novaltia1Der längste Ausstand Europas

Seit nun fast drei Jahren befindet sich die baskische Novaltia-Belegschaft im Ausstand. Sie hofft weiter, den bisher längsten Streik Europas erfolgreich zu beenden. Auf dem Transparent steht "Novaltia ist ein Ausbeuter, die Apotheken spielen mit". Gegen Wind und Wetter und illegale Machenschaften der Betriebsleitung. Der Streik wird auf der Straße ausgetragen, aber auch vor Gerichten. Ralf Streck bilanziert für das Magazin Telepolis diesen und andere Streiks im Baskenland. Ein Betriebsrat erklärt.

Wie ein Alptraum aus Tausendundeiner Nacht: am 17. April waren es 1001 Tage und Nächte, an denen sich die Beschäftigten des Apotheken-Zulieferers Novaltia im Streik befanden, um das Zwei-Klassen-System in der Bezahlung abzuschaffen.

Im Baskenland sind lange Streiks wahrlich keine Seltenheit. Einst bestreikten die Beschäftigten der deutschen Firma Pferd-Rüggeberg erfolgreich 745 Tage die Filiale in Gasteiz (spanisch: Vitoria) gegen die Entlassungen von schwangeren Frauen. Der Streik gegen die Novaltia-Filiale in Bilbao, einen der führenden spanischen Arzneimittel-Händler, sprengt nun auch diesen Rahmen bei weitem. Seit 1001 Tagen befinden sich drei Viertel der Beschäftigten, vor allem in der Produktion und im Lager, im Streik. (1)

Fast täglich protestieren sie vor dem Firmensitz oder den etwa 200 Apotheken in der baskischen Provinz Bizkaia, die von Novaltia beliefert werden. Dazu werden aktuell illegal Streikbrecher und weitere Tricks eingesetzt, wie das Betriebsratsmitglied Ibai Carranza im Telepolis-Interview ausgeführt hatte. Auf die Frage, wie es Novaltia durchhalte, dass fast die Hälfte der Beschäftigten und die große Mehrzahl in der Produktion streikt, sagte er “Vor allem darüber, dass sie das Streikrecht halblegal oder illegal aushebelt. Aus der Verwaltung und der Chefetage springen Leute in der Produktion ein. Massiv werden Überstunden gemacht. Zum Teil wird von sechs Uhr morgens bis 23 Uhr gearbeitet, auch am Wochenende. Auch Zeitarbeitsfirmen werden bemüht. Das war das Einzige, was die Arbeitsinspektion bestraft hat, aber auch erst acht Monate später, als die Arbeit gemacht war. Zudem wurden Teile der Arbeit auch noch auf andere Standorte verlagert“. (2)

Im Hintergrund steht auch heute noch der Kampf der Beschäftigten für einen würdigen Tarifvertrag. "Wir haben eine Entscheidung getroffen: Wir wollten der prekären Beschäftigung ein Ende setzen", erklärt die Streikführerin Helka Fernández. Bevor Vascofar von Aragofar übernommen und zu Novaltia wurde, verfügten die Beschäftigten über einen eigenen akzeptablen Tarifvertrag. "Mit der Finanzkrise und einem schlechten Management begannen die Probleme ab 2010", so der Betriebsrat Carranza. Er sitzt für die größte Gewerkschaft (ELA) im Baskenland in dem Gremium. Ohne die ELA-Streikkasse, über die spanische Gewerkschaften nicht verfügen, wäre ein solcher Ausstand unmöglich. Da in der Finanzkrise ständig das Damoklesschwert einer Schließung über der Firma hing, hatte die Belegschaft einst Lohneinschnitten von bis zu 30 Prozent zugestimmt. (1)

novaltia2"Weniger Lohn für die gleiche Arbeit"

Dass damit eine Art "Zweiklassen-System" eingeführt worden war, wollten die Beschäftigten ab 2018 nicht mehr hinnehmen. "Neue Beschäftigte erhalten seither viel weniger Lohn für die gleiche Arbeit." In den Tarifverhandlungen sollte deshalb die "doppelte Lohnskala" gekippt werden. Statt wenigstens einen Kompromiss zu suchen, drehte Novaltia aber die Schrauben an und statt sich an den Haustarifvertrag zu halten, wendete man plötzlich einseitig einen noch schlechteren spanischen Tarifvertrag an. Das war seit einer Arbeitsmarkt-Reform der konservativen Volkspartei (PP) möglich. Damit eskalierte Novaltia den Konflikt "und brachte das Fass zum Überlaufen".

Ein Einlenken sieht Carranza weiterhin nicht. Inzwischen spricht die Betriebsleitung offen von Entlassungen und Auslagerung eines Teils der Arbeit nach Aragon, erklärt er gegenüber Telepolis. Aus Aragon hatte Aragofar ins Baskenland expandiert. Einfach sei ein so ein langer Streik nicht, erklärt der Betriebsrat: "Er hinterlässt Spuren."

Und ohne die starke solidarische Unterstützung wäre der Streik über 1001 Tage und Nächte auch nicht zu leisten gewesen, weshalb sich die Streikenden ausdrücklich für die Solidarität bedanken. Die Streikfront stehe weiter fest zusammen und es stünden noch Urteile vor Gerichten aus, welche die Lage schnell, wie in anderen Streiks, beeinflussen könnten. Um einen solch langen Streik zu führen, sei aber nicht allein eine Streikkasse und das Wissen wichtig, mit ELA und der kleineren LAB kämpferische gewerkschaftliche Unterstützung zu erhalten. Bedeutsam sei auch, auf erfolgreiche Kämpfe blicken zu können, von denen man zusätzlich Unterstützung erhält. (1)

Mutmacher

Etliche Beispiele im Baskenland machen den Novaltia-Streikenden weiter Mut. Da war der lange Streik beim Rohrhersteller Tubacex. Fast acht Monate haben die Beschäftigten im vergangenen Jahr gegen die Entlassung von 129 Kolleg*innen gekämpft und gewonnen. 23 Millionen Euro hat der Streik die Firma gekostet, die lange nicht einlenken wollte. Allerding wies der Tubacex-Betriebsrat gerade darauf hin, dass etliche Beschäftigte für die Teilnahme an Protesten über das "Maulkorb-Gesetz" Geldstrafen bezahlen sollen, die sich auf 15.000 Euro summieren.

Drohung von Haftstrafen

Einige Beschäftigte werden sogar von Haftstrafen bedroht. Dieses Gesetz, so hatte die spanische "Linksregierung" versprochen, "sollte längst im Parlament gestrichen werden", erklärt der Tubacex-Betriebsrat. Das ist, wie im Fall der Arbeitsmarktreform nicht geschehen. Während die Reform derweil ein klein wenig reformiert wurde, ist das repressive Maulkorb-Gesetz weiterhin unangetastet in Kraft und wurde in der Covid-Pandemie in fast zwei Millionen Fällen eingesetzt.

Erfolgreich konnte auch der Streik bei ITP Aero in Bilbao beendet und die Entlassung von 83 Beschäftigten abgewendet werden. Über mehr als ein Jahr zog sich der Arbeitskampf hin, bis ein Gericht die Kündigungen im Februar für nichtig erklärte.

Würde

Zuletzt hatten die Beschäftigten 70 Tage unbefristet gestreikt. Sogar 285 Tage mussten 13 Frauen das bekannte Guggenheim-Museum in Bilbao unbefristet bestreiken. Erst Ende März lenkte die spanische "Ferrovial Servicios" ein, an die das Museum die Reinigung ausgelagert hat. In neun Monaten erstreikten die Frauen mit ELA-Unterstützung eine Lohnerhöhung um 20 Prozent und müssen nicht weiter für wenige Stunden antanzen, um das Museum zu reinigen. "Jetzt wird das Guggenheim noch sauberer", erklärte Carmen Casas bei der Rückkehr an ihren Arbeitsplatz. Für die ELA-Sprecherin Maite Leizegi ist das ein unglaublicher Erfolg im Kampf gegen prekäre Arbeitsbedingungen. "Die neun Monate waren hart, aber sie waren es wert", meint Casas und Leizegi fügt an: "Vor allem dienten sie dafür, mit Würde zu siegen." (1)

IM KAMPF FÜR EINEN WÜRDIGEN TARIFVERTRAG

novaltia3Im August 2021 führte der im Baskenland lebende deutsche Journalist Ralf Streck ein Interview mit dem Novaltia-Betriebsrat Ibai Carranza Francisco. In einem exemplarischen Arbeitskampf bestreiken Beschäftigte die Novaltia-Filiale im baskischen Bilbao gegen eine Unternehmerschaft, die glaubt, fast alles machen zu können.

Im Baskenland sind lange Streiks keine Seltenheit, so bestreikten einst auch die Beschäftigten der deutschen Firma Pferd-Rüggeberg erfolgreich 745 Tage weitgehend erfolgreich gegen die Entlassung von Kollegen und Kolleginnen. Doch der Streik gegen die Novaltia-Filiale in Bilbao, einen der führenden Arzneimittelhändler in Spanien, sprengt nun auch diesen Rahmen noch. Ein Teil der Belegschaft befindet sich (im August 2021 seit 754 Tagen) im Ausstand. Telepolis sprach mit dem mit Ibai Carranza Francisco über den Streik, der für die kämpferische baskische Gewerkschaft ELA im Betriebsrat sitzt. (2)

Warum traten Sie in der Novaltia-Filiale in Bilbao vor über 750 Tagen in den Streik?

Ibai Carranza Francisco: Früher waren wir hier bei Vascofar beschäftigt und verfügten über einen eigenen Tarifvertrag. Klar, es gibt immer etwas zu verbessern, aber er war akzeptabel. Mit der Finanzkrise und einem schlechten Management begannen die Probleme ab 2010. Ständig wurde uns erklärt, die Löhne müssten sinken, sonst müsse dichtgemacht werden. Schließlich akzeptierte eine Belegschaft, bei der ein guter Teil vor der Pensionierung stand, harte Einschnitte, wie Lohneinbußen um 25 bis 30 Prozent. Zahlungen an die Sozialversicherung blieben für die aber gleich, die bald in Rente gehen würden, damit sie keine Renteneinbußen hinnehmen mussten.

Eingeführt wurde damit ein Zweiklassensystem hier in Bilbao. Neue Beschäftigte erhalten seither viel weniger Lohn für die gleiche Arbeit. Danach wurden wir von Aragofar aus Aragon übernommen und Novaltia wurde gegründet. Als 2018 Tarifverhandlungen anstanden und wir die eingeführte doppelte Lohnskala wieder rückgängig machen wollten, wendete die Firma einseitig plötzlich den noch schlechteren spanischen Tarifvertrag an. Das brachte dann das Fass zum Überlaufen.

Spielte die harte Arbeitsmarktreform der konservativen Volkspartei (PP) dabei eine Rolle?

Ibai Carranza Francisco: In unserem Fall ist das wegen der Übernahme und der Gründung von Novaltia etwas komplizierter. Aber die Reform, mit der Rechte der Beschäftigten weiter beschnitten wurden, hat dabei geholfen, dass wir zunächst den Prozess zur Tarifvertrags-Frage gewannen, sich die Firma aber in der zweiten Instanz durchgesetzt hat. Das ist sehr ungewöhnlich.

Was sind die zentralen Streik-Forderungen?

Ibai Carranza Francisco: Wir wollen wieder einen würdigen Tarifvertrag und die doppelte Lohnskala abschaffen, dazu wollen wir Lohnsteigerungen erreichen, um den Kaufkraftverlust auszugleichen. Normal ist, dass man mit hohen Forderungen in Verhandlungen geht, die Firma niedrige Angebote macht und man sich dann annähert. Doch Novaltia hat sich in zwei Jahren nicht bewegt. Es wurde mit Kündigungen gedroht und zudem gefordert, unsere Versammlungen vor dem Werk müssten aufhören. Als das nicht geschah, wurden Zugeständnisse wieder zurückgezogen.

novaltia4Wie hält man einen so langen Kampf durch?

Ibai Carranza Francisco: Bedeutsam ist die Streikkasse von ELA, wo die Mehrzahl der Streikenden organisiert ist. Die hat aber auch LAB, die ihre streikenden Mitglieder ebenfalls trägt. Ohne ökonomische Grundlage steht man das nicht durch. Wichtig ist auch die solidarische Hilfe untereinander, durch unsere Familien und aus der Gesellschaft. Negativ ist das Verhalten der Arbeitsinspektion der baskischen Regierung. Die schaut zu, wie das Streikrecht umgangen wird. Das stützt die Firma in ihrer harten Haltung.

Ist Ihr Kampf auch exemplarisch gegen Unternehmer, die derzeit zu glauben scheinen, alles machen zu können? Da ist zum Beispiel der Fall Tubacex ganz in der Nähe von Bilbao, wo die Belegschaft seit über einem halben Jahr streikt. Sie müssen nun sogar weiterstreiken, obwohl sie vor Gericht erstritten haben, dass die Kündigungen zurückgenommen werden, aber weiter nicht auf ihre Arbeitsplätze gelassen werden.

Ibai Carranza Francisco: Klar. Wir haben uns kürzlich mit verschiedenen Betriebsräten zusammengesetzt. Überall laufen die gleichen Geschichten ab. Die Bedingungen werden verschlechtert, Leute entlassen, obwohl die Betriebe Umsatz und Gewinn machen. Teure ältere Beschäftigte sollen durch billigere jüngere oder durch Auslagerung ersetzt werden. All das hat die Arbeitsmarktreform ermöglicht.

Wie bewertet Sie es, dass die sozialdemokratische spanische Regierung die Streichung der Reform versprochen hat, aber bisher nichts geschieht?

Ibai Carranza Francisco: Die Abschaffung der Reform wäre wichtig, denn sie hat die Basis geschaffen, das man vor Gericht kaum noch Möglichkeiten hat. Unternehmen wurden viele Werkzeuge zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und Kündigungen an die Hand gegeben. Da wird mit Zahlen herumgespielt, um Kündigungen zu rechtfertigen, da angeblich keine Aufträge vorliegen. Danach gibt es wie durch ein Wunder wieder Aufträge und es werden neue Leute unter schlechteren Bedingungen eingestellt. Die Regierung hätte da längst wie versprochen eingreifen müssen. (2)

ANMERKUNGEN:

(1) “1001 Tage und Nächte: Der längste Streik Europas“, Telepolis, 2022-04-17, Ralf Streck (LINK)
https://www.heise.de/tp/features/1001-Tage-und-Naechte-Der-laengste-Streik-Europas-6707699.html

(2) “Seit zwei Jahren im Kampf für einen würdigen Tarifvertrag“, Telepolis, Ralf Streck, 2021-08-14 (LINK)
https://www.heise.de/tp/features/Seit-zwei-Jahren-im-Kampf-fuer-einen-wuerdigen-Tarifvertrag-6165396.html

ABBILDUNGEN:

(1) Novaltia-Streik (Betriebsrat)

(2) Novaltia (twitter)

(3) Novaltia (lucha de clases)

(4) Betriebsrat Ibai (Ralf Streck)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-04-20)

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