2%), Araba (-45,7% / -51,3%), Gipuzkoa (-30,9% / -42%). Die Zahlen machen deutlich, dass vor allem Bilbao stark von Tourismus abhängig ist und dessen Ausbleiben negativere Konsequenzen hat. Der Strom von Reisenden ließ in Bizkaia im August um 52% nach, in Araba um 41,8% und in Gipuzkoa lediglich um 21,9%.
Fazit: Seit 15 Jahren war der Sommer in den baskischen Hauptstädten nicht mehr so ruhig und einheimisch. Dank der Pandemie.
2020-09-21 / Zweite Welle (40) / Gesundheits-Notstand (36)
OKÖ-SOZIALISTISCH UND FEMINISTISCH
So hat sich das Projekt SARETZEN (Vernetzen) vorgestellt, das von zwanzig gesellschaftlichen Kollektiven ins Leben gerufen wurde. Öko-sozialistisch und feministisch soll das künftige Netz sein, das als Antwort auf die Pandemie und die vorherigen gesellschaftlichen Zustände auf Zusammenarbeit setzt. Die Bewahrung des Lebens, der Schutz von Personen durch öffentliche Dienstleistungen, die Reduzierung von Produktion und Konsum, die Umverteilung von Arbeit und Reichtum gehören zu den Zielsetzungen, sowie ein neues Regierungs-Modell, das auf die Beteiligung der Bevölkerung setzt.
Mit ihrem Vorstoß fühlen sich die Initiatorinnen nicht allein. Sie gehen davon aus, dass ihre Vorstellungen von einem großen Teil der sozialen Bewegungen im Baskenland geteilt werden. Sie weisen darauf hin, dass die Pandemie “eine Vielzahl von sozialen Krisen“ deutlicher sichtbar gemacht hat: gesundheitlich, wirtschaftlich und moralisch. Denn “bereits vorher befand sich die Gesellschaft in einer Zivilisations-Krise“. Die Gründerinnen gehen davon aus, dass der drohende Kollaps (auf verschiedenen Ebenen) die sozialen Ungleichheiten verschärfen und die gesellschaftliche Ausgrenzung von vielen beschleunigen wird.
Unterstrichen wird die Notwendigkeit, gemeinsam gegen die kontinuierlichen Angriffe des Kapitals vorzugehen, die schon vor der Pandemie täglich stattfanden. Heute, unter den Bedingungen einer “neuen Normalität“, sind diese Abwehr-Anstrengungen praktisch zur Bedingung für das Überleben geworden.
“Wir befinden uns in einem nicht erklärten Krieg zwischen dem Kapital und dem Leben. Die Regierungen – spanisch wie baskisch – stehen beide dafür, dass die Wirtschaft das wichtigste schützenswerte Gut ist“. So das Ende der Analyse. “Für uns ist das Leben wichtiger als der Profit. All jene, die wirklich wollen, dass niemand zurückbleibt, beginnen mit einem Projekt der stabilen Zusammenarbeit, wir wollen die notwendigen Synergien schaffen, die zum Kampf gegen diese Krise notwendig ist. Denn die Anzeichen und Effekte dieser Krise sind bereits überall spürbar.
Zu den Initiatorinnen gehören: CGT/LKN, LAB, Steilas (Gewerkschaften), Ekologistak Martxan, Ekopol, Netzwerk gegen Energie-Großprojekte, Euskal Gune Ekosozialista, Hitz&Hitz Stiftung, Larreko Mahaia, Meatzaldea Bizirik Ekologista Taldea, Ongi Etorri Errefuxiatuak (OEE), OMAL, Sukar Horia, Xtinction Rebelion Bizkaia und Karta Soziala. In Gipuzkoa steht die Gründung einer parallelen Initiative bevor.
2020-09-20 / Zweite Welle (39) / Gesundheits-Notstand (35)
C-19 GASTKOMMENTAR
Wer verstehen will, schreibt unser Gast-Kommentator Mumia Abu-Jamal aus Pennsylvania, welche gesellschaftlichen Auswirkungen die Corona-Pandemie in den USA hat, muss sich vergegenwärtigen, dass rund 80% des Landes im Lockdown waren. Die Menschen durften ihre Wohnungen oder Häuser nur verlassen, um Lebensmittel einzukaufen oder wenn sie “systemrelevanten“ Berufsgruppen angehörten. Vor allem für Singles und ältere Menschen bedeutete dies eine bislang unbekannte Form der Einzelhaft.
Auch für viele Menschen im Normalvollzug der US-Gefängnisse war es eine Form der Isolationshaft, als ihnen wegen Covid verboten wurde, zu arbeiten oder am Schulunterricht teilzunehmen. Besuche fanden ebenso wenig statt wie Hofgang, auch zu Sport- und Fitnessräumen war der Zutritt verboten. Eine schlimme Zusatz-Strafe. Wer ohnehin zu Isolationshaft verurteilt war, dem war das alles schon bekannt. Für Gefangene im Normalvollzug machte es jedoch einen großen Unterschied aus, da es für sie keinen festen Entlassungstermin aus dieser besonderen Form der Absonderung gab. Diese unbefristete Isolierung besteht also für die meisten Inhaftierten im Corona-Lockdown weiter fort.
Die Vorstellung, dass irgendein Verantwortlicher in den US-Gefängnis-Behörden in absehbarer Zeit das erlösende “Alles wieder okay!“ ausrufen wird, ist lächerlich. Diese Nation muss damit rechnen, dass die Zahl der an Covid-19 Verstorbenen auf 200.000 ansteigen und die Zahl der Infizierten in den USA bei weit mehr als 6,5 Millionen liegen wird – Die Vereinigten Staaten, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, auch und gerade unter Trump.
Im tödlichen Covid-Frühjahr hatten viele Aktivisten die Hoffnung, es könnte im großen Stile zu Entlassungen kommen, um Gefangene vor Infektionen zu schützen und die Ausbreitung des Virus hinter den Mauern zu verhindern. Doch haben sie die Abhängigkeit des Staates von Gefängnissen als einem seiner wichtigen politischen Faktor unterschätzt, ebenso die Bedeutung der Gefängnis-Industrie als Grundpfeiler für den US-Kapitalismus.
Stattdessen herrschen in vielen Gefängnissen inzwischen Zustände, die schlimmer sind als in den berüchtigten Isolations-Trakten der Knäste. Mit Covid haben sich die meisten Gefängnisse in eine neue Art Todestrakt verwandelt. Die Frage ist nicht, wie viele Häftlinge sich infizieren und erkranken, sondern wie viele von ihnen sterben. Unter den Gefangenen greifen Angst, Furcht und Verzweiflung um sich.
In baskischen Gefängnissen ist die Situation insofern anders, dass es nicht des Covid bedarf, um zu sterben. Dafür sorgen stattdessen die unmenschlichen Bedingungen. In spanischen Knästen ist Isolation für politische Gefangene gang und gäbe, nur die Strafhöhe und die Abwesenheit eines Gefängnis-Industriellen-Komplexes markieren den Unterschied. Kein Grund zur Ruhe.
2020-09-19 / Zweite Welle (38) / Gesundheits-Notstand (34)
EINKOMMENS-VERLUSTE
Dass die wirtschaftlichen Bilanzen durch den Covid-Einschluss und die künstlich organisierte Arbeitslosigkeit negativ beeinflusst werden, war klar. Dass der Tourismus nicht an vorhergehende “Erfolge“ anknüpfen würde ebenfalls. Nun liefert das spanische Nationale Statistik Institut weitere Zahlen, die die Entwicklung bei den Lohnkosten für die Kapitalisten und die Realeinkommen der arbeitenden Bevölkerung reflektieren.
Der Bezug von Ersatz-Arbeitslosengeld im zweiten Quartal (wegen Lockdown, Alarm und Einschränkungen der härteste Moment des bisherigen Coronavirus) hat eine dramatische und in der jüngeren Geschichte einmalige Senkung der Löhne und Gehälter provoziert. Durch die Lohn-Ersatz-Leistungen zum kurzfristigen “Erhalt der Arbeitsplätze“ sanken die Einnahmen der in Lohn stehenden Bevölkerung um 8,4%. Dieser Ziffer muss die Inflationsrate addiert werden, sowie die Steigerung der generellen Lebenshaltungs-Kosten wie Miete oder Strom, um den wirklichen Kaufkraft-Verlust ermessen zu können.
Mit dem ERTE-Programm versuchte die Zentralregierung von Beginn an, betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden oder verhindern, indem ein außergewöhnliches Arbeitslosengeld gezahlt wurde, das nicht auf die individuelle Anwartschafts-Zeit angerechnet wird. Das Programm ist bis Ende September gültig. Insgesamt liegt der Lohn-Verlust für Emma Normal somit bei mehr als 10% dessen, was vorher auf das Konto kam. Ganz zu schweigen von jenen Personen, die in der informellen oder Schattenwirtschaft tätig waren und praktisch alles verloren, ohne Lohnersatz-Leistungen. ERTE ist selbstverständlich kein voller Lohnersatz, das funktioniert wie Arbeitslosengeld, zwei Drittel des Realen. Gleichzeitig erlöst ERTE (in manchen Fällen) die Arbeitgeber von der Zahlung der Sozialbeiträge zur gesetzlichen Versicherung.
Die Konsequenz dieser “Befreiung der Arbeitgeber-Beiträge“ führte zu einem bedeutenden Absinken der allgemeinen Lohnkosten – die ansonsten und immer schon die große Leidklage der Kapitalisten darstellt. 6,3% weniger im Baskenland, noch kein Grund, die Sektkorken knallen zu lassen. Gleichzeitig wurde in der besagten Zeit nur 17% reale, produktive und gewinnbringende Arbeit geleistet. Die Kosten für eine Arbeitsstunde wurden 11% billiger.
Im Industriebereich sanken die Einkommen der Beschäftigten am stärksten, um 12%. In der Dienstleistung waren es 7% (ohne Schattenwirtschaft) und im Baugewerbe sank die Zahl um 6,6%, wobei dieser Wirtschaftsbereich praktisch keinen Lockdown erlebte, weil dieser Sektor immer als unverzichtbar definiert wurde.
2020-09-17 / Zweite Welle (36) / Gesundheits-Notstand (32)
DIE SCHULEN LEEREN SICH
Auch wenn die baskischen Bildungs-Behörden den Schulstreik rundherum ablehnten, sehen sich die Streikaufrufer in ihren Argumenten jeden Tag mehr bestätigt. Ein halbwegs normaler Schulbetrieb ist nicht durchführbar. Bereits am ersten Schultag mussten Einrichtungen geschlossen bleiben, jeden Tag folgten weitere Schulen oder Klassen, die dicht gemacht werden mussten. Nach 10 Tagen Notbetrieb befinden sich 5.000 Schülerinnen und Schüler in Quarantäne, 189 Klassen wurden wegen Covid-Fällen wieder nach Hause geschickt.
Der größte Anteil davon fällt auf Navarra, ausgerechnet dort, wo die Regierung zumindest 600 zusätzliche Arbeitsstellen bewilligt hatte. Das sind immerhin 3,1% der 3.490 schulischen Kleingruppen, mit denen der Neubeginn in der Schule bewältigt werden sollte. 2.800 Schüler*innen müssen zu Hause bleiben, weil in ihrem direkten Umfeld zumindest ein positiver Fall vorkam. Die Zahlen steigen kontinuierlich. Die kritischen Gewerkschaften können sich heute mehr im Recht fühlen wie noch vor dem Streik, den Behörden schwimmen die Felle weg.
Ein Streik steht auch in Madrid bevor. Nicht jedoch im Schulsektor, sondern bei Ärzt*innen und Pflegepersonal. Die wollen auf die katastrophale Situation im Gesundheits-System hinweisen und Verbesserungen durchsetzen. Bei Heise.de wird Madrid als die europäische Corona-Hauptstadt bezeichnet, alle Zahlen sprechen dafür. Die rechte Regionalregierung ziert sich mit Maßnahmen und Ausgaben. Obwohl die Krankenhäuser bereits wieder ans Limit ihrer Kapazität gekommen sind. Es könnte erneut zu lokalen Lockdowns kommen und zum Wiederaufbau des Not-Lazaretts in der Messe. Ab 28. September könnte es sogar einen unbefristeten Streik geben.
2020-09-16 / Zweite Welle (35) / Gesundheits-Notstand (31)
TOT OHNE COVID
In baskischen Gefängnissen stirbt sich ebenso leicht wie in spanischen. Am 5. September wurde Igor Gonzalez in seiner Zelle tot aufgefunden. Niemand sagt es offiziell, aber alle gehen von Suizid aus. Der Gefangene war ETA-Mitglied und befand sich erstaunlicherweise im Gefängnis Martutene in Gipuzkoa.
Von seiner Strafe hatte er 15 Jahre abgesessen, das waren drei Viertel der Strafe, nach demokratischen Grundsätzen ausreichend zur vorzeitigen Entlassung. Aber nichts dergleichen. Seit 20 Jahren kam keinem einzigen, keiner einzigen Gefangenen dieses Recht zugute. Absitzen bis auf die letzte Minute. Rachejustiz wird dies in baskischen Kreisen genannt. Bereits in den Jahren zuvor hatte der Gefangene (offiziell bestätigt) mehrere Suizid-Versuche unternommen. Dass er Vater wurde gab ihm neuen Lebenswillen. Aber nicht genug, um weiter zu leben.
123 Kilometer weiter im Süd-Westen, ebenfalls im Baskenland, liegt das neue Gefängnis Zaballa. Vor nur zwei Tagen kam von dort die Nachricht, dass ein 32-jähriger Gefangener ebenfalls tot in seiner Zelle aufgefunden wurde. Verbreitet wurde die Nachricht nicht von den Behörden, sondern von der Gefangenen-Hilfsorganisation Salhaketa. Dieser Gefangene war nicht bekannt, kein Name machte die Runde. Vielleicht hatte er auch keine guten Anwälte, die sich um sein Wohl im Dschungel kümmerten. Die mit Nachdruck eine psychologische Behandlung eingefordert hätten, so wie der Gefangene selbst es tat. Mit Betttüchern in der Zelle erhängt. Ausweglose Situationen führen zu verzweifelten Reaktionen. Jedes Jahr sterben Dutzende, wenn nicht Hunderte von Gefangenen in spanischen Gefängnissen. Zaballa ist besonders berüchtigt.
NAMEN-LOS
Der Tote von Zaballa ist eine Zahl, er hat keinen Namen. Der Tote von Martutene hingegen hat einen kleinen politischen Tsunami ausgelöst. Alle Strömungen der baskischen Linken haben sich in Bewegung gesetzt und fordern ein Ende der Ausnahme-Politik in spanischen Gefängnisse gegen alle ETA-Gefangenen: “Das Knast-System tötet“. Gefangene, die auch 10 Jahre nach dem Ende der bewaffneten Aktion einer Zerstreuungs-Politik ausgesetzt sind und in der großen Mehrheit weit von zu Hause entfernt eingesperrt sind. Seit Ende des Franquismus sind 49 politische Gefangene in spanischen Knästen ums Leben gekommen, auf die eine oder andere Art.
Selbst die baskischen Christdemokraten und Sozialdemokraten (die unter ETA gelitten haben), sprechen sich nun für die Heim-Verlegung der baskischen Gefangenen aus. Von Madrid, Cadiz, Galicien, Valencia, Murcia aus zurück ins Baskenland. Im spanischen Parlament haben sich zehn verschiedene Parteien, weit über das Baskenland hinaus, zur selben Forderung zusammengefunden. Es soll keine weiteren Toten mehr geben. Weder im Gefängnis noch bei Besuchsfahrten auf der Autobahn.
NUR EIN TOTER X IST EIN GUTER X
Der Polemik um den toten ETA-Gefangenen folgte eine Anfrage im spanischen Parlament, auf die der Präsident selbst antwortete. Auf eine nicht erwartete Weise sagte Sanchez, dass er den Tod des Gefangenen “zutiefst bedaure“ (lamentar profundamente - für jene, die die Übersetzung kontrollieren wollen). Für einen spanischen Regierungschef eine beachtliche Formulierung.
Die Reaktion ließ nicht auf sich warten. Die versammelte Rechte – von den Postfranquisten der PP, über die Strammrechten von Ciudadanos bis zu Neofranquisten und neuen Faschisten von Vox – alle verurteilten Sanchez Formulierung aufs schärfste. Sie hängen alten Diskursen hinterher. Bis vor wenigen Jahren konterte die Rechte alle Forderungen nach demokratischen Rechten von Gefangenen mit dem Wunsch, sie sollen doch im Gefängnis verfaulen. Niemand aus diesen Ultra-Kreisen traut sich heute öffentlich eine solche Aussage zu machen. Doch die Haltung ist dieselbe geblieben. (Das X aus der Überschrift kann ersetzt werden mit Gefangener – Indianer – Kommunist – Terrorist – Etarra).
2020-09-15 / Zweite Welle (34) / Gesundheits-Notstand (30)
HURRA, DIE SCHULE STREIKT!
Wieder einer jener Tage, an dem besonders viele Großeltern mit ihren Enkeln unterwegs, an dem die Kinderspielplätze voll und die Schulen leer waren. Eltern, Kinder, Jugendliche und Lehrer*innen gingen in den Ausstand, weil die Unterrichts-Bedingungen mit Coronavirus zu schlecht sind, um einen halbwegs normalen Schulbetrieb zu garantieren. Gefordert werden insbesondere: mehr Personal, bessere Covid-Schulung, mehr Räume und Material.
Nicht alle waren glücklich über den Streik. Für viele Eltern war erneut Improvisation angesagt: was tun mit dem Nachwuchs, ohne einen Arbeitstag zu verlieren. Doch viele verstanden die Beweggründe zum Streik und gingen selbst mit auf die Straße. Auch die Regierung war – natürlich – nicht einverstanden mit der außerschulischen Mobilisierung. Man tat als könne man die Argumente nicht verstehen, Argumente, die seit Wochen nüchtern und nachvollziehbar vorgetragen werden und die keinerlei Gehör fanden. So war der Streik logische Folge.
Dann die Manöver vor und nach dem Streik. Vor dem Streik legt die Regional-Regierung einen Minimal-Dienst fest, um “Basis-Funktionen im Schulbetrieb aufrecht zu erhalten“. Dazu gehörten, nach Meinung der Behörde, sage und schreibe 100% der Reinigungs-Kräfte. Die Gewerkschaften fanden das selbstverständlich völlig übertrieben. Und viele der Putzer*innen bekamen Muskelkater vom Däumchen-Drehen, weil nicht wenige Einrichtungen komplett geschlossen blieben. Verordnete Minimaldienste sind bekanntlich nichts anderes als Versuche, von staatlicher Seite den Streik zu unterminieren und den Streikbruch zu befördern.
Nach dem Streik dann der Zahlenkrieg. Unvorstellbar, dass eine Regierung eines Tages höhere Zahlen ausgeben würde als die aufrufenden Gewerkschaften! Alle Seiten suchen ihre Position mit Zahlen zu belegen. Von 65% Beteiligung sprachen die Streik-Gewerkschaften, von 42% die Schulbehörde. “Das liegt ja gar nicht so weit auseinander wie sonst“, so der Kommentar im baskischen öffentlichen Fernsehen.
Dabei lohnt sich ein genauerer Blick auf die Zahlen der Gewerkschaften. Denn die Schulen sind aufgeteilt in zwei, wenn nicht sogar in drei Bereiche. Zuerst die öffentlichen und die privaten. Und die privaten teilen sich zwischen den als Eltern-Initiativen eingeschriebenen Ikastolas und den christlichen Schulen Kristau Eskolak. Von letzteren wurde eine Streikbeteiligung von 2% gemeldet, wahrscheinlich keine Untertreibung, beim Charakter dieser Schulen wäre jede andere Ziffer utopisch. Von den Ikastolas wird hingegen dieselbe Beteiligung von 65% wie generell gemeldet.
Die Gewerkschaften versprechen, mit ihren Forderungen am Ball zu bleiben (in der Region Navarra wurden immerhin 600 zusätzliche Stellen eingerichtet). Weitere Mobilisierungen werden nicht ausgeschlossen. Der neue baskische Bildungs-Senator zeigte sich diplomatisch und verständnisvoll für die “Sorgen der Lehrer*innen und Gewerkschaften“ – ohne konkrete Schritte anzudeuten. Verwundert zeigte er sich über die Tatsache, dass die Region Baskenland (ohne Navarra) “die einzige in ganz Europa“ sei, in der der Schulbeginn von einem Streik begleitet werde. Von dieser Stelle aus geben wir gerne kostenlose Nachhilfe: Erstens, ist die Situation in den Schulen derart schlecht, vielleicht schlechter als anderswo; und zweitens, wahrscheinlich sind die Lehrer*innen nirgendwo so gut organisiert wie hier. Alles klar, Señor Bingen? Wir blicken hoffnungsvoll neuen Mobilisierungen entgegen!
2020-09-14 / Zweite Welle (33) / Gesundheits-Notstand (29)
ES LIEGT AUF DER HAND
Nach den Positiv-Ergebnissen der zweiten Coronavirus-Welle, die sich von der ersten so sehr unterschieden, hatten wir bereits einen Verdacht: irgend etwas stimmt da nicht mit den Statistiken – wie kann sich dieser Virus in so kurzer Zeit so stark verändern.
Die erste Meldung des Tages könnte diesen Widerspruch nun erklären. In der Hochzeit der ersten Pandemie-Phase, April-Mai 2020, entdeckte die baskische Gesundheitsbehörde nur einen von sieben Fällen von Coronavirus. Das bedeutet, die tatsächlich Zahl von Ansteckungen war sieben Mal so hoch wie die offiziellen Zahlen dies angaben. Weil es sich um denselben Virus handelt, sind Erklärungen angesagt. Die erste und einfachste ist, dass es zu jener Zeit keine oder nur ganz wenige Tests gab, deren Aussagekraft zudem in Zweifel gezogen wurde. Getestet wurden nur die schweren und offensichtlichen Fälle, von denen entsprechend viele auch zum Tod führten.
In dieser zweiten Welle ist der Altersdurchschnitt der Infizierten niedriger, die Krankenhaus-Einweisungen ebenfalls, ebenfalls die Todesrate, die Zahl der durchgeführten Tests ist hingegen deutlich höher (bis zu mehreren Tausend pro Tag). Wenn die Zahl der Neuansteckungen heute so hoch liegt wie Anfang Mai (zwischen 500 und 600), dann handelt es sich nun um vorwiegend asymptomatische Fälle, bei denen die Krankheit nicht zum Ausbruch kommt, die dennoch ansteckend sein können und die vor vier Monaten mangels Test-Kits nicht entdeckt werden konnten.
Vielleicht sollten sie auch gar nicht entdeckt werden. Denn stellen wir uns vor, dass anstelle der täglich 500 Neufälle 3.500 gemeldet worden wären! Die ohnehin schon gefährliche Panik wäre perfekt gewesen. Das Baskenland hätte alle übrigen Europa-Rekorde weit hinter sich gelassen. Was im Übrigen ein Licht wirft auf die anderen Länder-Statistiken. Dort wurde ganz offenbar nach demselben Prinzip verfahren: kein Test, kein Positiv, kein Covid. Mehrfach wurde deutlich, dass die Zahlen nach allen Regeln der Betrugskunst nach unten geschönt wurden.
DER IMPFSTOFF
Die legendäre und bereits lange vor ihrer Existenz heftig umstrittene Spritze zur Impfung gegen Covid ist die zweite Tagesnachrichten aus iberischen Landen. In einer Klinik in Santander (Kantabrien) finden heute die ersten 40 Impf-Versuche statt, dafür haben sich 40 Freiwillige zur Verfügung gestellt. Morgen wird der klinische Test mit weiteren 150 Personen in Madrid fortgesetzt. Die Versuchs-Kaninchen sind in zwei Gruppen eingeteilt, unter und über 65 Jahre. Weitere Versuche wurden bereits in Belgien und Deutschland durchgeführt mit insgesamt 550 Freiwilligen. Erste Resultate werden für das Frühjahr 2021 erwartet.
Mit diesen Versuchen rückt ganz langsam der Moment näher, an dem eines Tages – manche sagen, dann gäbe es bereits eine andere Pandemie – ein wirksamer Impfstoff zur Verfügung steht. Die Covid-Leugner und Spritzenfeinde haben die Diskussion über die Frage schon lange eröffnet. So wie die herbstlichen Grippe-Spritzen seit Langem umstritten sind, wird auch die Covid-Impfung viele Gegner*innen zusätzlich auf den Plan rufen. Denn im Gegensatz zur Grippe könnten staatliche Behörden auf die Idee kommen, diese Impfung zur Pflicht zu machen.
Unschwer vorzustellen, dass ein Impfkrieg die Folge wäre. Sollen die Impfgegner dann gegen ihren Willen gespritzt werden? Oder sollten sie in Lagern interniert werden? Nach dem Lockdown der halben Welt ist nichts mehr unvorstellbar. Was alles lässt sich mit dem Argument des Schutzes der allgemeinen Gesundheit rechtfertigen? Gibt es dann noch individuellen Spielraum?
Die Frage hat schon jetzt einen hochpolitischen Gehalt. Denn hinter vielen (nicht allen) Covid-Leugnern und Impf-Gegnern stehen ultrarechte Gruppen und Parteien, die (Beispiel Deutschland) plötzlich die Demokratie entdecken und vorgeben, die Grundrechte schützen zu wollen. Sie kritisieren “brutale Polizeigewalt“ wie dies sonst nur soziale Bewegungen tun. Im Schatten dieser Impf-Versuche und der Diskussion um Spritzenpflicht hat der autoritäre Staat Israel einen neuen Lockdown für die Zeit von drei Wochen verhängt.
2020-09-13 / Zweite Welle (32) / Gesundheits-Notstand (28)
HAUSAUFGABEN VERWEIGERT
Alle haben die Hausaufgaben gemacht, nur nicht die Schulbehörden. Nach Bekanntgabe der neuen Regeln für den Schulbetrieb hatten die Schulleitungen eine Woche Zeit, das Ganze in eine vernünftige Praxis umzusetzen. Dennoch blieben viele Zweifel, wie immer bei einer Kluft zwischen Theorie und Praxis. Dazu fehlte es überall an Personal, um die alten und neuen Regeln umzusetzen, es fehlt an adäquater Schulung und an Material. Dazu die Angst vor Ansteckungen.
In einer Schule in Bilbao-Atxuri kam im letzten Moment die Nachricht hinzu, dass die zuständigen Stadt- und Regierungs-Behörden die Schulkantine schließen. Von einem Tag auf den anderen waren Eltern gezwungen, persönlich für das Essen ihrer Kinder zu sorgen – nicht einfach, wenn sie selbst eine Arbeit nachgehen müssen. Deshalb hingen vom ersten Tag an Protest-Plakate am Schulhofgitter. Den Behörden wird Verantwortungslosigkeit vorgeworfen, denn bereits im August wurde von den Schulverantwortlichen ein Vorschlag gemacht, wie die seit langem bestehenden und durch Covid verschärften Mängel behoben werden könnten. Nicht einmal eine Antwort erhielten sie, Basisdemokratie ist in Regierungskreisen nicht gefragt.
Raum gäbe es in nahegelegenen städtischen Gebäuden, die teilweise oder ganz leer stehen. Denn die minikleine Schulkantine fasst nur 80 Kinder (von 260). Zum leerstehenden alten Bahnhofsgebäude sind es gerade mal 10 Meter, über eine verkehrsfreie Straße, doch die Behörde lässt das Gebäude lieber ungenutzt. Auch in einer 20 Meter entfernten Berufsschule wäre vorübergehend Platz. Ignoranz ist die Antwort. Interesse an öffentlichen Räumen für Stadtteil-Aktivitäten hätten auch andere soziale Gruppen, die schon vor längerer Zeit entsprechende Vorschläge gemacht haben. Behördlicher Durchzug. Wenn es regnet und die zwei mittelgroßen Schulhöfe nicht genutzt werden können, drängt sich das ganze Schulvolk in einem bereits vor Covid völlig unzureichenden Innenraum. Unvorstellbar unter den neuen Bedingungen der Pandemie.
Ungelöst ist auch das Verkehrs-Problem bei Schulbeginn und Schulschluss. Am Eingang kreuzen Dutzende von riesigen Stadtbussen auf engstem Raum, die Gefahr ist offensichtlich. Doch die angeforderten Stadtpolizisten bleiben abwesend. Die werden lieber zu Dutzenden zu einer Zwangsräumung geschickt, bei der sich hundert Personen eingefunden haben, um einer 90-jährigen säumigen Mieterin die Wohnung zu erhalten. “Die Lösung der Probleme wird von einer Hand in die nächste gereicht, niemand reagiert“, beklagt sich eine Stimme aus der Eltern-Initiative.
(ERST-PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-09-13)