Erinnerung an die Kämpfer*innen
Die letzten fünf Hinrichtungen des Franquismus liegen 47 Jahre zurück. September 1975: Innerhalb weniger Stunden werden die ETA-Aktivisten Ángel Otaegi und Jon Paredes "Txiki", sowie die FRAP-Mitglieder José Humberto Baena, Ramón García Sanz und José Luis Sánchez Bravo in Barcelona von Erschießungs-Kommandos getötet. September 2022: “Txikis“ Bruder Diego Paredes beklagt die fehlende Bereitschaft, die damals für solcherart Menschenrechts-Verletzungen verantwortlichen Franquisten zu verfolgen. Bis heute.
Am 27. September 1975 fanden die letzten Exekutionen des Franquismus statt. Nur zwei Monate vor Francos Tod wollte das Regime noch einmal Härte demonstrieren. Das Datum ist zum “Gudari Eguna“ geworden, zum Tag der Erinnerung an die im Kampf für das Baskenland gefallenen baskischen Aktivistinnen und Aktivisten.
"Straflosigkeit ist nach wie vor Bestandteil der staatlichen Politik". Der das feststellt ist Diego Paredes, Bruder von Jon Paredes "Txiki“, der zu den letzten Opfern franquistischer Todesurteile gehört. Betroffen waren an jenem Septembertag 1975 drei Mitglieder der bewaffnet operierenden Gruppe FRAP (1) und zwei Aktivisten der baskischen Untergrund-Organisation ETA. Jon (Juan) Paredes Manot, besser bekannt als “Txiki“ (1954-1975), war während der Franco-Diktatur ein ETA-Aktivist.
Wer war Juan Paredes?
Juan (Jon) Paredes wurde am 20. Februar 1954 in der spanischen Region Extremadura geboren, als zweiter von vier Brüdern. Die Familie wanderte 1964 nach Zarautz in Gipuzkoa aus, zuvor hatten dies bereits seine Großeltern getan. Juan war zehn Jahre alt, als er mit seinen Eltern nach Euskadi kam. Nach der Schulzeit arbeitete er in einer Kunststoff-Fabrik, trat 1972 der Jugendorganisation EGI bei und schloss sich später ETA an. Mit dem Zusammenschluss von EGI-Batasuna und ETA wurde er Mitglied der ETA-Arbeiterfront. Im Januar 1974 floh er aus Zarautz und ging in den Untergrund. Im August ging er ins französische Baskenland und kehrte über Navarra in den Süden zurück. Im April 1975 wurde er mit dem tödlichen Attentat auf einen Polizeiinspektor in San Sebastian in Verbindung gebracht. Im Mai ging er nach Katalonien, wo er am 30. Juli in Barcelona festgenommen wurde. Juan Paredes verbrachte fünf Tage im zentralen Polizeirevier von Barcelona, wo er während der Verhöre gefoltert wurde. Am fünften Tag wurde er in das Modelo-Gefängnis von Barcelona gebracht, am 21. August erhielt er Besuch von seinen Anwälten. Im Gefängnis trat Txiki in einen Hungerstreik, um gegen die Verurteilung der ETA-Mitglieder Garmendia und Otaegi zu protestieren.
Am 22. August wurde Txiki über die Anklageschrift informiert, das Verfahren wurde am 15. September eingestellt. In einem neuen Verfahren sollte er jedoch in einem Schnellverfahren zur Todesstrafe verurteilt werden. Die Anwälte hatten nur vier Stunden Zeit, die Anklage zu prüfen und ihre Argumente zu formulieren. Am 19. September fand das Kriegsgericht statt, in dem Txiki des Polizistenmordes für schuldig befunden wurde. Er bestritt, an dem Überfall in Barcelona beteiligt gewesen zu sein, da er sich zu diesem Zeitpunkt in Perpignan aufhielt. Er wurde zum Tode verurteilt und am 27. September 1975 um 8.30 Uhr neben dem Friedhof von Sardañola del Vallés in Barcelona hingerichtet. (2)
Obwohl dieser Prozess und das folgende drakonische Urteil internationale Beachtung fanden, war das Regime – im Gegensatz zum Ausgang des Burgos-Prozesses fünf Jahre zuvor – zu keinen Konzessionen bereit. Mit dem Amnestie-Gesetz von 1977 wurde verhindert, dass Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit juristisch aufgearbeitet werden. Die gesamte franquistische Terrorherrschaft mit Folter, politischer Säuberung, Massenmorden und Willkür-Justiz wurde bis heute nie vor Gericht verhandelt. Obwohl dies von internationalen Menschenrechts-Organisationen gefordert wurde und wird. Im Folgenden ein Interview mit Diego Paredes, Bruder von Jon “Txiki“ Paredes. (3)
* Interview *
Fast ein halbes Jahrhundert nach der Hinrichtung Ihres Bruders sind einige der Meinung, dass dieses Todesurteil ein Racheakt der Diktatur war, Franco lag damals im Sterben. Was sehen Sie das?
Es war keineswegs ein franquistischer Wutanfall. Das Regime wollte zwar Blut sehen, aber man wollte auch die Generation einschüchtern, die damals für einen definitiven Bruch mit dem Regime kämpfte. Dahinter steckte die franquistische Führung, aber auch Minister und hohe Polizeibeamte.
Die Hinrichtungen widerlegen die offizielle Version, dass der Übergang (von der Diktatur zur Demokratie) friedlich und beispielhaft war?
Wir hatten ja bereits die Hinrichtung von Salvador Puig Antich im Jahr 1974 erlebt (4), dann die Polizeimorde an den fünf Arbeitern in Vitoria-Gasteiz 1976 (5), an Germán Rodríguez bei den San-Fermin-Fiestas 1978 (6). Und ein Jahr davor (am 24. Januar 1977) das tödliche Attentat gegen linke Anwälte in Madrid-Atocha (7). Alles wurde so geplant, dass der franquistische Staatsapparat unangetastet weitermachen konnte, einige Falangisten schlossen sich direkt der sozialistischen Partei PSOE an. Doch zuvor gingen sie gegen die radikalsten Sektoren vor und zogen einen blutigen Alarmzustand auf. Möglichst viele Menschen sollten am Ende mit dem zufrieden sein, was sie von den Postfranquisten bekamen. Denn das Amnestie-Gesetz von 1977 diente dazu, die Verbrechen Francos ungestraft zu lassen. (8)
Es wurde also zu repressivem Säbelrasseln gegriffen, um grundsätzliche Veränderungen zu verhindern?
Kein Zweifel, sie wussten, was sie taten. Und die neu zugelassenen Parteien haben es ihnen verziehen. Von der PCE bis zur PSOE hatte niemand die Absicht, das Gesetz zu revidieren, geschweige denn, es aufzuheben. Es war eine Form der Kapitulation, die dazu geführt hat, dass die Straffreiheit der Franquisten weiter besteht. Heute vielleicht auf subtilere Weise, aber genauso effektiv. Es werden nicht mehr die Panzer herausgeholt. Den Schutz der bestehenden Verhältnisse übernehmen heute das Gesetz der Amtsgeheimnisse oder das National-Gericht, als direktes Erbe des franquistischen Sondergerichts (9). Mit diesen Strukturen und in Zusammenarbeit mit den Medien haben sie ausreichend Macht, um uns zu manipulieren und zu verhindern, dass wir uns erinnern. Die linken Parteien, die sich daran beteiligen, sind zu indirekten Kollaborateuren geworden.
Fermin Muguruza hat einmal gesagt, Ihr Bruder sei "der Che Guevara des Baskenlandes". Identifizieren Sie sich mit dieser Idealisierung, die mit "Txiki" praktiziert wird?
Jeder Kampf braucht Referenzen. Und mein Bruder hatte alle Voraussetzungen, um idealisiert zu werden. Zum einen wegen seiner Jugend, weil er der Sohn von Migranten war und sich für die Rechte der Arbeiterklasse einsetzte. Zum anderen aber auch, weil er im letzten Moment seines Lebens die baskische Hymne "Eusko Gudariak" (10) sang, als sie schon die Gewehre auf ihn anlegten. Er verkörpert all jene, die im Kampf für die Freiheit gestorben sind. Die Zuneigung vieler Menschen zu erleben, hat mir sehr geholfen, für die Familie war das ein Grund, stolz zu sein. So gesehen finde ich es normal, dass er immer noch als Symbol angesehen wird.
Das Parlament von Gasteiz erklärte Ihren Bruder und Angel Otaegi zu "Opfern von Menschenrechts-Verletzungen". Ist dies ein Schritt in Richtung Gerechtigkeit?
Wahre Gerechtigkeit würde bedeuten, dass die Täter strafrechtlich verfolgt und verurteilt werden, aber niemand hat je dafür bezahlt. Abgesehen von diesen Gesten herrscht bei den Mehrheitsparteien ein offensichtliches Schweigen, während die Folter nicht verschwunden ist und Leute wie Richter Baltasar Garzón, der für die politische Verfolgung und Misshandlung Hunderter baskischer und katalanischer Aktivisten verantwortlich ist, nun als Verfechter der Demokratie und Verteidiger der Menschenrechte herumläuft. Schließlich achten die Parteien mehr auf ihre eigenen Interessen als auf die Gewährleistung von Wahrheit, Gerechtigkeit und einen echten Prozess der Wiedergutmachung.
Der Fall "Txiki" ist Teil eines umfassenden Verfahrens gegen die Verbrechen des Franco-Regimes, das von der argentinischen Richterin María Servini betrieben wird. Haben Sie Hoffnung, dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden können?
Die Sache ist kompliziert, es macht den Eindruck, dass der ehemalige Minister Rodolfo Martín Villa nicht strafrechtlich verfolgt werden kann. Außerdem ist der spanische Staat nicht gewillt, irgendetwas aufzuklären, auch nicht in Bezug auf die GAL-Zeit. Und das Gesetz des demokratischen Gedächtnisses (11) stellt keinen bedeutenden Fortschritt in Richtung dieses Ziels dar. Am Ende heißt es darin, dass der Franquismus seine eigenen Gesetze hatte, als wäre das eine historische Phase der Willkür und nichts weiter. Die Straflosigkeit ist nach wie vor in der staatlichen Politik verankert, künftige Generationen werden erneut wieder das Wort ergreifen müssen. Entweder wir gehen wieder auf die Straße oder wir werden alles verlieren.
Weitere Information:
Am 27. September 2020 wurde auf dieser Webseite ein Artikel mit dem Titel “Txiki, Otaegi, 45 Jahre – Francos letzte Hinrichtungen 1975“ publiziert. (LINK)
ANMERKUNGEN:
(1) FRAP, Frente Revolucionario Antifascista y Patriota (Revolutionäre Antifaschistische Patriotische Front): bewaffnete Organisation mit kommunistischem, antifranquistischem und republikanischem Charakter. Sie wurde von einer mehrheitlich maoistischen und leninistischen Ideologie getragen und entstand in den 1970er Jahren, am Ende der Franco-Diktatur von Francisco. Hauptziele waren: Sturz der Diktatur, Vertreibung des US-Imperialismus aus Spanien und Errichtung einer marxistisch-sozialistischen und konföderalen Volksrepublik durch eine Aufstandsbewegung.
(2) Juan Paredes Manot “Txiki“ (der Kleine), auch: Jon Paredes (1954-1975), exekutiert zwei Monate vor Francos Tod.
(3) “La impunidad continúa incrustada como política de Estado“ (Die Straflosigkeit ist nach wie vor Bestandteil der staatlichen Politik) Tageszeitung Gara, 2022-09-24 (LINK)
(4) Der katalanische Anarchist und Antifaschist Salvador Puig Antich (1948-1974) wird am 2. März (20 Monate vor Francos Tod) mit der Garotte hingerichtet.
(5) Generalstreik im März 1976 in Vitoria-Gasteiz (4 Monate nach Francos Tod), Vollversammlung in einer Kirche im Arbeiter-Stadtteil Zaramaga, die Polizei wirft Rauchbomben in die voll besetzte Kirche, vor den Toren schießt die spanische Polizei mit scharfer Munition auf die Flüchtenden, fünf Tote, hunderte Verletzte. Verantwortliche Minister: Fraga Iribarne, Rodolfo Martin Villa.
(6) Der linke Aktivist Germán Rodríguez wird bei den San-Fermin-Fiestas im Juli 1978 (32 Monate nach Francos Tod) in der Stierkampf-Arena von Iruñea-Pamplona von der spanischen Polizei erschossen
(7) Am 24. Januar 1977 (14 Monate nach Francos Tod) stürmen rechtsradikale Attentäter ein Büro linker Anwälte in Madrid-Atocha. Fünf Personen aus dem Umfeld der Kommunistischen Partei (PCE) und der Kommunistischen Gewerkschaft (CCOO) werden ermordet.
(8) Nach Francos Tod entsteht eine Bewegung, die die Freilassung aller politischen Gefangenen fordert. Bei entsprechenden Mobilisierungen tötet die franquistische Polizei eine Reihe von Demonstrant*innen. Noch vor der Verabschiedung einer neuen Verfassung beschließt die spanische Regierung im Oktober 1977 ein Amnestie-Gesetz (23 Monate nach Francos Tod). Im letzten Moment und von vielen unbemerkt wird darin auch eine Amnestie für alle franquistischen Verbrechen während des Krieges und der Diktatur festgeschrieben. Dieses Gesetz widerspricht der Internationalen Menschenrechts-Erklärung, nach der Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit weder verjähren noch amnestiert werden können. Bis heute wurde kein franquistischer Verbrecher vor Gericht gestellt.
(9) Die heutige “Audiencia Nacional” (Nationaler Gerichtshof) ist das Gericht im Staat, vor dem politische Delikte verhandelt werden. Die Vorgänger-Instanz im Franquismus war das “Tribunal de Orden Público“ (Tribunal Öffentlicher Ordnung, TOP), ebenfalls ein Polit-Gericht.
(10) “Eusko Gudariak“ (baskische Soldaten), die inoffizielle Hymne des baskischen Nationalismus, wurde 1932 geschrieben, im Spanienkrieg erhielt es einen neuen Text.
(11) Von der Zapatero-Regierung wurde 2007 das “Gesetz der historischen Erinnerung“ (Ley de Memoria Histórica) verabschiedet, das jedoch nicht wirklich der Aufarbeitung des Franquismus diente. Insbesondere, weil es von der folgenden Regierung der Postfranquisten unter Rajoy praktisch ignoriert wurde. 2021 wurde deshalb das “Gesetz der demokratischen Erinnerung“ (Ley de Memoria Democrática) beschlossen, das zwar weiter geht als das vorherige, aber in den Augen vieler nicht weit genug. Zudem haben die Postfranquisten angekündigt, dieses Gesetz im Fall einer Regierungsübernahme sofort zurückzunehmen.
ABBILDUNGEN:
(1) Gudari Eguna (FAT)
(2) Gudari Eguna (wikipedia)
(3) Gudari Eguna (naiz)
(4) Gudari Eguna (wikipedia)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-09-28)