1936naf1Keine Front, viele Erschießungen

Es mag erstaunlich klingen, aber in verschiedenen Regionen und Provinzen des spanischen Staates gab es nach dem franquistischen Militärputsch vom 18. Juli 1936 keine Front und keinen Krieg. Das heißt, jener Krieg fand nicht im ganzen Staat statt, sondern hatte stark regionalen Charakter. In all jenen Gebieten, die sich sofort den Putschisten anschlossen, gab es keinen Krieg. Dazu gehören – aus baskischer Sicht – Navarra und Araba. Dennoch gab es auch hier viele Tote durch faschistische Erschießungen.

Die Abwesenheit von militärischen Auseinandersetzungen bedeutete nicht, dass es in Gebieten ohne Front und Krieg keine Toten gegeben hätte. Allein in Navarra, wo zu jener Zeit etwa 350.000 Menschen lebten, wurden mehr als 3.600 Personen hingerichtet – ein Prozent der damaligen Bevölkerung.

Der folgende Artikel erklärt in vierzehn Abschnitten die Kriegsrealität ohne Kampfhandlungen in Navarra. Anlass der Überlegungen ist die Tatsache, dass die derzeitige spanische Regierung (PSOE-Podemos) mit dem “Gesetz zur Demokratischen Erinnerung“ ein zweites Gesetz zur Aufarbeitung des Franquismus und der Diktatur beschlossen hat, nachdem im Jahr 2007 das erste “Gesetz zur Historischen Erinnerung“ beschlossen worden war. Jenes erste Gesetz war von allen mit historischer Aufarbeitung beschäftigten Personen und Gruppen als völlig unzureichend begriffen worden, weil es viele Fragen offen ließ und die Regelungen unklar blieben.

Gesetz zur Demokratischen Erinnerung

Das zweite Gesetz geht weiter. Es nimmt zum Beispiel die faschistischen Unrechts-Urteile zurück und verlängert den Zeitraum der “franquistischen Repression“ bis ins Jahr 1983, immerhin acht Jahre nach dem Tod des Massenmörders. Dennoch wird auch die zweite Regelung als mangelhaft bezeichnet. Vor allen Dingen, weil die menschenrechts-widrige Amnestie für alle Verbrechen während Krieg und Diktatur erhalten bleibt: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Das vielleicht größte Manko des Gesetzes besteht darin, dass es im Fall eines durchaus denkbaren Regierungswechsels (Postfranquisten von PP und Neofranquisten von Vox sitzen in den Startlöchern) auf Eis gelegt oder revidiert wird. Das haben sie bereits im Moment der Beschlussfassung lautstark deutlich gemacht. Ähnliches hatte die Rajoy-Regierung bereits mit dem ersten Gesetz vorexerziert: sie ließ es im Raum stehen, stellte aber keinerlei Haushaltsmittel zu seiner Umsetzung zur Verfügung, sodass das Gesetz praktisch unwirksam blieb.

Kontroverse Meinungen

1936naf1Die Verabschiedung des Gesetzes zur Demokratischen Erinnerung hat zu zahlreichen Kommentaren über den Spanienkrieg geführt, der fälschlicherweise nach wie vor als Bürgerkrieg bezeichnet wird. Dabei werden fragwürdige Vergleiche zwischen den Ereignissen in Navarra und denen im übrigen spanischen Staat während der Kriegszeit angestellt. Ziel dieses Artikels ist es, einige Aspekte dieser Argumente zu klären. (1)

ERSTENS. Einige Kommentator*innen sind sich immer noch nicht bewusst, dass es in Navarra keine Kriegsfront gab. Die einzigen, die mordeten und wehrlose Menschen töteten, waren also die Putschisten, das heißt, die Karlisten, Falangisten und ihre Helfer. Dies ist bei allen folgenden Betrachtungen zu berücksichtigen. In Navarra gab es während des gesamten Krieges keine Verbrechen, die von Republikaner*innen begangen wurden.

ZWEITENS. Kein Priester, Mönch, keine Nonne, kein Bischof oder Seminarist wurde in Navarra getötet. Auch wurden während und nach dem Krieg keine Kirchen oder Klöster niedergebrannt. Nicht ein einziges Mal. Andererseits haben die Putschisten baskische Priester ermordet, weshalb einige Bischöfe zwar energisch, aber vergeblich protestierten.

DRITTENS. In Navarra gab es keinerlei republikanische Repression. Daher kann es weder Sammelgräber noch eine Wiederauffindung der in Navarra ermordeten Anhänger der “Glorreichen Nationalbewegung“ geben, denn in Navarra gab es keine Anhänger des Putsches, die von den Republikanern ungestraft auf offenes Feld geschleppt und erschossen wurden.

VIERTENS. Alle Personen aus Navarra, die während des Krieges bei militärischen Auseinandersetzungen starben, wurden außerhalb Navarras an der Front getötet, um mit Waffen und allerlei ideologischem Ballast ausgerüstet einen Staatsstreich zu verteidigen, der sich gegen eine rechtmäßige und legitime Regierung richtete.

FÜNF. In Navarra erließ das Putschregime Verordnungen, Befehle und ständige Rundschreiben, um sicherzustellen, dass die gefallenen Soldaten, die sich der “Glorreichen Nationalen Bewegung“ angeschlossen hatten, in ihre jeweiligen Heimatorte überführt wurden, damit sie das ihnen angemessene Begräbnis als "für Gott und Spanien Gefallene" erhalten konnten. In den Zeitungsarchiven von “Arriba España“, “Diario de Navarra“ und “El Pensamiento Navarro“ wurden diese Überführungen mit den üblichen Bestattungen zu ihren Ehren dokumentiert. In einigen Fällen mit den Fotos der für die “Glorreiche Nationale Bewegung“ gefallenen Requetés oder Falangisten, die von den Angehörigen der als Helden betrachteten Toten an diese Zeitungen geschickt wurden.

SECHS. Die in Navarra ermordeten Republikaner und Nicht-Republikaner wurden stets als "Verschwundene" eingestuft. Ihre Familien wurden auf diese Art gezwungen, einen Großteil der Vorschriften zu befolgen, um sicherzustellen, dass diese “verschwundenen“ Großeltern, Eltern, Kinder und Geschwister auf einer kommunalen Sterbeurkunde erscheinen konnten. Diese erzwungenen Dokumente stellen einen Angriff auf die elementarsten ethischen Grundsätze dar, da die meisten dieser Urkunden voller Lügen sind.

SIEBEN. Es gab nie eine Gleichbehandlung zwischen denen, die ungestraft getötet wurden, und denen, die an der Kriegsfront bei der Verteidigung eines Staatsstreichs starben, was nach den Worten des zynischen Franquisten Ramón Serrano Suñer Teil einer "umgekehrten Justiz" war.

1936naf3ACHT. Die Behauptung, die republikanische Unterdrückung sei derjenigen der Putschisten und derjenigen, die sie am eigenen Leib erfahren mussten, gleichzusetzen, ist nicht nur eine Lüge, sondern vielmehr eine Beleidigung der Wahrheit. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass die in Navarra ausgeübte Gewalt und die im spanischen Staat ausgeübte Gewalt nicht miteinander verglichen werden können. Unabhängig davon, ob sie von Republikanern oder von Putschisten ausgeübt wurde. Wobei nicht vergessen werden darf, dass die Putschisten verbrecherische Schläger waren. Gewaltakte von Republikanern während des Krieges gab es in keiner Stadt der Region Navarra.

NEUN. Es stimmt, dass die in Navarra ermordeten Menschen nicht alle Republikaner oder Linke waren. Tatsächlich wurden viele der Ermordeten weder wegen ihrer Ideologie noch wegen ihrer politischen Zugehörigkeit zu einer linken Organisation oder als Verfechter des republikanischen Verfassungsrahmens getötet. Dies ist ein vielsagendes Indiz dafür, dass ihr Tod noch viel erbärmlicher war, da er aus Rache und aus anderen niederen Motiven wie Raub und Vergewaltigung begangen wurde.

KEINE WAHRHEIT, KEINE GERECHTIGKEIT, KEINE WIEDERGUTMACHUNG

ZEHN. Kein Gesetz in diesem Land hat dazu beigetragen, das zu verbannen, was manche immer noch das "Format der beiden Spanien" nennen. Ein so ranzig-altes Klischee, das aus der Aufklärung stammend die damalige spanische Intelligenz aufgewühlt hat und das absolut keine relevante Aussage hat. Es gibt keinen solchen essentialistischen und identitätsbasierten Unsinn.

ELF. Die Rechten in diesem Land haben bereits erklärt, dass sie, sobald sie an die Macht kommen, als erstes dieses Gesetz (zur Demokratischen Erinnerung) aufheben werden. Eine beunruhigende Aussicht. Offenbar wissen die Rechten nicht, wie man mit Gesetzen regiert, die von einer Mehrheit im Parlament verabschiedet wurden. Brauchen sie einen Staatsstreich und eine diktatorische Regierung? Sie deuten es an. Nicht nur Vox.

ZWÖLF. Die Geschichte dieses Landes hat hinreichend bewiesen, dass es kein Gesetz gab, das die Spanier dazu bringen konnte, Andersdenkende nicht als Feind zu sehen, eine Vorstellung, die nicht auf republikanische Wurzeln zurückgeht, sondern auf die des Nazi-Ideologen Carl Schmitt (2). Dies gilt umso mehr in einer Zeit, in der das Leben des Landes bis zum Rückenmark oder bis zur Wirbelsäule von Gerichten geregelt wird, wie Ortega y Gasset sagen würde (3).

DREIZEHN. Niemand muss sich mit irgendetwas oder irgendjemandem versöhnen, wenn er oder sie das nicht will. Das bedeutet nicht, das universelle und notwendige ethische Diktum abzulehnen, dass wir alle vor dem Gesetz und der Rechtsstaatlichkeit gleich seien. Nichts und niemand, das den Rechtsstaat untergräbt, kann als demokratisch bezeichnet werden. Auch und schon gar nicht der franquistische Staat, der durch einen verfassungsfeindlichen Putsch zustande kam, war einer.

1936naf4VIERZEHN. Es gibt einen einfachen und billigen Weg, sich zu versöhnen, nicht mit anderen, sondern mit sich selbst. Das ist es, was in dieser Geschichte, die aus so vielen verschiedenen Blickwinkeln und mit einem entsprechenden Erzähler geschrieben wurde, in Wirklichkeit fehlt. Um sich mit sich selbst versöhnen zu können, müsste man die Wahrheit der Ereignisse kennen und anerkennen.

Was uns betrifft, so sollten wir in Navarra damit beginnen. Und dann, was auch immer sie vorschlagen, in Ciudad Real oder Malaga oder Ejea de los Caballeros. Wir müssen zunächst herausfinden, wer die geistigen Urheber der Ermordung von Tausenden von Menschen in Navarra waren. Und vor allem diejenigen, die von diesen Verbrechen profitiert haben, die also die wahren Mörder sind.

Vierzig Jahre lang wurden sie für ihre epische Taten gelobt – sie sollen endlich sagen, was an jenen Taten episch war, unbewaffnete Menschen zu ermorden, sie mitten in der Nacht gewaltsam aus dem Bett zu zerren und in den Kopf zu schießen – und in die höchsten Ränge der Provinz-Verwaltung befördert. Nur wenige, vielleicht niemand von denen, die nach dem Krieg an der Spitze des Provinzialrats von Navarra standen, gehörten nicht zu den Kriegsausschüssen der Provinz. Mehr als vierzig Jahre lang wurden diejenigen, die ihre Gewehre abfeuerten, wenn sie in die Dörfer zurückkehrten, von ihren Nachbarn bejubelt und als Helden gefeiert, weil sie "das Unkraut, welches das Dorf vergiftet und zum Feind des Heiligen Herz Jesu wurde, ausgerottet hatten".

FRANQUISTISCHE MASSEN IN NAVARRA BEI DER STAATSANWALTSCHAFT ANGEZEIGT

Und wenn wir schon beim Evangelium sind, das die Karlisten so sehr gelobt haben, sollten wir uns an einen Satz aus dem Johannes-Evangelium erinnern: "Wenn ihr euch an mein Wort haltet, werdet ihr wirklich meine Jünger sein, und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen" (Johannes 8, 31-42).

Was die Wahrheit über die Geschehnisse in Navarra während des Bürgerkriegs angeht, ist es somit vielleicht nicht übertrieben zu behaupten, dass die Täter dieser Ungeheuerlichkeiten nie begriffen haben, was die beiden Worte “Wahrheit“ und “Freiheit“ bedeuten. Diejenigen, die eine absurde Äquidistanz zwischen der Unterdrückung in Navarra und im übrigen Spanien während des Bürgerkriegs verteidigen, kommen der Wahrheit über die Ereignisse nicht auf die Spur. Und weil das so ist, sollten sie ihren Sinn für Freiheit und Versöhnung besser für sich behalten. Weil sie unrichtig sind.

ANMERKUNGEN:

(1) “14 claves de la realidad de Navarra durante la Guerra Civil“ (14 Schlüssel zur Realität Navarras während des Bürgerkriegs), Nuevatribuna.es, 2022-08-09. Der Artikel wurde von folgenden Autor*innen unterschrieben: Víctor Moreno, Laura Pérez, Clemente Bernad, Pablo Ibáñez, José Ramón Urtasun, Jesús Arbizu, Carlos Martínez, Carolina Martínez, Orreaga Oskotz, Txema Aranaz, Basilio Lacort Athenaeum. (LINK)

(2) Carl Schmitt, Wikipedia (LINK)

(3) José Ortega y Gasset, Wikipedia (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Erinnerung (nuevatribuna)

(2) Josefina Lamberto (diarionavarra)

(3) Faschisten (nuevatribuna)

(4) Memoria Park (Sartaguda)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-08-12)

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