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Elf Bände für die Vielfalt

“Euskaltzaindia” ist die offizielle Akademie der baskischen Sprache Euskara, wörtlich “die Hüterin des Baskischen“. Dieses Baskisch bestand lange Zeit aus provinziellen Dialekten, die eine einheitliche Literatur unmöglich machten. Darauf folgte die Geburtsstunde des Batua, des vereinheitlichten Euskara. Nun geht die Geschichte rückwärts. Ohne das Batua in Frage zu stellen, soll der Wortschatz der alten Dialekte erhalten und dokumentiert bleiben. In 36 Jahren Arbeit hat Euskaltzaindia dies geschafft.

Die Akademie der baskischen Sprache “Euskaltzaindia” hat eine Forschungsarbeit von 36 Jahren mit der Herausgabe des 11. Bandes eines “Atlas der linguistischen Vielfalt“ abgeschlossen. In dieser Enzyklopädie wurden viele Begriffe der baskischen Sprache untersucht und Orten, Zonen, Gebieten oder Provinzen zugeordnet. Und die Zahl derer, die diese limitierten Begriffe im Alltag benutzten.

Deutlich mehr als drei Jahrzehnte hat es gedauert, bis die Akademie der baskischen Sprache eine linguistische Ausgrabungsarbeit in allen Teilen der Territorien abschließen konnte, in denen Baskisch gesprochen wurde. Den Schlußpunkt dieser Archäologie der Sprache bildete der elfte Band zu einer Enzyklopädie mit dem Titel “Atlas der linguistischen Vielfalt des Euskara“. Und es ist wirklich ein Atlas geworden. Denn darin sind (unter anderem) die Gegenden verzeichnet, in denen bestimmte Begriffe identisch benutzt wurden. Der offizielle Titel: “Euskararen Herri Hizkeren Atlasa” (EHHA), spanisch: “Atlas de las Variedades Lingüísticas del Euskera”.

Hüterin des Baskischen

Der Name “Euskaltzaindia“ besteht übrigens aus zwei Worten: “euskal“ steht für das Baskische und “zaindu“ ist ein Verb, das “hüten“ bedeutet – Euskaltzaindia ist somit recht vielsagend die “Hüterin der baskischen Sprache“. Gehütet wird in Euskal Herria (dem baskischen Dorf oder Land) jedoch nicht nur die Sprache. “Zain“ oder “zaindu“ erscheint auch in anderen Zusammensetzungen: “Artzain“ (ardi + zain) ist der Hüter der Schafe, “Ertzain“ (erri + zain) ist der Hüter des Volkes, also der Polizist und "Atezain" (ate + zain) ist sowohl der Türsteher als auch der Torwart. Werfen wir zugleich einen Blick auf den Namen der Sprache selbst, die gemeinsame Version nennt sich heute “euskara“, benutzt werden aber auch noch “euskera, eskuara, üskara“.

varia02Lokal unterschiedliche Begriffe

Gesucht wurden lokal verschiedene Begriffe für dieselben Gegenstände, Umstände, Ideen oder Eigenschaften, wie sie über die Jahrhunderte benutzt wurden. Die Darstellung der Ergebnisse dieser Forschungsarbeit ist visuell leicht nachvollziehbar, ein einziger Blick genügt, um sich ein Bild zu machen über die jeweiligen Begriffe. Jedes Wort (oder jedes Konzept) wird auf einer farbigen Landkarte dargestellt, die Farben stehen für eine der sprach-üblichen Varianten.

Auffällig bei den Darstellungen ist allerdings, dass die Landkarten jeweils nur den nördlichen Streifen des Baskenlandes am Atlantik bis nach Miarritze (Biarritz) abbilden, es fehlen der Süden der Provinz Araba und die Ribera-Ebene im Süden Navarras. In der Beschreibung wird darauf nicht Bezug genommen, die Interpreation kann nur sein, dass das Euskara in diesen Gegenden fast ausgestorben war und teilweise noch ist. Was ebenfalls fehlt sind die Gebiete südwestlich Bilbaos, angefangen beim Industriegürtel um Santurtzi, Portugalete, Sestao und Barakaldo. Dort fanden seit den 1830er Jahren mehrere massive Einwanderungswellen aus anderen spansichen Provinzen statt, die das Euskara weitgehend marginalisierten. Erst Anstrengungen nach dem Franquismus haben die baskische Sprache dort einigermaßen wiederbelebt.

Manche Farbflecken sind riesig, was deutlich macht, dass es sich um Benennungen handelt, die innerhalb der gesamten Euskara-Geografie häufig und einheitlich sowie von vielen Menschen benutzt wurden. Die kleinen Farbkleckse stehen für Varianten, die lokal sehr beschränkt bekannt waren und von entsprechend wenigen Personen gesprochen wurden. Als Beispiel die Varianten der Farbe “blau“ – baskisch: “urdin“, spanisch “azul“: "asul, blu, blü, azul“ gehörten dazu, aber auch “ñabar, zerukolore“ (Himmelsfarbe) oder in entlegenen Ecken der Landkarte “ubel“. (1)

Farben Mühlen Maurer

“Blau“ ist nicht irgend ein beliebiges Beispiel, es ist ein Begriff, der eng mit dem Meer, dem Himmel und den Meeresfrüchten in Verbindung steht – also mit der sozialen und wirtschaftlichen Realität. So stellt Band elf auf seinen 232 Landkarten viele Begriffe und Sprachgebräuche dar, die mit der Meeres-Fischerei in Verbindung stehen, mit Schiffen und ihrer Besatzung, zudem mit Küstenhandwerken und Werkzeugen, mit dem Alltagsleben, Gewichten, Maßeinheiten, Münzen und Farben.

varia03Zu finden ist hier zum Beispiel die ”Mühle“, baskisch: “errota“, spanisch: “molino“. Die wenigen marginalen Varianten: “eihera, eiera, iara”. Der “Maurer” (igeltsero, albañil) wurde “ieltsero, albañel, plastur, plastür, kisuskil” genannt, daneben gab es einige weitere Fassungen. Mühlen und Maurer – zwei überaus wichtige Elemente einer altertümlichen Gesellschaft, die jedoch sehr unterschiedlich zum Einsatz kamen. Während “errota“ als rosaroter Fleck auftaucht, der einen langen Schweif zieht vom äußersten baskischen Westen bis weit ins französische Baskenland, erfährt der “igeltsero“ eine weit größere Vielfalt an Benennungen, die sich auf kleinere Zonen beschränkten. Mühlen und Maurer: einfarbiges Konsenswort gegenüber bunten Begriffsvarianten.

Landkarte und Begriffe

Urdin (dt: blau, sp: azul): azul, asul, axul, urdin, urgin, blu, blü, ñabar, zerukolore, ubel. (Sowohhl in der baskischen wie in der spanischen Sprache wird – außer Namen und am Satzanfang – alles klein geschrieben, auch Substantive.) /// Igeltsero (dt: Maurer, sp:albañil): albañel, albañil, i(g)eltsero, i(g)eltzero, plast(r)ari, plastur, plastür, plastier, plast(r)ero, kisuskil, kisuskille, kisuskilli, kisibile, (h)argin. /// Arotz (dt: Zimmermann, sp: carpintero): agotz, aotz, zurgin, zurgiñ, ma(i)astürü, menuzer, benuzer, xarpanter, menüser. /// Errota (dt: Mühle, sp:molino): ei(h)era, eihea, eihela, aihera, ei(h)ara, ihera, i(h)ara, bolu, minoteri.

Erinnerung und Modernität

Wozu dienen diese bunten Landkarten, wozu dieser elfbändige Atlas? Es geht nicht allein um Versionen von Begriffen und die Häufigkeit ihrer Nutzung wo auch immer. Vielmehr geht es auch um ein Spiegelbild von Traditionen, Bräuchen und Lebensformen, die heutzutage eher zum kollektiven Gedächtnis gehören als zum aktuellen Sprachgebrauch der Euskara-Sprecherinnen, den “euskaldunak“.

In den 36 Jahren seit Beginn der Untersuchung hat sich die Gesellschaft stark verändert und mit ihr die Sprache. Vor allem im vergangenen Jahrzehnt, in dem die genannten elf Bände nacheinander herausgegeben wurden. Zu Beginn der Forschungsarbeit hätte niemand ahnen können, dass all die gesammelte und analysierte Information über das Kulturerbe der baskischen Gesellschaft und Geschichte eines Tages auf dem Bildschirm eines elektronischen Gerätes zu sehen sein könnte.

varia04Wirklich königlich?

Tatsächlich sind die elf “Buchschinken“ nicht nur in Papierform und als CD verfügbar, sondern auch auf der Webseite der Akademie mit der hochoffiziellen aber doch etwas fragwürdigen spanischen Bezeichnung: “Real Academia de la Lengua Vasca – Euskaltzaindia“, übersetzt: “Königliche Akademie der baskischen Sprache – Euskaltzaindia“ (2). Fragwürdig deshalb, weil sich das “königlich“ auf die spanische Monarchie bezieht, die sich über die vergangenen Jahrhunderte sorglich bemühte, das Euskara zu marginalisieren, zu verbieten und auszulöschen. Zuletzt in der franquistischen Diktatur, als das Sprechen und Schreiben von Euskara verboten war. Bezeichnenderweise sind die beiden Namen ungleich, im baskischen Titel taucht weder Akademie noch königlich auf.

Andres Urrutia, der aktuelle Präsident von Euskaltzaindia dürfte dies bei der Elfer-Vorstellung durchaus im Hinterkopf gehabt haben. Aber leider werden solche historischen Momente selten für diese Art von Rechenschafts-Berichten genutzt. Seine überlieferten Worte: “Dieses Werk dient dazu, die Erinnerung der Sprache wie einen Schatz aufzubewahren. Es stellt einen Riesenschritt dar im langen und ermüdenden Prozess der Normalisierung.“ Naja, der Hinweis auf die schwieirge Normalisiserung war vielleicht doch ein kleiner Seitenhieb auf diejenigen, die immer wieder neue Stolpersteine auf den Weg des Euskara legen oder Knüppel in die Speichen halten.

Elf oder ganz viele

1984 – dem Jahr des weltbekannten Orwell-Titels – begann jene Arbeit, die auf Fragebögen basierte, mit deren Hilfe die verschiedenen Dimensionen der baskischen Sprache ausfindig gemacht werden sollten: lexikale, phonetische und morphologische Elemente, sowie Aspekte von Syntax. Dafür wurden 4.000 Stunden Audio- und Video-Aufnahmen gemacht, auf 2.400 Bändern. In den 145 untersuchten Orten wurden durchschnittlich 27 Stunden Erzählungen aufgenommen. Insgesamt waren es 2.857 Fragen, 320 Sprach-Zeuginnen kamen zu Wort.

Mit der Vorstellung des elften Bandes wurde im Euskaltzaindia-Sitz in Bilbao zwar der letzte Schritt des Projekts “Euskararen Herri Hizkeren Atlasa – Variedades Lingüísticas del Euskera“ abgeschlossen. Doch sicher waren sich die Verantwortlichen in jenem Moment bewusst, dass elf ebensowenig irgend eine Zahl ist wie blau nicht irgend eine Farbe in der baskischen Gesellschaft darstellt. “Hamaika“ ist das baskische Wort für “elf“ – interessanterweise hat es aber noch eine tiefsinnige Zusatzbedeutung. “Hamaika amets“ kann einerseits “11 Träume“ bedeuten, andererseits aber auch “viele Träume“. Denn im Euskara ist “elf“ eben auch “viel“.

Elf Bände sind also viele Bände. Sie werden nicht nur dazu dienen, die unterschiedlichen Varianten des gesprochenen Euskara zu dokumentieren, sie werden auch als Grundlage für künftige Untersuchungen dienen. Es mag etwas kryptisch erscheinen, was der Direktor des Atlas-Projekts, Adolfo Arejita, in die Runde warf: “Das Wissen über die Vergangenheit des Euskara bietet uns eine stabile Grundlage dafür, dass die Sprache lebendig bleibt und modernisiert wird.“ (1)

varia05Die ersten Zehn

Für die Untersuchung wurden Interviews gemacht in insgesamt 145 Orten, wobei in manchen mehrere Begriffs-Versionen zum Vorschein kamen. Ausnahme waren die oben erwähnten Gegenden in Bizkaia, Araba und Navarra, die bei den Umfragen mangels Euskara-Geschichte ausgespart wurden. Im Jahr 2010 wurden die ersten beiden Atlas-Bände veröffentlicht. Beim ersten ging es um die Tierwelt, von Insekten über Fische bis zu Wildtieren; daneben um Sonne und Himmel, Wetter, Schnee und Kälte. Der zweite Band beschäftigte sich mit den drei Bereichen Zeit, Topografie und Vegetation.

Der dritte Band aus dem Jahr 2011 handelte von Tradition, Lebensformen, von der Erdverbundenheit der Gesellschaft, von Land- und Viehwirtschaft. Der nächste (2012) drehte sich um die Haustiere: Schweine, Vögel, Hunde, Bienen. Band fünf (2013) kümmerte sich um die Herkunft der Namen, der größte Teil davon war den Begriffs-Deklinationen gewidmet. In Band sechs (2015) wurde die Morphologie der Verben nachvollzogen. Im siebten Band von 2016 ging es im ersten Teil um die Bauernhöfe (baserriak) als Grundstruktur der baskischen Gesellschaft, um die Landwirtschaft und die Gegenstände der Haushalte, angefangen bei Küchengeräten; im zweiten Teil waren Grammatik und Syntax an der Reihe.

Im achten Band aus dem Jahr 2017 wurde die ersten 250 Landkarten publiziert und das Lexikon vorgestellt. Themen waren die Arbeit auf dem Bauernhof und die verschiedenen damit in Zusammenhang stehenden Arbeitsprozesse wie Weinherstellung, Brotbacken, Holzwirtschaft oder andere. Band neun im Jahr 2018 ging auf den menschlichen Körper ein, auf Kleidung, Frisuren, Sexualität und Kinder. Der zehnte Band von 2019 brachte erneut 239 Landkarten im Zusammenhang mit Spielen, Sport, Krankheiten, Religion, Glauben, sowie Eheschließung, gesellschaftlichem Leben und dem Tod. Der abschließende Band elf (“viele”) enthält 232 Landkarten und Information über Begrifflichkeiten zu Berufen und Werkzeugen, Schiffe und Seefahrt, Fischfang und –verarbeitung, Gewichte, Maße, Farben und Währung.

varia06Untersuchungs-Beispiele

Um zu zeigen wie stark die Verbreitung mancher Begriffe ist (oder eben nicht) und wie unterschiedlich die Varianten sein können, haben wir willkürlich weitere Beispiele aus der Webseite herausgegriffen. Für Mutter (bsk: ama, sp: madre) sind die Bezeichnungen in allen Regionen gleich, ohne Ausnahme. Für Vater hingegen (bsk: aita im Batua, sp: padre) existieren viele: “aita, atta, aite, aitte, aitta, aitatto, aitxe, atte, eitta, aitxai, aitte“ – ähnlich, aber doch verschieden. Für Zange (bsk: aliketa – sp: alicate) finden wir unzählig viele Varianten: “itsatratzeko tanaza, tenaza, perratenaz, trukes, trükesa, mandatenasa, porriketa, tenesa, aliketa, tenes, iltzetenaz, trükes eli, muxetak, suhats, tanaz, pintzeta“ ... Und was bitte könnte das baskische “erle“ bedeuten? Nein, nicht der Baum, es ist die gewöhnliche Biene, sie heißt in allen 145 befragten Orten gleich. (2)

Die Variationen für Südwind (bsk: hego-haize, sp: viento del sur) sind relativ ähnlich, haize (Wind) und hego (Süden) werden in verschiedensten Schreib-Versionen abgehandelt (egohaize, haizeegoa, hegoa), nur im Westen kommt es zu Abweichungen. Der Ostwind hingegen (bsk: ekialdeko haize, sp: viento del este) ergibt erneut ein buntes Bild verschiedener Begriffe wie “iruzkiaize, sorkaldeko axe, izarraize, hegoxuri, ahüñaize, garaizumaize, naparraxe, aintzinaize, labeda, frantziaize, lesteko aize,haizemehe, idor gallego haize, xuberohaize“ – der häufig wiederkehrende Anteil ist haize (Wind). Regen – (bsk: euria, sp: lluvia) ist von West nach Ost in Zonenstreifen aufgeteilt, bei den meisten kommt “euria“ vor. Dagegen wird Sturm (bsk: ekaitz, sp: temporal) mit vielen Varianten bedacht: “tempesta, erauntsi, elementa, eraso, galerna, dembora txar, demborale, burruskada, euritte, uhar, ao gaitz, auriketa“ u.a. (2)

Ganz spannend wird es bei dem Begriff Ähnlich sein, ähneln (bsk: iruditu, sp: parecer), hier kennt die Vielfalt kaum ein Ende: “iduria, ite, alkarren antza, antzekoa dittuk, elgarren eite, pintetui tao, idurritui tao, paratui tao, paratue da, üdüi dük, aitaen ber potreta dik, nurbaiten egite, egitetik badik, aitaen egite, üdüi tüzü, egitea badierla, antza dauka, antza du, idurie da, antza euki, antz asko dakiyue, üdüri, ite ute, ite baute, alkarren antza, bata besten antzekok, antz aundie due,elgarreite ute, elgarriduriak, baixi ite, atta iduri iduri, plantaku da, bik iguale te, baute elgar, trasie dekosue, tankera dik, ama üdüia, iduriek, elgarrüdüi tien“ ... die Aufzählung geht weiter. Jedenfalls wird die Unterschiedlichkeit und Vielfalt deutlich. Was der Sinn der Übung war.

ANMERKUNGEN:

(1) “Euskaltzaindia culmina tras 36 años el Atlas de Variedades Lingüísticas” (Euskaltzaindia vervollständigt nach 36 Jahren den Atlas der linguistischen Varianten), Elena Sierra, Tageszeitung El Correo, 2020-12-12 (LINK)

(2) Link zum Sprach-Atlas Forschungsarbeit der “Real Academia de la Lengua Vasca – Euskaltzaindia” (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Euskaltzaindia (EHHA)

(2) Euskaltzaindia (EHHA)

(3) Euskaltzaindia (EHHA)

(4) Euskaltzaindia (deia)

(5) Baserri-Bauernhaus (gabiria)

(6) Euskaltzaindia (EHHA)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-12-13)

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