Lodosa, Nafarroa
Der Zirkus Anastasini schlug am 18. Juli 1936 seine Zelte in der Kleinstadt Lodosa in Navarra auf, genau an dem Tag, an dem das Militär gegen die gewählte republikanische Regierung putschte. Die lokalen Arbeiter-Organisationen riefen auf, die Stadt zu besetzen und Widerstand zu leisten. Tags darauf schlug das Militär zu und richtete ein Massaker an. Dabei wurde ungefähr die Hälfte der Zirkustruppe getötet. Die Leichen wurden von den Falangisten in zwei oberflächlich ausgehobene Gräber geworfen.
Das Gedenken an die Hinrichtungen der Leute vom Zirkus Anastasini 1936 in Lodosa ist seit Januar 2023 durch ein besonderes Monument im Parque de la Memoria (Park der Erinnerung) im Städtchen Larraga in Nafarroa präsent.
Der “Parque de la Memoria“, baskisch: “Oroimenaren Parkea“ in Larraga wurde im Jahr 2012 eingeweiht und ist einer der mittlerweile 20 öffentlichen Gedenkstätten in der Autonomen Region Nafarroa (spanisch Navarra) (Stand Oktober 2022). Seit Januar 2023 sind drei neue gravierte Gedenksteine hinzugekommen. Diese insgesamt 23 Tonnen schweren Menhire befinden sich nun neben dem Monument, das 2012 zum Gedenken an Maravillas Lamberto errichtet wurde, dem 14-jährigen Mädchen, das im August 1936 von Faschisten vergewaltigt und ermordet wurde. Maravillas gibt in Navarra allen Opfern des Terrors von 1936 ein Gesicht. (1)
Diese drei Steine bilden ein Monument zu Ehren der Zirkusleute, die nur wenige Tage nach dem Staatsstreich von 1936 ermordet wurden. Der größere flache Stein dient als Grundlage für die beiden aufrecht stehenden Menhire. Dazwischen ein Notizbuch mit den Erkenntnissen von Jesús Nieto über die Geschichte des Zirkus Anastasini. "Nennen Sie mich nicht mehr Jesús", sagt er. "Niemand wird mich unter diesem Namen kennen. Nennen Sie mich Eme, das ist der Name, unter dem mich alle kennen". Eme braucht das Notizbuch nicht mehr. Er hat die ganze Geschichte in seinem Kopf und beginnt sie zu erzählen, während er von Nebel umfangen am Maravillas-Stein steht und ein schwacher Sonnenstrahl seine Augen beleuchtet. Es ist eiskalt. "Schalten Sie den Rekorder ein, sonst nehmen Sie nicht alles auf" (2).
Zufällig gefunden
Eme beginnt mit seiner Geschichte im Jahr 2012, als er die Spur eines anderen Massengrabs verfolgte. Ende der 1970er Jahre nahm er als junger Mann an den ersten Exhumierungen von Opfern des Franquismus teil, um an einem Ort namens San Gil nach den 46 Verschwundenen von Larraga zu suchen. Im Jahr 1948 waren dort mehrere Leichen gefunden worden. Entdeckt wurden sie von einem 12-jährigen Jungen namens Eliseo Larrañegui, als er auf der Suche nach Vogelnestern war, um seinen Hunger zu stillen. Was Eliseo fand, waren noch keine nackten Knochen, es gab noch Lederreste und Haare. Als alter Mann erinnerte sich Eliseo an große und kleinere Köpfe. Ein Dutzend oder mehr. Wenn die Erde hart war, gruben die Falangisten nicht zu tief, um die Leichen der Ermordeten zu verstecken. Um sie an die Oberfläche zu bringen, bedurfte es nur eines einfachen Pflugs. Deshalb hat Eliseo sie gesehen.
Im Gegensatz zu den anderen Massengräbern in Nafarroa, in denen die Leichen von mehr als 3.500 Menschen verscharrt waren, gab es bei den Leichen, die Eliseo fand, keine Familienangehörigen in der Nähe, die nach ihnen gesucht hätten. "Eliseos Vater erzählte ihm, dass es sich um Leute vom Zirkus von Lodosa handelte. Wir nahmen an, dass es sich bei den Zirkusleuten um eine ungarische Familie handelte, die mit einem Wagen unterwegs war. Für uns waren alle Zirkusleute Ungarn, egal woher sie kamen. Keine Ahnung warum", fährt Eme mit seiner Erzählung fort.
Zirkusleute
Diese Personen wurden am oder um den 25. Juli in der Nähe eines Vieh-Unterstands hingerichtet. Ein Mann und dessen Sohn hörten die Schüsse, sie hielten sich jedoch versteckt, um nicht die nächsten zu sein, die an die Wand gestellt würden. Denn dieser Mann war ein Linker und bisher verschont geblieben, weil er Verwandte auf Seiten der Faschisten hatte. Einige Tage später wurde verboten, sich ohne Erlaubnis draußen zu bewegen, das diente dazu, bei Gräueltaten solch unangenehme Zeugen zu vermeiden".
Der nächste Hinweis fand sich in Lodosa. Würde sich jemand so lange danach an eine Nomadenfamilie erinnern? Hatten sie eine kommunale Genehmigung beantragt? Bei der Suche nach Daten aus den Tagen der Hinrichtung in den Gemeindearchiven der 5.000-Einwohner innen-Stadt, taucht ein erstes Dokument auf, das von einem solchen Spektakel in Lodosa zeugt. Es handelt sich um eine Geburtsurkunde vom 18. Juli 1936, dem Tag, an dem General Emilio Mola (3) in Iruñea den Staatsstreich startete, der später zum Krieg wurde. Die Eltern des Kindes waren als Zirkusartisten aufgeführt.
Dieses Dokument bestätigte die These von Eme und seinen Untersuchungs-Kolleg*innen María José Sagasti und Javier Ayape. Doch wurde die Entdeckung im Rathaus noch am selben Tag durch das Erscheinen von Antolín Martínez, einem über 80 Jahre alten Einwohner von Lodosa, in den Schatten gestellt. "Ich erinnere mich an den Zirkus", sagte er. Sie hatten einen Elefanten dabei". Antolíns Bericht führte die Geschichte an ihren Ausgangspunkt zurück, an den Tag, an dem der Krieg begann. Ein großer Zirkus war gerade in Lodosa angekommen, mit einem Elefanten, mit Pferden und mit einem großen runden Zelt. Die Schausteller richteten sich auf der "Plazuela" ein, ein kleiner Platz, an dem sich auch die Kaserne der Guardia Civil befand.
Anarchisten in Larraga
Es heißt, in Nafarroa habe es nach dem Militärputsch keinen Krieg gegeben, weil sich die Militärs vor Ort unmittelbar den Aufständischen anschlossen – oder weil Putschisten-General Mola sich der Treue seiner Leute vorab versichert hatte. Das ist zwar richtig, muss in Hinblick auf Lodosa jedoch etwas korrigiert werden. In jener Gegend (bei Lodosa und Mendavia, ganz in der Nähe der Grenze zur Region La Rioja), gab es einige Anarchisten, die versuchten, die Faschisten mit Schrotflinten aufzuhalten. Diese Anarchisten waren in die Höhlen eines Bergeinschnittes geklettert, um nicht mehr nur die Republik, sondern auch ihr eigenes Leben zu verteidigen, angesichts des Grauens, das die Falangisten und Karlisten in allen umliegenden Dörfern anrichteten. Nun stand das Zirkuszelt genau zwischen der Kaserne der Zivilgarde und den Fluchthöhlen.
Ein anderer Einwohner von Lodosa, José Díaz, der am gleichen Platz wohnte, erinnerte sich an die einzige Vorstellung dieses Zirkus. Er hatte kein Geld und wurde eingeladen. Er war fasziniert von den Clowns und dem jungen Mädchen, das auf den Pferden herumtänzelte und auf deren Rücken stand, während sie die Manege umrundeten. "Das Mädchen war 14 Jahre alt", erzählt Eme aus seiner Erinnerung und setzt die Geschichte im Parque de la Memoria fort. Die jugendliche Reiterin ist auf dem Rücken eines Pferdes stehend und als Tänzerin gekleidet auf dem Sockel des Denkmals eingemeißelt. José, der Junge, der damals die Aufführung gesehen hat, ist derjenige, der die entscheidende Information lieferte, um einen wesentlichen Teil der Geschichte zu rekonstruieren. "Ich erinnere mich sogar an den Namen des Zirkus. Er hieß Circo Anastasini".
Melonen für den Elefanten
Den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen hat in Lodosa der Elefant. Die Künstler, die Clowns sind einfach verschwunden. Was blieb, waren die Pferde, die schließlich für landwirtschaftliche Arbeiten eingesetzt wurden. Die Leute von Lodosa mieteten sie, um ihr Land zu bearbeiten. Aus der Plane des verlassenen Zirkus-Zeltes machten sie Säcke.
Die Frage wohin mit dem Elefanten war etwas schwieriger. Ein Mitglied des Zirkus – ein schwarzer Junge, minderjährig, etwa 13 Jahre alt, war der Elefanten-Pfleger. Er blieb noch einige Wochen allein mit dem Dickhäuter in Lodosa. Die Dorfkinder brachten überreife Melonen, um den Hunger des Tieres zu stillen. Der schwarze Junge beeindruckte die Kinder mit seinem Wagemut und seinem guten Schwimmstil. Er wagte es, von der Brücke in den Ebro zu springen. Aber auch er und der Elefant verschwanden.
Die Kinder und vor allem der Name des Zirkus ermöglichten es, das Bild zu vervollständigen und etwas von seiner Geschichte nachzuvollziehen. Denn obwohl alles darauf hindeutet, dass die Falangisten einen großen Teil des Zirkuspersonals ermordeten, auch Kinder, hat doch ein Teil der Truppe überlebt. Es waren mehr als 50, und im Larraga-Grab sah Eliseo "nur" 13 oder 14 Leichen. Aus Zeitungsberichten geht hervor, dass die Show in den Städten Arnedo und Calahorra gastiert hatte und dass mindestens 50 Personen zum Team angehörten.
Aristide Anastasini
Benannt war der Zirkus nach seinem Direktor: Aristide Anastasini. Seine Tochter war die in Stein gehauene Reiterin Giovanna. Beide überlebten und konnten drei oder vier der besten Pferde mitnehmen. Die überlebenden Künstler waren gezwungen, weiterhin aufzutreten, nun aber für die faschistische Falange. Es gibt Fotos von diesen Unglücklichen, die vor Hunderten von Soldaten auftreten mussten, auch Erwähnungen in der Presse zeugen davon. Bislang gibt es jedoch keine Zeugenaussagen. Für Giovanna Anastasini, die in Huelva an einer Bronchitis starb, kamen die Ermittlungen, die 2012 vom Massengrab auf dem Acker in Larraga ausgingen, leider zu spät.
Zum Zirkusprogramm gehörten Clown-Nummern (die berühmten Carpí) und Seiltänzerinnen, auch Musiker waren dabei. Aus dem Baby, das in Lodosa geboren wurde und dessen Geburtsurkunde die Anwesenheit des Zirkus in der Stadt bestätigte, wurde ebenfalls ein Musiker. Er starb um 1970 in Murcia bei einem Unfall mit wenig mehr als dreißig Jahren.
Gleichzeitig nahmen die Ermittlungen eine Wende und führten nach Mendavia, 12 Kilometer flussaufwärts von Lodosa. Im Jahr 1979 (vier Jahre nach Francos Tod) wurde dort unter einem Feigenbaum im Rahmen einer “frühen Exhumierung“ ein weiteres Grab geöffnet – so wird die Bergung von Leichen aus Massengräbern genannt, von Angehörigen organisiert, die sich nach 40 Jahren des angstvollen Schweigens zusammenfanden, um ihren ermordeten Angehörigen ein würdiges Begräbnis zu ermöglichen.
In Mendavia, in dem als "La Caballera" bekannten Grab, blieb die Erinnerung an die "Zirkusleute" erhalten. Siebenundzwanzig Leichen wurden dort gefunden, von denen einige, vielleicht sogar alle aus dem Zirkus stammten. Zusätzlich zu den Leichen aus dem Ackergrab von Larraga. Ein makabres Detail bestätigte die Verbindung zum Zirkus: sehr kleine Schädel. Jene Leute haben damals Dutzende von Leichen ausgegraben, aber die, die sie in La Caballera fanden, zeichneten sich durch winzige Knochen aus. Waren es Kinder? Oder Kleinwüchsige?
Die Steine von Zurbau
Der Feigenbaum, der heimlich gepflanzt worden war, damit die genaue Lage des Grabes in La Caballera nicht in Vergessenheit geraten sollte, ist das Hauptelement des auf der rechten Seite stehenden Menhirs. Zwischen den beiden großen Steinen befindet sich eine oxidierte Metallplatte mit der Abbildung eines Zeltes. Als freistehendes Element fasst eine weitere Eisentafel die Geschichte des Zirkus zusammen.
Die Installation wurde von Mitgliedern des Vereins Maravillas Lamberto und des Kollektivs Zurbau (4) durchgeführt, das bereits ein Dutzend anderer Gedenksteine in anderen Teilen Nafarroas aufgestellt hat, wie zum Beispiel am Grab der Drei Kreuze in Ibero, in Oltza, Erreniega, Azkoien oder Tafalla. Das Aufstellen der drei Steine stellt einen Zwischenschritt dar. Der Verbleib der von Eliseo gefundenen Knochen ist nicht bekannt. Ein Bauer und Antifaschist aus Larraga, der es leid war, dass die Knochen immer wieder durch die Pflugarbeiten über die Erde verteilt wurden, sammelte alle ein und vergrub sie anderswo in einer Eisenkiste. Es gibt Hinweise, aber keine Gewissheit darüber, wo sich diese Kiste befindet. Die Suche geht weiter.
Und zum Schluss die größte Überraschung. Die Zurbau-Gruppe, die in Navarra die Aufarbeitung des Falles vorantreibt, hat Kontakt aufgenommen mit dem Zirkus Anastasini, der in den USA weiterhin aktiv ist. Es gab bereits ein erstes Treffen mit Renato Anastasini, dem Patriarchen auf der anderen Seite des Ozeans, als er nach Italien reiste, um seine Schwester Orlanda zu besuchen. Er kann sich an nichts erinnern, da er drei Jahre alt war, aber er war in Lodosa dabei, als alles passierte. Eme sprach mit ihm. "Wir sind mit einem Kleinbus nach Barcelona gefahren und dann mit dem Flugzeug weiter bis Udine. Wir wollten Namen, aber er konnte uns keine nennen. Er sagte uns, er wisse nur, was sein Vater ihm gesagt habe. Aristide hatte erzählt, dass er andere Kriege gesehen habe, dass er den Ersten Weltkrieg miterlebt habe, dass es ihm aber nie so schlecht gegangen sei wie in Lodosa".
ANMERKUNGEN:
(1) Maravilla Lamberto: “Maravillas, Kriegsverbrechen”, Baskultur.info, 2020-01-15 (LINK)
(2) Information und alle Zitate aus: “Tres piedras en Larraga para no olvidar la masacre del circo” (Drei Steine in Larraga, um das Zirkus-Massaker nicht zu vergessen), Tagesezeitung Gara, 2023-01-16 (LINK)
(3) Der aus Navarra stammende Emilio Mola (1887-1937) war einer der Putschisten-Generäle vom 18. Juli 1936, er war für die Nordfront zuständig (Nafarroa und Euskadi) und galt als besonders brutal. Er war der starke Mann des Putsches, bis er im Juni 1937 mit dem Flugzeug abstürzte. Weil Franco damit einen wichtigen Konkurrenten verlor, vermuten manche, Mola könnte von den Faschisten selbst aus dem Weg geräumt worden sein.
(4). Das Kollektiv "Zurbau", benannt nach einem Berg in Navarra, beschäftigt sich mit der Aufarbeitung der Verbrechen, die während des Militär-Putsches von 1936 und in den anschließenden Jahren von Faschisten in Navarra begangen wurden. Ziel ist es, den Ermordeten und Unterdrückten der Diktatur ihre Würde zurückzugeben. Die Arbeit von Zurbau basiert auf drei Grundgedanken: Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. (LINK)
ABBILDUNGEN:
(*) Larraga, Memoria (naiz)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-01-20)