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Weiterer Schritt in der Kriegs-Aufarbeitung

Es ist schwer vorstellbar, dass von einer Leiche nur zwei Oberschenkel-Knochen übrig bleiben, auch wenn sie seit mehr als 80 Jahren unter der Erde liegt. So dachten viele der knapp 100 Personen, die sich am 24.3.2018 nach Lemoa in Bizkaia aufmachten, um an einem Bergabhang der Exhumierung eines Soldaten aus dem Spanienkrieg beizuwohnen. Vor 81 Jahren hatten hier heftige Schlachten stattgefunden zwischen den aufständischen Faschisten mit ihren Verbündeten und der baskischen Verteidigungsarmee.

Im spanischen Staat liegen noch 120.000 Tote in Massengräbern und Erdlöchern, Soldaten und zivile Erschossene aus der Zeit des Spanienkrieges und der Diktatur – 43 Jahre nach dem offiziellen Ende des Franquismus eine erschreckende Zahl.

Dass es solange dauert, die Toten zu bergen und die Exhumierungen vorzunehmen, hat verschiedene Gründe. Erstens hatten die postfranquistischen Regierungen nie ein ernsthaftes Interesse an solchen Bergungsarbeiten. Zweitens gingen in 80 Jahren viele Informationen verloren. Die damals zu Zeugen des Krieges und der nachfolgenden Gräuel wurden, sind fast alle längst tot und hatten wenig Gelegenheit zu reden. Manche wurden nie gefragt. Und jene, die spät gefragt wurden, als der Massenmörder Franco bereits selbst in einem beeindruckenden Mausoleum lag, hatten Angst vor der Wiederkehr der Nationalkatholiken. Oder sie wollten nicht mehr reden, um nicht „alte Wunden aufzureißen“. (1 - Fotoserie)

Der Tote von Lemoa

lemoa02Insofern war es einem Zufall zu verdanken, dass am besagten Samstag wenigstens ein Opfer mehr aus jenem Krieg geborgen werden konnte. Nach den Schlachten von Lemoa hatte ein Bauer die Leiche auf dem Berg gesehen. Er hatte sie notdürftig zugedeckt, mit Erde und Steinen, damit sie nicht von wilden Tieren zerfleddert werden würde. Seinem Sohn hatte er später von der Geschichte und der Fundstelle erzählt. Danach gingen die Jahrzehnte ins Land. Erst die Jahre der Diktatur, des erzwungenen Schweigens, der bleiernen Zeit. Dann die Jahre einer sogenannten „Demokratie“, die weiterhin von den Mördern und deren Nachkommen geprägt war. Zufall, dass der Sohn des Bauern eines Tages seinem Freund von der Sache erzählte.

Dieser Freund ging der Sache nach und veranlasste, dass die baskischen Behörden aktiv wurden. Tatsächlich nimmt die baskische Regierung das Thema der Kriegsopfer mittlerweile ernst. Vor Jahren wurden eine Landkarte und ein Verzeichnis angelegt, wo vermutete Massengräber dokumentiert wurden, Orte von Probegrabungen und erfolgreichen Exhumierungen. Im übrigen Staat lassen die Bemühungen in dieser Hinsicht sehr zu wünschen übrig. In Navarra wurde mittlerweile eine ähnliche Karte angefertigt. Erst in den vergangenen zwei Jahren haben sich einige Regional-Regierungen (unter dem Einfluss der Protestpartei Podemos) ebenfalls an diese Arbeit gemacht – die Zentralregierung hingegen schweigt und hat kein Geld im Staatshaushalt für solche Nichtigkeiten vorgesehen.

Lemoa 1937

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Was war in Lemoa vor 81 Jahren geschehen? Die franquistischen Putschisten hatten Gipuzkoa längst eingenommen und waren im Frühjahr 1937 westwärts auf dem Vormarsch nach Bizkaia. Die dort verbliebene baskische Regierung setzte alles daran, diesen Vormarsch aufzuhalten. Die Leute der schnell aufgestellten baskischen Armee (Eusko Gudarostea) waren motiviert aber schlecht ausgerüstet. Die mit den Faschisten verbündeten Luftwaffen – aus Nazi-Deutschland die Legion Condor, dazu Mussolinis Aviazione – machten jede Hoffnung zunichte. Aufgrund der faschistischen Lufthoheit waren die Basken militärisch deutlich unterlegen. Unterstützung hatten sie aus Asturien, einer weiter westlich gelegenen Region, in die der Krieg noch nicht vorgedrungen war.

Identität des Gefallenen

„Wir gehen davon aus, dass es sich bei dem hier liegenden Soldaten um einen Asturier handelt“, erklärte einer der für die Ausgrabung Verantwortlichen von der Wissenschaftlichen Gesellschaft Aranzadi in einer Ansprache an das versammelte Publikum. Aranzadi übernimmt im Auftrag der baskischen Regierung alle Exhumierungen und wird gelegentlich sogar in andere spanische Provinzen gerufen, weil es nirgendwo vergleichbare Organisationen gibt. „Es muss am 23. oder 24. Mai 1937 gewesen sein. Früh morgens starteten die Franquisten einen Luftangriff. Der wurde zwar zurückgeschlagen, aber er sorgte für Verwirrung. Die baskischen Soldaten und ihre asturische Verstärkung wurden auseinandergetrieben. Die Asturier hatten den Nachteil, dass sie das Gelände nicht kannten und nicht genau wussten, wohin sie sich zurückziehen sollten.“

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Deshalb ist wahrscheinlich, dass der verletzte oder tote Soldat beim überstürzten Rückzug zurückgelassen oder übersehen wurde. Sobald die einrückenden Faschisten kamen, führten sie „Säuberungen“ durch, nicht nur gegen Soldaten, auch gegen die ansässige Zivilbevölkerung. Sollte der Asturier also noch gelebt haben, hätte spätestens dieser Moment sein Ende bedeutet. „Die Asturier waren zwar von der republikanischen Regierung in Madrid zum Einsatz nach Euskadi geschickt worden, aber sie bekamen keinen Sold von der baskischen Regierung. Sie mussten sich durchschlagen, sich Kleider besorgen und auf den Bauerhöfen das eine oder andere Huhn“, so ein anderer Aranzadi-Mitarbeiter.

Exhumierung

Weshalb von der Leiche nur zwei Knochen übrig blieben, war für die Mehrheit der Anwesenden schwer nachvollziehbar. Doch in einem offenen und ungeschützten Gelände holt sich die Natur ihren Anteil zurück. Neben dem Zufallsgrab fließt ein Bach den Berg herunter, die Erde war also immer feucht. „Die Bäume, die in der Folge gepflanzt wurden, holten sich mit ihren Wurzeln die notwendigen Nährstoffe, dazu gehörten in diesem Fall die menschlichen Überreste.“

lemoa05Beim Auffinden der auf zwei Knochen reduzierten Leiche half, dass der Asturier ein paar Münzen in der Tasche gehabt hatte, die aus Zeiten vor der Republik stammten und in jenem Moment wenig Wert hatten. Doch sprachen die Metalldetektoren auf diese Münzen an, als Aranzadi die erste Suche startete. Noch ein Zufall.

Dem Bauern weckte der tote Soldat, den er gefunden hatte, ein starkes Mitgefühl. „Immer wenn er mit seinem Ochsenwagen an dieser Stelle vorbei kam, hielt er an und betete ein Vaterunser“, erzählte sein Sohn später. „Das mag aus heutiger Zeit etwas lächerlich klingen“, kommentierte ein Mitarbeiter von Aranzadi, „aber es war das einzige minimale Zeichen von Menschlichkeit in dieser Geschichte. Könnte der Tote sehen, dass wir uns heute mit so vielen Leuten hier versammeln, wäre das sicher ein Grund der Zufriedenheit, dass sich sein Einsatz gelohnt hat“. Ein gut gemeinter aber später Trost.

An dieser Stelle ergriff Paco Etxeberria das Wort, er ist der Präsident der Wissenschafts-Gesellschaft Aranzadi und die unbestrittene Koryphäe in seinem Fach. Etxeberria wurde unter anderem vor wenigen Jahren nach Chile geholt, um die Todesursache von Salvador Allende festzustellen und war auch an der Suche nach der Wahrheit über die Todesursache von Miguel de Cervantes beteiligt. „Als wir in Ezkaba Tote exhumiert haben, konnten wir feststellen, dass einige eine Münze zwischen den Zähnen hatten“, erzählte er (2). „Die Nonnen, die ermordete Flüchtlinge aus der Bergfestung fanden, legten den Toten eine Münze unter die Zunge. Das war sozusagen der letzte Versuch der Kirchenfrauen, die 'ungläubigen Roten´ auf den richtigen Weg zurückzuführen“, erzählte Etxeberria schmunzelnd. „Nachdem wir die Leichen ausgegraben hatten, erzählten wir das den Angehörigen der aufgefundenen Toten, sie reagierten angewidert und empört.“ Denn schließlich war die katholische Kirche zusammen mit der Oligarchie und dem Militär ein Teil des franquistischen Putsches gegen die spanische Republik. Nicht vergessen ist, dass die Franquisten sich selbst „Nationalkatholiken“ nannten, mit dem Segen der spanischen Kirchenfürsten und des Vatikans.

lemoa06Der Tagesablauf

Begonnen hatte der Tag mit einer Pressekonferenz am Rathausplatz von Lemoa. Der Pressesprecher der baskischen Regierung, der nicht nur Parlamentarier ist, sondern wenigstens 20 Samstage pro Jahr bei Ausgrabungen verbringt, kommentierte aktuelle Meldungen, in diesem Fall die erneuten Verhaftungen in Katalonien. Danach ging es in Sammelfahrzeugen auf den Berg, die letzten zwei Kilometer wurden zu Fuß erledigt. Am „offenen Grab“ erklärte ein Mitarbeiter von Aranzadi die historischen und juristischen Hintergründe der damaligen Situation und der verbliebenen anonymen Grabstellen.

Anschließend kamen die anwesenden Politiker*innen zu Wort: der christdemokratische Vertreter der baskischen Regierung, die linke Bürgermeisterin von Lemoa, ein linker baskischer Parlaments-Abgeordneter, die Sprecherin der baskischen Abteilung für Erinnerungspolitik, Gogora, sowie der Sprecher der kleinen Kommunistischen Partei des Baskenlandes. Als sich der Großteil der Anwesenden wieder auf den Weg nach Hause gemacht hatte, begannen die Profis von Aranzadi mit der sorgfältigen Bergung der beiden verbliebenen Knochen. Jeder Stein in der direkten Umgebung wurde untersucht, die Erde durch ein Sieb geschüttelt. Tatsächlich kamen noch einige Patronenhülsen zum Vorschein – ein weiterer, schon gar nicht mehr notwendiger Hinweis, dass es sich um eine Kriegssituation gehandelt hatte. Die Anwendung eines Metalldetektoren in der Umgebung führte zu keinen weiteren Funden.

Erinnerungs-Bewegung

lemoa07Neben den Politikerreden und der Ausgrabung und Exhumierung dienen solche Tage vor allem der Begegnung und dem Austausch. Hier begegnen sich die Parlamentarier*innen, die Techniker*innen und Anthropolog*innen von Aranzadi, die Aktivist*innen aus der antifaschistischen Erinnerungs-Bewegung (im Baskenland Memoria Historica genannt), sowie Interessierte aus dem jeweiligen Ort. Bizkaia trifft Gipuzkoa. Ein Moment für offene Fragen jeglicher Art. Gelegenheit, mit Personen zu sprechen, die sonst nur aus dem Fernsehen bekannt sind. Und umgekehrt: Kontakt aufzunehmen mit der „gesellschaftlichen Basis“. Ausgetauscht werden die neuesten Nachrichten und die nächsten Veranstaltungen – ein Moment für die Absprache neuer Projekte und Verabredungen.

Am beschriebenen Samstag kam der emotionale Moment etwas zu kurz. Bei manchen Exhumierungen steht bereits fest, um wen es sich bei dem Exhumierten handelt. Wenn zum Beispiel bei den ersten Probegrabungen Militärmarken oder persönliche Gegenstände gefunden werden, die eine eindeutige Identifizierung zulassen. Das Übrige tut dann ein DNS-Abgleich (3). Bei solchen Gelegenheiten sind dann Angehörige und Nachkommen anwesend, Tränen sind unvermeidlich.

lemoa08Die Ausgrabungen von Aranzadi sind mehr als technische Vorgänge zur Exhumierung von Toten. Es sind verbindende soziale Akte, bei denen allen Anwesenden eine wichtige Rolle zukommt, nicht allein den federführenden Techniker*innen von Aranzadi. Dieser Charakter wird am Besten am Abschlussfoto deutlich, zu dem alle Anwesenden eingeladen sind: ein Foto für die Erinnerung an die Opfer, gegen das Vergessen, für Gerechtigkeit und Wiedergutmachung im Rahmen des Möglichen. Ein Foto gegen den Faschismus.

Nach 81 Jahren einen unbekannten und nicht identifizierbaren Soldaten zu finden bedeutet auch, dass vor 81 Jahren ein junger Mann in irgend einem Ort in Asturien verschwand. Es bedeutet, dass nie aufgeklärt wurde, was mit ihm passiert ist. Nicht einmal, ob er starb. Sicher die Vermutung, aber ohne Sicherheit. Bei vielen Verschwundenen wurde anschließend eine Legende gebastelt, sie hätten sich abgesetzt, nach Amerika zum Beispiel. Als Schutzlüge, um die Teilnahme am republikanischen Kampf zu verschleiern; oder um die Angehörigen neben dem Schmerz des Verlustes einmal mehr zu erniedrigen.

ANMERKUNGEN:

(1) Fotoserie FAT zur Exhumierung in Lemoa (Link)

(2) Ezkaba war ein Festungs-Gefängnis auf dem 895 Meter hohen gleichnamigen Berg vor den Toren von Pamplona (bask: Iruñea). Das Gefängnis wird auch Festung von San Cristobal genannt wird. Diese aus dem Jahr 1878 stammende Anlage, deren Ruinen bis heute zu sehen und teilweise zu besichtigen sind, befindet sich sowohl auf dem Berg, wie auch in seinem Inneren. Zum Bau wurde der Bergrücken gesprengt, um drei Stockwerke in den Boden einzulassen und das Ganze mit drei Metern Erde wieder abzudecken. Als Flugzeuge ins Kriegsgeschehen eingeführt wurden taugte Ezkaba nicht mehr als Defensiv-Festung. Von 1934 bis 1945 wurde die Anlage als Gefängnis benutzt. Unter der Erde gelegen war die Feuchtigkeit im Inneren der Festung sehr hoch, für viele der Insassen auf die Dauer tödlich. Am 22. Mai 1938 (noch während des Spanienkrieges) floh ca. ein Drittel der 2.500 Gefangenen. Nur dreien gelang die Flucht über die Grenze nach Frankreich, viele wurden unterwegs gestellt und direkt erschossen.

(3) Siehe Artikel „Antifranquistische Aufarbeitung – DNA-Proben als Ersatz für politischen Willen“ (Link)

ABBILDUNGEN:

(*) Kriegs-Exhumierung Lemoa (FAT)

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