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Soziale Ungleichhheit bekämpfen

Der Mediziner und Epidemiologe Rafael Bengoa hat sich während der Pandemie-Zeit im Baskenland einen Namen gemacht. Er ist einer der wenigen Experten, die sich in der Lage zeigen, einem breiten Publikum auf verständliche Weise einige der komplexen Zusammenhänge hinsichtlich der Ausbreitung des Coronavirus zu vermitteln. In einem kürzliche publizierten Interview wies er darauf hin, dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheit (wie sie im Kapitalismus üblich ist) dem Virus den Boden geebnet hat.

Viren, Epidemien und Pandemien entstehen nicht über Nacht und nicht zufällig. Auch nicht immer in China. Vielmehr sind sie das Ergebnis menschlicher Misswirtschaft, Umweltzerstörung, einer exzessiven Landwirtschaft und der weltweit praktizierten Massentierhaltung. Der Epidemiologe Rafael Bengoa sieht in sozialer Ungleichheit einen wichtigen Faktor für die Verbreitung des Virus. Konsequenterweise müsse das öffentliche Gesundheits-System ausgebaut werden, um künftigen Seuchen und Viren trotzen zu können. Ein Interview.

“Ungleichheiten haben dem Virus den Boden bereitet“

Der 1951 geborene Bengoa hat an der baskischen Universität UPV-EHU Medizin studiert und sich auf den Bereich der öffentlichen Gesundheits-Versorgung spezialisiert. Auf seinem Karriere-Weg konnte er vielfältige und interessante Erfahrungen in Leitungsfunktionen sammeln. Von 2009 bis 2012 zum Beispiel war er Senator fur Gesundheit und Konsum in der baskischen Regierung. Davor war er bis 2006 vierzehn Jahre lang in der Leitung der Welt-Gesundheits-Organisation WHO und arbeitete während der Einführung der US-Gesundheitsreform im Jahr 2016 im Beratungsteam des Präsidenten Obama. Gegenwärtig ist er Co-Direktor des Institute of Health and Strategy, einer internationalen Beratungsfirma, die sich auf Gesundheits-Management spezialisiert hat. (1)

bengo2Frage: Wir befinden uns inmitten einer zweiten Welle der Coronavirus-Pandemie mit beängstigenden Infektionszahlen. Haben wir aus der ersten Welle nichts gelernt?

Rafael Bengoa: Nein, wir haben fast gar nichts gelernt. Wir täten gut daran, aus der zweiten zu lernen, weil wir vor einer Situation stehen, die eine breite Übertragung deutlich macht. Als Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Experten haben wir vor einigen Monaten in der Zeitschrift “The Lancet“ darauf hingewiesen, wie wichtig es wäre, eine Gruppe von Personen zusammenzustellen, die analysiert, was im Rahmen der Pandemie gut und was schlecht gemacht worden ist. Nicht, um Schuldige zu suchen, sondern um diese Erkenntnisse bei der zweiten Welle anwenden zu können. Dafür ist es jetzt zu spät. Mittlerweile bleibt nichts anderes übrig, als aus der zweiten Welle zu lernen, aber bislang ist keinerlei Lern-Mechanismus ins Leben gerufen worden. Wir sind dabei, Feuer zu löschen, ausbrechende Infektionsherde einzudämmen, aber es gibt keinerlei Strategie mit Perspektive.

Welches sind die Lektionen, die wir ignoriert haben?

Die Wichtigste ist die Geschwindigkeit. Wir befanden uns bereits seit zwei Monaten im Epidemie-Alarm, aber der Regelkatalog kam erst später. Dazu kommt unsere Unfähigkeit, mögliche Ansteckungsherde zu isolieren, zu verfolgen und organisiert vorzugehen ... wir müssen die Zeit jetzt nutzen, um eine Infrastruktur aufzubauen, die uns ermöglicht, effektiver zu sein. Und an dritter Stelle müssen wir dafür sorgen, dass die Bevölkerung eindeutige Verhaltensregeln erhält. Die Botschaften müssen von einer politischen Führung ausgehen, die von Verantwortung und Ernsthaftigkeit geprägt ist. Wenn dort nicht konsequent gehandelt wird, kann dies auch nicht von der Bevölkerung verlangt werden.

Was haben wir von dieser zweiten Welle zu erwarten?

In den letzten 250 Jahren haben wir zehn Grippe-Pandemien erlebt und bei allen war die zweite Welle die stärkere. Wir sollten nicht so ungeduldig sein, wir sollten die getroffenen Massnahmen nicht zu schnell aufgeben und nicht so schnell zur Normalität zurückkehren. In dieser zweiten Welle sollten wir Strukturen aufbauen, die die Rückverfolgung der Infektionsherde garantieren und ein weit ausgefeilteres System der Schulung für die Bevölkerung entwickeln. In dieser Hinsicht sollten wir von orientalischen Ländern lernen. China ist in der Lage, vier Millionen Personen zu testen, um eine einzige Ansteckung zurückzuverfolgen. Die Vorgehensweise zur Eindämmung der Zahlen ist dort viel strenger. Im spanischen Staat haben wir beispielsweise die kanarischen Inseln für den Tourismus geöffnet und fordern lediglich einen PCR-Test von ihnen. In Neuseeland hingegen ist die Einreise von Touristen verboten, auch wenn diese ein negatives Testergebnis vorweisen. Dort erholt sich die ökonomische Lage, weil die Regierung sich in erster Linie um die Gesundheit bemüht hat.

bengo3Haben wir den Beifall für die Pflegekräfte zu schnell vergessen?

Die sich rücksichtslos verhalten, denken sicher nicht an die Pflegekräfte. Die hatten keine Möglichkeit, sich vom psychologischen Stress der ersten Welle zu erholen, jetzt erleiden sie bereits die zweite Welle. Was ist, wenn es gar zu einer dritten Welle kommt und wir bis dahin unsere Hausaufgaben immer noch nicht gemacht haben? So viel Widerstandskraft im Pflegebereich können wir gar nicht erwarten. Die zweite Well zu kontrollieren bedeutet auch, uns um die Pflegekräfte zu kümmern.

Die WHO, für die Sie 14 Jahre gearbeitet haben, wurde bei ihrer Reaktion auf die Pandemie der Ineffizienz und Langsamkeit beschuldigt.

Das untersucht die WHO schon selbst. Die Frage muss sein: Was ist passiert? Und nicht: Wer hat die Schuld? Diesen Monat findet die globale Hauptversammlung statt, ich nehme an, es wird zu heißen Debatten kommen.Um die US-Amerikaner (ohne Trump) wieder in die WHO zu bekommen, sind Entscheidungen auf höchster Ebene notwendig. Europa und die USA werden Rücktritte fordern, wichtig ist allerdings, welchen Typ von internationaler Organisation wir haben wollen.

In den vergangenen Monaten wurde die Gesundheit über die Wirtschaft gestellt? Wird dies weiterhin eine Priorität sein in den Haushalten, wenn das alles vorbei ist?

Im spanischen Staat gibt es bereits mehr als 1 Million Ansteckungen, die Zahl der Toten beläuft sich auf 40.000 oder 50.000. Weltweit ist mehr als 1 Million Menschen gestorben. Wenn uns das nicht zu einem Paradigmen-Wechsel treibt, dann leiden wir unter einer verzerrten Wahrnehmung der Normalität. Unsere Haushalte müssen sich in erster Linie an einer veränderten Gesundheits-Politik ausrichten. Da helfen keine kleinen Verbesserungen. In der Vergangenheit waren wir nicht in der Lage, mit vernünftigen Strategien die Situation unserer Kranken, Alten und abhängigen Personen anzugehen. Die Probleme in allen drei Bereichen sind hausgemacht, in diesen Bereichen hat der Virus größere Chancen. Ein Teil dieser dauerhaften Probleme und der fehlenden Pflege haben mit gesellschaftlichen Ungleichheiten in unserem Land zu tun.Deshalb reicht es nicht aus, wenn über die Haushalte mehr Geld in das Gesundheitswesen und in die Erziehung fließt. Die soziale Ungleichheit muss bekämpft werden, denn hier entstand das perfekte Unwetter für den Virus.

bengo4Wie wird das künftige Gesundheits-System aussehen?

Gute Medizin muss mit einer besseren Behandlung der chronischen Fälle kombiniert werden. Dann sind wir für jeden Virus gewappnet. Die Zahl der Viren, die aus der Tierwelt auf die Menschen übersprang, liegt bei 12 Fällen in der letzten 30 Jahren. Warum sollte das nicht so weitergehen? Masern und Eboli sind sehr ansteckend, bei Eboli liegt die Todesrate bei 50%. So etwas Ähnliches wird sich in der Zukunft wiederholen. Wir müssen lernen und die Ungleichheiten, das System und die chronischen Fälle angehen. Wenn unser System nicht gut funktioniert, kann uns das nächste Virus viel Schaden zufügen. Die jetzige Pandemie ist sozusagen eine Generalprobe.

Wissen wir, wann die nächste Pandemie kommt?

Nein. Deshalb müssen wir uns ab sofort vorbereiten, um gegenüber ansteckenderen und tödlicheren Ansteckungen bestehen zu können. Nur dann sind wir wirklich vorbereitet. Selbst wenn die nächste Epidemie erst in drei oder in zehn Jahren kommt, müssen wir jetzt mit der Vorbereitung beginnnen und ein wirksames Schutznetz aufbauen. Wir dürfen nicht vergessen, dass das Coronavirus mehr als 2 Millionen Menschenleben fordern wird, die meisten davon aus den Unterschichten. Wenn wir diese Erfahrung als Generalprobe begreifen, können wir daraus lernen für das, was kommt.

Werden wir lernen mit dem Virus zu leben?

Es besteht die Tendenz, dass uns das Virus erhalten bleibt. Fast alle Viren – der SARS-1 etwas weniger – überleben regional begrenzt, das heißt, es sind keine Epidemien mehr. Aber sie existieren weiter in der Bevölkerung, ohne die riesigen Zahlen an Ansteckungen und Toten vom Anfang zu verursachen. Deshalb lassen wir unsere Kinder ja auch weiterhin gegen Polio und Masern impfen, gegen Krankheiten, die ebenfalls sehr aggressiv waren. Doch heute sind sie unter Kontrolle. In einigen Jahren haben wir bessere Medikamente, bessere Impfstoffe und Diagnosen, um den Kampf aufzunehmen. Dasselbe gilt für das Coronavirus. Wir müssen uns daran gewöhnen.

bengo5Suggestive Frage

In einer der Interviewfragen steckte die Behauptung, dass während der Pandemie-Zeit die “Gesundheit über der Ökonomie“ stand. Der Interviewte ging über diese Feststellung hinweg, um zu seinen Thesen und Forderungen zu gelangen. Dennoch ist die Behauptung falsch, sie entspricht vielmehr der redaktionellen Linie des bürgerlich-rechten Blattes. Tausende von Pflegekräften und Mediziner*innen haben sich seit April bitter beschwert, dass ihnen die Arbeit zusätzlich erschwert wurde durch fehlendes Material, mangelhafte Ausrüstung und nicht vorhandene Schulung. Dafür gingen sie mehrfach in den Streik.

Die erste Maßnahme, den Lockdown zu lockern (noch bevor das erste Kind wieder draußen spielen durfte) war die Wiederöffnung der Industrie. Unter verheerenden Hygiene- und Gesundheits-Verhältnissen, wie Arbeiter*innen und Gewerkschaften berichteten und beklagten. Viele Arme wurden nicht versorgt, der informelle Wirtschaftbereich (Schattenwirtschaft) erlitt Einbußen und Verluste wie nie zuvor, ohne in irgendeiner Weise entschädigt zu werden. Vor diesem Hintergrund von einer Präferenz der Gesundheit über die Wirtschaft zu sprechen grenzt an Sarkasmus.

In einem späteren Interview sprach sich Bengoa für einen neuen konsequenten Lockdown zu Hause aus. Dieser Lockdown könne etwas weniger streng gestaltet sein als der erste vom April, mit dieser Maßnahme könnten jedoch 400 Menschenleben pro Tag vor dem Corona-Tod gerettet werden. Ausdrücklich zog er diese Option einem dauerhaften “leben mit dem Covid“ vor. Als Beweis für seine These nannte er das Beispiel von Ländern wie Südkorea, Australien oder Neuseeland, die mit der strengen Anwendung dieser Lockdown-Maßnahme schneller zu einer neuen Phase der wirtschaftlichen Erholung übergehen konnten. Dass in Wuhan und generell in China das Leben wieder in alten Bahnen laufen soll, wird in den hiesigen Medien nur marginal kommentiert.

Video

Rafael Bengoa ist weder Sozialist noch Anti-Kapitalist. Vielmehr ist er ein konsequenter Mediziner, der die vernichtenden Folgen von Privatisierung (auf allen Ebenen, besonders bei der Gesundheit) und Sozialkürzungen erkannt hat und offen von Ungleichheiten spricht. Einer, der aus dieser Analyse konsequente Schlüsse zieht und Forderungen stellt. Nicht im Sinne einer grundsätzlichen gesellschaftlichen Veränderung, vielmehr in Richtung eines Kapitalismus mit freundlichem Gesicht und offener Hand. Ein Teil des Interviews mit Rafael Bengoa ist auf dem TV-Kanal der publizierenden Tageszeitung zu sehen, unter dem folgenden Link.

ANMERKUNGEN:

(1) Artikel ”Las desigualdades han creado la tormenta perfecta para el virus“ (Ungleichheiten haben dem Virus den Boden geebnet), Interview Marta Madruga mit Rafael Bengoa in der Tageszeitung El Correo, 2020-11-07

ABBILDUNGEN:

(1) Rafael Bengoa (elcorreo)

(2) Covid (diariodecadiz)

(3) Pflege-Proteste (diariovasco)

(4) Massentierhaltung (wdr)

(5) Virus-Mutation (theconversation)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-11-16)

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