Iparralde zwischen Vichy und den Nazis
Vor 80 Jahren, im Juni 1940 besetzten die Nationalsozialisten in dem von ihnen angezettelten Weltkrieg Holland, Belgien und Teile von Frankreich. Betroffen war auch das französische Baskenland, Iparralde. Dieses Gebiet wurde sogar zweigeteilt. Ein Teil blieb unter Verwaltung der französischen Petain-Kollaborateure, den westlichen Teil kontrollierten die Nazis. Die Besetzung dauerte bis 1944. In dieser Zeit versuchten baskische Aktivisten, mit neuen Projekten die baskische Kultur am Leben zu halten.
Die Besetzung von Frankreich im Juni 1940 hatte die Teilung des französischen Baskenlandes zur Folge. Gleichzeitig entstanden Initiativen zur Förderung der baskischen Sprache und Kultur. Mit der Vertreibung der Nazis im April 1945 war auch die Teilung von Iparralde zu Ende.
Ende Juni 1940 besetzten die Nazis auf ihrem Feldzug in den europäischen Westen große Teile Frankreichs, unter anderem einen Teil des französischen Baskenlandes. Es war der Beginn einer finsteren Zeit, die vier Jahre andauerte, bis August 1944. So widersprüchlich es klingen mag, in diesem Zeitraum entstanden zwei kulturelle baskische Initiativen: die Zeitschrift Aintzina (früher) und die Gruppe Eskualdun Gazteen Batasuna (Einheit der Baskischen Jugend). (1)
Französische Historiker*innen bezeichnen das Jahr 1940 als “schrecklich“. Tatsächlich war es ein Jahr, in dem sich dramatische Ereignisse aneinander reihten. Zu Beginn des Feldzugs der Nazis im September 1939 beschränkten sich die militärischen Operationen ausschließlich auf den Osten. Im Westen herrschte Friedhofsruhe. Am 10. Mai 1940 befahl Hitler jedoch eine große Militär-Offensive gegen Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich. Letzteres wurde in fünf Wochen praktisch überrannt. Am 17. Juni beschloss der Marschall und Regierungschef Pétain, die Kämpfe zu beenden und um einen Waffenstillstand zu bitten, der am 22. Juni auch unterschrieben wurde.
Die Vereinbarung teilte das Land in zwei Zonen. Der Norden und 55% des Territoriums, einschließlich der gesamten Atlantikküste wurde von den Nazis besetzt. Im Süden wurde eine sogenannte freie Zone“ ausgerufen, die von dem Nazi-Verbündeten Marschall Pétain kontrolliert wurde. Der war am 10. Juli 1940 im sogenannten Vichy-Regime mit allen Vollmachten ausgestattet worden. Dies bedeutete das Ende der Dritten Republik und den Beginn des französischen Staates. Die “freie Zone“ verschwand im November 1942, nachdem die Nazis auch diese Gebiete besetzten.
Nach dem 25. Juni 1940 wurden die baskischen Gebiete durch eine Demarkationslinie geteilt: die Provinzen Lapurdi (frz: Labourd) und Baxe Nafarroa (frz: Basse Navarre, dt: Nieder-Navarra) wurden von den Nazis besetzt, Zuberoa (frz-dt: Soule) blieb in der “freien Zone“ des Vichy-Regimes. Die Trennungslinie wurden von den Nazis schwer bewacht. Sie begann in Arnegi, gegenüber der Grenze bei Luzaide (span: Valcarlos) und führte nach Donibane Garazi (Saint-Jean-Pie-de Port), Larzabale (Larceveaux) und Donapaleu (Saint Palais), bevor sie im Bearn-Gebiet endete, in der Stadt Salies-de-Béarn.
Zwischen dem 18. Mai und dem 1. Juni ereignete sich eine massive politische Verfolgung, der die aus dem Süden geflüchteten Baskinnen und Basken ausgesetzt waren. Hunderte von ihnen – in den Departement-Archiven von Pau ist von 570 die Rede – wurden bei Razzien zwischen Hendaia und Boucau verhaftet und im Konzentrationslager Gurs im Bearn-Gebiet interniert (2), ganz in der Nähe der Grenze zu Zuberoa. Es handelte sich um eine “ethnisch“ motivierte Repressions-Aktion der französischen Kollaborateure, die sich gegen anti-franquistische republikanische Bask*innen richtete. Und wer vor den Franquisten geflüchtet war, musste schließlich einen politischen Hintergrund haben. Die Verhaftung dauerte nur kurz, provozierte jedoch eine große Angst unter allen, weil sie die Furcht nährte, es könnte eine Auslieferung an Franco folgen. Zum Glück kamen alle wieder frei bevor die Nazis einmarschierten. Dieser Einmarsch geschah am 27. Juni 1940 und betraf die gesamte Küste und das Hinterland.
Am 23. Oktober 1940 trafen sich Hitler und Franco in einer historischen Begegnung am Bahnhof von Hendaia (Hendaye). Hitlers Absicht war, Franco von einem Kriegseintritt auf der Seite der Nazis zu überzeugen. Doch der vorsichtige Caudillo Franco zog die Neutralität vor, trotz seiner ideologischen Sympathien für die Nazis und für die italienischen Faschisten. Am Tag darauf traf sich Hitler mit Pétain am Bahnhof von Montoire, im Departement Loir-et-Cher, zwischen Tours und Paris. Nach diesem Treffen erklärte Pétain, “dass er mit den Deutschen zusammenarbeiten“ werde. Die Besetzung endete mit der Kapitulation der deutschen Truppen anlässlich der Befreiung von Paris am 24. August 1944.
Die Zeitschrift “Aintzina”
Im Jahr 1941 trafen sich junge baskische Nationalisten mit dem Pfarrer Pierre Lafitte (* 1901, Luhuso). Dessen Idee war es, die baskische Zeitschrift Aintzina wieder zu beleben, eine Publikation, die den Vorstellungen der Baskisch Nationalistischen Partei PNV nahestand und bereits zwischen 1934 und 1937 publiziert worden war. Weil die Zeitung bereits einmal erschienen war, erhielten die Initiatoren leichter die Genehmigung der Nazi-Besatzer, denn es handelte sich um kein neues Projekt. Die erste Ausgabe von Aintzina erschien im Januar 1942, Direktor war der junge Marc Légasse (*1918, París), der die Ausgabe komplett aus eigener Tasche bezahlte. Im Herausgeber-Komitee waren Verantwortliche von Kulturvereinen vertreten, jedoch niemand von der Wochenzeitschrift Eskualduna, die traditionell französisch ausgerichtet war und mit der es keine guten Beziehungen gab.
Zu den begeisterten Herausgebern gehörten der junge Seminarist Roger Etchegaray (*1922, Ezpeleta), später Kardinal; dessen Freund, Piarres Charritton (*1921, Hazparne), ebenfalls Seminarist, später baskischer Akademiker, und Michel Labèguerie (*1921, Uztaritze), später Abgeordneter und Senator. In der ersten Nummer von Aintzina wurden die Zielsetzungen beschrieben: in jedem Ort sollte sich die baskische Jugend kennenlernen und zusammentun, um Jungen-Gruppen (eskualzale) und Mädchen-Gruppen (begirale) zu gründen.
Im August 1942 wurde die Gründung eines Leitungsrates beschlossen, in dem Leute aus Lapurdi und Nieder-Navarra vertreten waren. Leute aus Zuberoa kamen nicht in Frage, weil die Provinz durch die Demarkationslinie abgetrennt war und zur “freien Zone“ gehörte.
1943 kam es zu einem heftigen Konflikt zwischen Marc Légasse und Pfarrer Piarres Larzabal, die sich erst 30 Jahre später wieder versöhnten und zu glühenden Parteigängern der Bewegung um ETA wurden. Doch im Januar 1943 war Pater Larzabal (*1915, Azkaine) zum Redaktionschef der Zeitschrift ernannt worden. Doch die Ausgabe, die er vorbereitete und zum Druck schickte und in dem das Editorial mit “Unser Programm“ überschrieben war, gefiel Marc Légasse überhaupt nicht. Er drehte dem Pater den Geldhahn zu, dieser wurde von seinen Funktionen entlassen.
Pater Larzabal folgte der Politik von Marschall Pétain, indem er (laut Marc Légasse) der Zeitschrift einen regionalistischen Charakter geben wollte und im Editorial die baskischen Nationalisten angriff. Das war Légasse zu viel, er nahm den Rücktritt des Paters an.
Tatsächlich hatte Larzabal im Editorial “Unser Programm“ geschrieben: “Frankreich und Spanien haben von uns nichts zu befürchten. Die Feinde des wahrhaften Frankreich und des wahrhaften Spanien sind auch unsere Feinde.“ In der Folge beschloss Légasse Anfang 1943, aus Aintzina eine rein folkloristische Zeitschrift zu machen. Die Überschrift seines Editorials in der zweiten Nummer macht dies deutlich: “Wir singen und tanzen“.
Die dahinter stehende Strategie für Aintzina war: es ist nicht ratsam, sich öffentlich politisch zu äußern; man sollte sich ausschließlich um historisch-folkloristische Dinge kümmern; man sollte den Eindruck erwecken, dass es sich um eine literarische Zeitschrift handelt, im Stil von “Gure Herria“ (Unser Volk) aus der Zeit zwischen den Weltkriegen, ganz in Erwartung des militärischen Sieges der Alliierten. Weil Marc Légasse der einzige war, der die Zeitschrift finanzieren konnte, konnte er auch solche Entscheidungen treffen: erst kurz zuvor hatte er von seinem Vater Luis ein großes Vermögen geerbt, einem Industriellen, der eine bedeutende Kabeljau-Konservenfabrik besaß.
Eskualdun Gazteen Batasuna
Die Idee zur Gründung von Eskualdun Gazteen Batasuna (EGB, Föderation Baskischer Jugendlicher) kam von der Tanzgruppe “Paris Errepika“ während einer Arbeitssitzung am 12. April 1943. Die Jugendlichen arbeiteten an der Vorbereitung eines großen Treffens der baskischen Jugend, am Osterdienstag, dem 27. April in Ustaritze. (“Euskaldun“ ist das baskische Wort für baskisch-sprachig, im Iparralde-Dialekt werden die ersten vier Buchstaben vertauscht zu “eskualdun“).
Diese Demonstration hatte einen großen Erfolg. Nach dem Gottesdienst und dem Mittagessen kam es zu einer großen Versammlung, bei der zur Verteidigung der baskischen Kultur die Gründung der “Föderation der baskischen Jugend“ beschlossen wurde. 150 Vertreter*innen der baskischen Jugend vereinbarten die folgende Resolution:
(*) Notwendig sind verschiedene Maßnahmen zum Erlernen und zur Förderung der baskischen Sprache. (*) Gefordert wird für das Baskenland eine eigene einheitliche Verwaltung, die keine weiteren Gebiete einschließen soll. (*) Unterstützt wird die Übernahme des traditionellen baskischen Mottos “Zapiak Bat“ (“Sieben sind Eins“ hat einen historischen Bezug, denn das historische Baskenland, einst vereinigt im Königreich Navarra, bestand aus sieben Provinzen in den heutigen Staaten Frankreich und Spanien).
Im Provisorischen Komitee von EGB gab es ein Leitungsgremium, das sich zwischen Mai 1943 und September 1944 sieben Mal traf. Es wurden zwei Tanz-Events organisiert, im August 1943 in Ustaritze zu einer 300jährigen Jubiläumsfeier; und im September 1944 in Milafranga unter dem Vorsitz von Pater Jean Saint-Pierre. Das alles mitten im Krieg und unter den Augen der katholischen Kirche.
Im März 1944 traten der EGB-Föderation fünfzehn Tanzgruppen bei, die insgesamt 150 Tänzerinnen und Tänzer umfassten. Dazu kamen verschiedene Choräle aus Baiona, Miarritze (Biarritz), Kanbo, Baigorri, Bordeaux und Paris. Der Verband wurde in vier technische Komitees aufgeteilt: Sprache und Geschichte, Choreografie und Instrumental-Musik, Organisation von Chören, sowie Konferenzen und Studien.
Doch bei einem Treffen im Mai 1943 standen sich zwei Positionen gegenüber. Auf der einen Seite Marc Légasse, der an die Situation mitten in einem Krieg dachte. Seiner Meinung nach war es nicht nur inopportun, sondern auch schädlich für die Zielsetzung der Föderation, beim Vichy-Regime und den nazi-deutschen Besetzungs-Behörden die offizielle Anerkennung zu beantragen. Vielmehr sollte inoffiziell und diskret gearbeitet werden.
Demgegenüber vertrat Eugène Goyheneche (*1915, Uztaritze) die Ansicht, politische Erwägungen hätten nichts mit der Föderation zu tun, da ihre Zielsetzung rein kultureller Natur sein. Der Krieg könnte schließlich noch lange andauern, deshalb sei es durchaus angemessen und notwendig, den Verband anerkennen zu lassen, um ihm einen offiziellen Charakter zu geben und um frei arbeiten zu können. Am Ende wurden bei einer Versammlung im April 1944 die Statute vorgestellt: EGB sollte keine Föderation folkloristischer Gruppen sein. Vielmehr sollten Einzelpersonen Mitglied werden können und sich mit anderen aus dem gleichen Ort zu Aktivitäten zusammenschließen, bei weitgehender Autonomie. Die Föderation sollte den Gruppen lediglich Orientierungen anbieten. Es wurde beschlossen, die Statute bei der Sub-Präfektur von Baiona einzureichen, was letztendlich aber nicht geschah.
Während jener Kriegsjahre und der nazideutschen Besetzung war die Föderation der Baskischen Jugend weit mehr als ein Verband von Folklore-Gruppen. Trotz diesen Ausnahme-Bedingungen wurde EGB zu einem Treffpunkt von politisch und kulturell verantwortlichen Baskinnen und Basken. Dabei ging es nicht nur um Folklore – Tanz und Gesang – es ging auch um die baskische Sprache, um Geschichte, Theater und Konferenzen.
In einem Wort und trotz der widrigen Umstände: es ging um Abertzalismus. (“Abertzale“ ist baskisch und bedeutet “patriotisch“ im Sinne von Verteidigung der Sprache, der Kultur und der territorialen Einheit aller baskischen Provinzen). Während jegliche politische Aktivität von Nazi-Besatzern und Regime verboten war, waren sowohl die Zeitschrift Aintzina wie auch die Jugend-Föderation lebendige Zeichen des Fortbestands und der Lebenskraft der baskischen Kultur.
Autor Jean-Claude Larronde
Larronde (*1946, Baiona), der Autor des vorliegenden Textes, ist ein Jurist der Anwalts-Kammer Baiona im Ruhestand. Er hat an der Universität Bordeaux Jura und Politikwissenschaften studiert, dazu Geschichte an der Universität Pau. Seit seiner Doktorarbeit im Jahr 1972 – über das Entstehen des baskischen Nationalismus im Lebenswerk von Sabino Arana Goiri – interessierte er sich für die zeitgenössische Geschichte des Baskenlandes und speziell für die Geschichte des Nationalismus, sowohl im Norden wie im Süden des Bidasoa-Flusses, der die Grenze zwischen Iparralde und Hegoalde markiert, dem nördlichen und dem südlichen Baskenland. Der Text entstand im Auftrag der Stiftung Sabino Arana, der Parteistiftung der Baskisch Nationalistischen Partei PNV-EAJ.
ANMERKUNGEN:
(1) Information aus: “80 aniversario de la ocupación de Iparralde por los nazis” (80 Jahre Nazis-Besetzung in Iparralde), Jean-Claude Larronde, 2020-06-27 (LINK)
(2) Das Lager Gurs, im gleichnamigen Ort an der Grenze zum Nord-Baskenland, war zuerst ein Auffanglager für baskische Flüchtlinge, die vor den siegreichen Franquisten flüchten mussten. Später wurde es zu einem Konzentrationslager, in dem sowohl baskische und spanische Republikaner*innen, wie auch Jüdinnen und Juden aus Süd-Deutschland (zum Weitertransport in die Vernichtungslager im Osten) interniert waren.
ABBILDUNGEN:
(1) Franco, Pétain, Vichy
(2) Hitler, Franco in Hendaye
(3) Pétain, Vichy (elpais)
(4) Marc Légasse (punto y hora)
(5) Aintzina (euskadi.eus)
(6) Zazpiak Bat (Sieben ist Eins)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-07-05)