Chronologie des Pegasus-Falls
Bewegte vier Wochen in den spanischen Geheim-diensten, ein Ende ist nicht in Sicht. Die Entlassung der Direktorin des CNI-Geheimdienstes ist sicher nicht das letzte Kapitel eines Spionage-Komplotts, das Stabilität und Zukunft der Koalitions-Regierung in Frage stellt. Die Bespitzelung von mehr als 60 katalanischen und baskischen Unabhängigkeits-Befürwortern und spanischen Regierungs-Mitgliedern hat die Regierung erschüttert und droht mit deren vorzeitigem Ende. Die Kloaken des Staates sind unergründlich.
Nachdem nicht nur die baskischen und katalanischen “Verfassungsfeinde“ mit der israelischen "Software" Pegasus abgehört wurden, sondern dazu auch der Ministerpräsident Pedro Sánchez, Innenminister Grande Marlaska und die Verteidigungs-Ministerin Margarita Robles, ist in Madrid einiges ins Wanken geraten.
Die Regierung wird von außen und innen in Frage gestellt, die eben neu sortierte postfranquistische Rechte mit dem neuen Parteichef Feijoo lacht sich ins Fäustchen. Denn nicht nur die ausspionierten Politiker*innen drohen der Minderheits-Regierung mit dem Entzug der Unterstützung, auch von Podemos sind Forderungen nach Rücktritten zu hören. Fraglich ist, ob die etwas überraschende Entlassung der Geheimdienst-Chefin Paz Esteban wirklich wie ein Befreiungsschlag wirkt, oder die Krise lediglich in die Länge zieht. Chronologie einer politischen Auseinandersetzung mit möglichen internationalen Auswirkungen. (1)
18. April: “The New Yorker" deckt den Fall auf
Ein Artikel in der US-Wochenzeitung "The New Yorker", der sich auf eine Studie des kanadischen Forschungszentrums Citizen Lab stützt, deckt eine Bespitzelung von mehr als 60 katalanischen und baskischen Politiker*innen, Anwälten und Geschäftsleuten auf, die mit dem katalanischen Unabhängigkeits-Referendum in Zusammenhang stehen.
19. April: Die Regierung bestreitet ihre Beteiligung
Die Reaktionen der von Mobiltelefon-Spionage Betroffenen lässt nicht lange auf sich warten – die Regierung bestreitet, die Spionage veranlasst zu haben. Die Regierungs-Sprecherin Rodríguez verteidigt die Behauptung, dass die Regierung in dem Spionagefall "nichts zu verbergen" habe und garantiert, dass die Regierung bei allem, was die Justiz fordert, kooperieren werde. Verteidigungs-Ministerin Margarita Robles bittet darum, vor den Kongress geladen zu werden, um Erklärungen abzugeben. Die katalanische Regierung (als Mehrheits-Garantin der Zentralregierung) friert ihre Beziehungen zur Zentralregierung ein.
26. April: Bolaños reist nach Barcelona
Der Präsidiums-Minister Félix Bolaños reist am 26. April, zu einem Sonder-Treffen mit seiner Amtskollegin in der katalanischen Generalitat, der Ministerin Laura Vilagrà. Die katalanische Delegation gibt sich kühl und fordert, alle Mobiltelefone außerhalb des Raumes zu lassen. Die Erklärungen von Bolaños, der die Zentralregierung erneut vom Spionage-Vorwurf freispricht, sind für die Katalan*innen nicht ausreichend.
27. April: Robles rechtfertigt die Spionage
Weit davon entfernt, den Zorn der Verbündeten ERC (Katalonien) und EH Bildu (Baskenland) zu besänftigen, rechtfertigt Verteidigungs-Ministerin Margarita Robles die Bespitzelung politischer Rivalen, sofern die Einheit des Staates in Gefahr ist. Dies geschieht in einer Kontrollsitzung der Regierung unter Hochspannung, als Antwort auf eine Frage der katalanischen CUP-Abgeordneten Mireia Vehí. Die Präsidentin des Kongresses, Meritxell Batet, erzwingt eine Änderung in der offiziellen Geheimhaltungs-Kommission, indem sie die Zahl der für die Teilnahme erforderlichen Parlamentsstimmen senkt. Dies ermöglicht den Eintritt der von der politischen Rechten als “Verfassungsfeinde“ bezeichneten ERC und EH Bildu in dieses Gremium.
28. April: Die Regierung setzt Anti-Krisen-Dekret mit Bildu-Stimmen durch
Einen Tag später gelingt es der Regierung inmitten des politischen Sturms, im Kongress das Dekret zur Abfederung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen des russischen Einmarsches in der Ukraine durchzusetzen. Dies in einer knappen Abstimmung, die dank der Unterstützung der fünf baskischen Abgeordneten von EH Bildu positiv ausfällt. Die katalanische ERC stimmt dagegen.
2. Mai: Auch die Telefone von Robles und Sánchez wurden ausgespäht
Es wirkt fast wie ein Witz oder ein gezieltes Fake: In einer kurz zuvor einberufenen Pressekonferenz (ausgerechnet am 1.Mai-Feiertag) erklärt die Regierung, dass die Telefone des Präsidenten Pedro Sánchez und der Verteidigungs-Ministerin Margarita Robles ebenfalls mit Hilfe der israelischen "Malware" Pegasus gehackt wurden. Der Lauschangriff wird datiert auf Ende Mai bis Anfang Juni 2021, genau zum Zeitpunkt der diplomatischen Krise mit Marokko wegen der Grenzöffnung durch das nordafrikanische Land (als Reaktion auf die Einreise des Polisario-Chefs nach Spanien, um in einem Krankenhaus wegen Covid-19 behandelt zu werden). Der Spionage-Verdacht fällt in diesen Fall auf Marokko, das sich ebenfalls die Pegasus-Software zugelegt hat.
3. Mai: PSOE, PP und die Faschistenpartei Vox legen ihr Veto gegen einen Untersuchungsausschuss ein
Die PSOE lässt sich im Parlament von der versammelten Rechten und Ultrarechten unterstützen (PP, Vox und Ciudadanos), um die Einsetzung einer Untersuchungs-Kommission zur Untersuchung von Spionage im Parlament zu verhindern – Baskinnen und Katalaninnen unterliegen in der Abstimmung zusammen mit Koalitionspartner Podemos. Das Ergebnis ist ein Beleg für den schlechten Zustand der Beziehungen zwischen den Sozialdemokraten und ihren Partnern. "Das könnte die Legislative und die Demokratie ruinieren", sagt der ERC-Sprecher im Unterhaus, Gabriel Rufián. An diesem Tag wird bekannt, dass auch das Mobiltelefon der ehemaligen Außenministerin Arantza González Laya, Leiterin der spanischen Diplomatie während der Krise mit Marokko, ebenfalls mit Pegasus gehackt wurde.
5. Mai: Der CNI-Geheimdienst räumt ein, den katalanischen Ministerpräsidenten Aragonès ausspioniert zu haben
Die Direktorin des Geheimdienstes CNI, Paz Esteban, erscheint vor der Kontroll-Kommission des Geheimdienstes und räumt die Bespitzelung von 18 Unabhängigkeits-Befürwortern im September 2019 durch die von ihr geleitete Behörde ein. Nach der Verurteilung im Verfahren gegen die Verantwortlichen für das “illegale“ Referendum in Katalonien war es zu Unruhen gekommen. Die Direktorin nennt unter anderem den Namen des derzeitigen Präsidenten der Generalitat, Pere Aragonès, der damals Vizepräsident der von Quim Torra geführten Regierung war.
10. Mai: Die Regierung entlässt die Direktorin des Geheimdienstes
Die Zentralregierung entlässt die CNI-Direktorin (die vorher einen Rücktritt ausgeschlossen hatte), um die Krise mit ihren Partnern zu entschärfen. Und das, obwohl der Sprecher der PSOE, Felipe Sicilia, am Vortag erklärt hatte, es gebe "keinen einzigen Grund, warum die Direktorin des CNI nicht auf ihrem Posten bleiben sollte". Auch wird bekannt, dass das Mobiltelefon des Innenministers Fernando Grande-Marlaska ebenfalls von einer einem Angriff mit der Pegasus-Software betroffen war. (1)
Bauernopfer wegen Pegasus-Spionage
Citizen Lab wird demnächst eine weitere Liste mit 150 Abhör-Opfern veröffentlichen – die spanische Regierung entlässt Geheimdienstchefin. Es drohen Untersuchungen des Abhörfalls von Seiten europäischer Stellen. Die Entlassung der Geheimdienst-Chefin sieht ganz nach einem Befreiungsschlag der Regierung Pedro Sánchez aus: Seine in dem Abhörskandal mit der israelischen Software Pegasus schwer angeschlagene Verteidigungs-Ministerin Margarita Robles hat die CNI-Frau entlassen. Bisher ist bekannt, dass von "Catalan-Gate" vor allem hochrangige Politiker, Aktivisten, Journalisten und Anwälte aus Katalonien betroffen waren. Eine Analyse von Ralf Streck bei Telepolis. (2)
Robles lackierte die Entlassung von Paz Esteban als einen "Austausch in international schwierigen Zeiten". Das Wort "Entlassung" kam ihr nicht über ihre Lippen. Sie stellte sich sogar hinter die bisherige CNI-Chefin: "Ich akzeptiere den Begriff Entlassung nicht." Die Verteidigungs-Ministerin erklärte folglich auch nicht, ob Esteban wegen Catalan-Gate ausgetauscht wurde, oder weil deren Geheimdienst unfähig war, Mitglieder der Regierung vor der Pegasus-Ausspähung zu bewahren, hinter der angeblich Marokko stehen soll. Von der Ausspähung wusste die spanische Regierung allerdings schon seit einem Jahr. Sie machte die Vorgänge aber erst vergangene Woche öffentlich, um die eigene Spionage im bisher größten bekannt gewordenen Pegasus-Skandal zu überdecken.
"Sie ist eine echte Spionin"
Geleitet wird der Geheimdienst nun von Esperanza Casteleiro, die als Vertraute von Robles gilt. Sie war schon zwischen 2004 und 2008 die Nummer zwei im CNI, bisher war die 65-jährige Staatssekretärin im Verteidigungs-Ministerium. "Sie ist eine echte Spionin", zitiert Ernesto Ekaizer, der gute Kontakte zum CNI hat, nicht genannte Quellen.
Hat man die Lage also "verschlimmbessert"? Klar ist, dass sich der Skandal über die Spähsoftware Pegasus ausweitet. Der Druck der Regierung, die mit dem "Austausch" der CNI-Chefin die Wogen zu glätten versucht, für Aufklärung zu sorgen, nimmt zu. Allein die Tatsache, dass der sozialdemokratische Regierungschef Sánchez nun seit gut einer Woche abgetaucht ist, sagt viel. Er hatte sich zuvor noch hinter Robles gestellt.
Schwierige Lage für die Regierung
Ihren Rücktritt fordert nämlich nicht nur der ausgespähte katalanische Regierungschef Pere Aragonès von der Republikanischen Linken Kataloniens (ERC), sondern auch der Koalitionspartner "Unidas Podemos" (UP). UP-Sprecher Pablo Echenique erklärte, dass Robles entweder nichts von den Vorgängen wusste, dann sollte sie wegen "völliger Inkompetenz" zurücktreten. Oder sie wusste, was läuft, dann sollte sie dafür den Hut nehmen.
Dass Sánchez nicht Robles in die Wüste geschickt hat, sondern durch die Bestellung von Esteban nur zu einem wachsweichen Bauernopfer bereit war, steigert den Unmut beim Koalitionspartner weiter. Der muss sich wegen der anstehenden Wahlen im bevölkerungsreichsten Andalusien im kommenden Monat angesichts von bisherigen Wahlschlappen profilieren.
Die Konflikte mit UP eskalieren also weiter, da Sánchez sie ein ums andere Mal vor den Kopf stößt, ob bei der Anerkennung der Souveränität Marokkos über die Westsahara, bei Waffenlieferungen an die Ukraine oder in vielen sozialen Fragen. Das Problem von Sánchez ist, dass über Catalan-Gate zwei wichtige Unterstützer seiner Minderheitsregierung ausgespäht wurden. Auf die Stimmen der ERC und anderer Parteien ist er angewiesen. Der ERC-Sprecher Gabriel Rufián begrüßte zwar die Entlassung der CNI-Chefin, erklärte aber: "Wenn sie glauben, dass das die ERC zufrieden stellt, dann täuschen sie sich".
Dass die Sozialdemokraten (PSOE) von Sánchez mit Stimmen von rechten Parteien, bis hin zur ultrarechten Vox-Partei verhindert haben, dass ein parlamentarischer Untersuchungs-Ausschuss zur Untersuchung der Spionage eingesetzt wird, hat die Lage für ihn weiter verschärft. Die Regierung verschanzt sich dabei hinter einem Gesetz, das noch die Unterschrift des Diktators Franco trägt, um keine Dokumente freizugeben.
Sie will die Vorgänge nur im Geheimdienst-Ausschuss beraten. Was dort besprochen wird, darf aber nicht an die Öffentlichkeit gelangen. Im Ausschuss hatte die nun entlassene Chefin des Geheimdienstes CNI eingeräumt, dass 18 Menschen über die Spionage-Software Pegasus ausgespäht wurden, darunter auch der katalanische Präsident Aragonès. Paz Esteban soll aber sogar 29 Namen zugegeben haben, die mit "juristischer Genehmigung" ausgespäht worden seien. Darunter auch Josep Lluís Alay, der Bürochef des katalanischen Exilpräsidenten Carles Puigdemont. Im Hintergrund steht die absurde Behauptung, er sei sogar russischer Agent.
Neue Liste mit 150 Namen
Die IT-Sicherheitsexperten von Citizen Lab haben bisher eine Liste mit 65 angegriffenen Personen veröffentlicht, darunter der Madrider Anwalt Gonzalo Boye, der auch Puigdemont verteidigt. Das kanadische Labor an der Universität in Toronto will nun weitere 150 Namen veröffentlichen. Bei den ersten Untersuchungen wurden nur iPhones, aber keine Android-Handys geprüft.
Die Fragen an Madrid werden immer drängender: Wer hat Angriffe juristisch genehmigt? War das mit der Verfassung vereinbar, da es doch besonderen Schutz für Parlamentarier, Anwälte und Journalisten gibt? Zudem finden sich auch katalanische Europa-Parlamentarier auf der Liste, womit auch Europa-Recht ins Spiel kommt. Europa will inzwischen seinerseits auch die spanischen Vorgänge untersuchen. Dass längst ein Untersuchungs-Ausschuss zum Einsatz von Pegasus eingesetzt wurde, kommt für Spanien zur Unzeit. Der Untersuchungs-Ausschuss beschäftigte sich bisher aber nur mit Vorgängen in Ungarn und Polen.
Die angeschlagene Verteidigungs-Ministerin Robles hat zum Selbstschutz auch schon mit dem Finger auf den Innenminister Fernando Grande-Marlaska gezeigt. Auch die Nationalpolizei oder die Guardia Civil dürften mit Pegasus gespitzelt haben. Dass die Polizei Pegasus in Israel 2017 von der NSO Group erworben hat, ist der Antikorruptions-Staatsanwaltschaft seit 2018 bekannt. 2017 begannen die Ausspähaktionen mit dem katalanischen Unabhängigkeits-Referendum. So gibt es nicht nur Streit mit dem Koalitionspartner und Unterstützern wie ERC oder EH Bildu, es tobt auch der Kampf innerhalb der Sozialdemokraten. (2)
ANMERKUNGEN:
(1) “Cronología del 'caso Pegasus': los convulsos 23 días en los servicios secretos (Chronologie des “Pegasus-Falles": die turbulenten 23 Tage der Geheimdienste), Tageszeitung El Correo, 2022-05-10 (LINK)
(2) “Erstes Bauernopfer wegen Pegasus-Spionage“, Telepolis, Ralf Streck, 2022-05-11 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Pegasus (breakinformativo)
(2) Abhör-Opfer (antena3)
(3) Pegasus (muycomputer)
(4) Abhör-Opfer (eldiario)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-05-11)