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Studienprogramm: Essen, Strand und Partys

Von August 2016 bis Januar 2017 war Lukas für knapp ein halbes Jahr in Bilbao. In Deutschland studiert er Politikwissenschaft, an der baskischen Universität hat er ein Semester verbracht: Erasmus. Dabei hat er sich bewusst für den Standort Bilbao entschieden: seine deutsche Uni hat in Spanien einige Partneruniversitäten, er wollte jedoch die typischen Erasmus-Aktivitäten (Party, Alkohol, keine Verbindung mit Stadt und Menschen) vermeiden und schloss deshalb Städte wie Salamanca oder Valencia aus.

Erasmus-Auslandssemester sind bekanntermaßen nicht nur studieren im Ausland, für die meisten bedeutet es Party, Strand, Surf und Abenteuer. Erfahrungsbericht eines deutschen Studenten, der Bilbao gewählt hat.

Bei der Entscheidung für Bilbao war mir der Kampf der Bask*innen um Autonomie und Unabhängigkeit in Grundzügen bekannt. Ich wusste also vorher schon, dass ich in eine Stadt komme, die politisch und gesellschaftlich interessant ist. Da ich in Deutschland in linken Zusammenhängen aktiv bin, fiel meine Standortwahl auf Bilbao.

Erasmus ist ein Förderprogramm der Europäischen Union für Studierende aus dem Jahr 1987. Der Name erinnert an Erasmus von Rotterdam, einen gebildeten Humanisten der Renaissance (1466-1536). Es wurde zum weltweit größten Förderprogramm von Auslandsaufenthalten an Universitäten, im Jahr 2003 wurde es erweitert über Europa hinaus durch das Programm Erasmus Mundus. In seinen ersten 15 Jahren wurden etwa 1 Million Stipendien finanziert. Für andere Zielgruppen folgte beispielsweise Erasmus für Jungunternehmer. Seit dem Jahr 2014 ist Erasmus mit anderen Programmen zu Erasmus+ verschmolzen (1).
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Bilbao und seine Umgebung sind landschaftlich ohne Zweifel als schön zu bezeichnen. Bilbao hat mit Casco Viejo eine Altstadt, in der immer viel los ist. Egal ob Kneipen, Geschäfte oder Lebensmittelläden, dort ist alles zu finden. Dazu kommen in der modernen Innenstadt Museen, Restaurants, Cafés und kulturelle Einrichtungen. Für Fußballbegeisterte bietet Athletic Bilbao einen spannenden Anlaufpunkt.

Auch die Landschaft außerhalb der Stadt bietet einiges: das Meer mit vielen kleinen Stränden ist in 30 Minuten zu erreichen, Wanderungen auf die umliegenden Berge sind direkt aus der Stadt möglich. Insgesamt eine wirklich schöne und interessante Region. Doch verbirgt sich hinter dieser Fassade einiges mehr. Um dies zu entdecken, ist nur etwas mehr Aufmerksamkeit erforderlich. Überall gibt es Plakate, Grafitis, Aufkleber, die darauf hinweisen, dass Bilbao keine normale, spanische Stadt ist, sondern deutlich mehr.

Universitäre Betreuung

Die Universität hat von diesem „mehr“ allerdings nicht viel wiedergegeben. Mit Universität meine ich hier die Institution. Zwar wurden die internationalen Studierenden wirklich gut und umfangreich betreut, ein Angebot um die Besonderheiten Bilbaos, des Baskenlandes gab es jedoch nicht, die Bedeutung einer Universität mit speziell baskischem Charakter wurde dort leider nicht thematisiert. Die Betreuung außerhalb der Universität lief über drei verschiedene Organisationen ab. Zum Teil kommerziell, zum Teil nicht kommerziell werden von diesen Organisationen Veranstaltungen organisiert, um den internationalen Studierenden eine nette Zeit zu bieten. Eine Organisation hieß „ESN Bilbao" und eine andere „Happy Erasmus Bilbao". Das waren die beiden, die ich vorwiegend erlebt habe. Ansonsten gab es zu bestimmten Anlässen (große Ausflüge, Skifahren, etc.) noch andere Organisationen, deren Namen ich mir nicht gemerkt habe.

erasmus03Diese Veranstaltungen sind dann jedoch häufig genau dieses „Erasmus-Leben“, welches ich nicht gesucht habe: es dreht sich viel um Partys und Alkohol. Die wenigen Male, als ich bei solchen Veranstaltungen teilgenommen habe, konnte ich kaum einen Unterschied zu dem erleben, was es auch in Deutschland zu erleben gibt. Zwar gab es zu Beginn des Semesters auch Stadtführungen – vorgestellt wurden gute Kneipen, das Stadion und das Guggenheim-Museum – und Wandertouren auf die nächstgelegenen Berge. Was die Stadt besonders macht, das Politische, davon habe ich bei diesen Vorstellungen nichts gesehen oder gehört. Es fehlt bei der Organisation an Angeboten, die spezifisch sind, die auf das Charakteristische in Bilbao und im Baskenland eingehen.

Auf eigene Faust war ich außerdem noch im „Museo de Bellas Artes" (Museum der Schönen Künste), das fand ich ziemlich interessant. Außerdem im baskischen Museum (Euskal Museoa) am Unamuno Platz – das fand ich richtig interessant. Auch das archäologische Museum an den Treppen zum Unamuno-Platz fand ich gut.

Sprachenvielfalt

Die Spanisch-Kenntnisse der Erasmus-Student/innen waren im Übrigen sehr unterschiedlich, von gar nichts bis fließend. Das war auch am Ende des Erasmus-Semesters noch so, es gab Leute, die gar kein Spanisch gelernt haben. Was die baskische Sprache betrifft, die für die baskische Kultur ja eine ganz besondere Rolle spielt, ich habe nicht mitbekommen, dass Baskisch an der Uni für Erasmus-Studis besonders hervorgehoben worden wäre. Es gab einen Kurs, der zwar beschrieben war als Kurs über „alles, was baskisch ist", dabei ging es aber vor allem um Essen und Trinken. Diesen Kurs habe ich selbst aber nicht besucht.
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Trotzdem war es mir möglich, ein bisschen vom politischen Bilbao wahrzunehmen. Wie gesagt, man muss nur mit offenen Augen durch die Stadt gehen, und natürlich auch ein gewisses Interesse mitbringen. Dazu hatte ich das große Glück, zu Beginn meines Aufenthalts zwei Deutsche kennenzulernen, die seit vielen Jahren in Bilbao leben und mir zum einen viel erzählen und erklären konnten, und mir zum anderen dadurch auch Verständnis und Zugang zu verschiedenen Orten und Gruppen vermittelt haben. Als Erasmus-Studierender ist die Bereitschaft wichtig, mit Leuten in Kontakt treten zu wollen. Das fiel mir am Anfang noch schwer, weil ich zu Beginn meines Aufenthaltes noch nicht gut Spanisch und gar kein Baskisch gesprochen habe, was sich mit der Zeit aber verbessert hat.

Dadurch habe ich einen neuen bzw. einen umfassenderen Blick auf Bilbao und das Baskenland gewonnen. Bilbao ist mehr als nur die schöne Stadt mit dem gutem Essen, den leckeren Pintxos und dem Guggenheim nah am Meer. Es ist eine in den letzten Jahren radikal umgebaute Stadt mit viel sozialer Verdrängung, und eines der Zentren des baskischen Nationalismus.

Nationalismus und Selbstbestimmungsrecht

Diesen Nationalismus zu verstehen und zu akzeptieren ist keine einfache Aufgabe. Aus einer linken deutschen Perspektive wird bekanntlich jede Form des Nationalismus als rassistisch und ausgrenzend angesehen. Auf Deutschland trifft das zweifellos zu, denn der deutsche Nationalismus zeichnet sich eben durch Ausgrenzung aus. Dies gilt jedoch nicht für das Baskenland. Dass der baskische Nationalismus auf anderen historischen Grundlagen und auf einer Jahrzehnte langen Unterdrückung beruht, dass er nicht rassistisch ist, niemanden ausschließt und auch Unterstützung von Nicht-Bask*innen zulässt, diese Erfahrung kann nur vor Ort mit offenen Augen und Ohren gemacht werden. Viele Personen, die sich für das Selbstbestimmungsrecht der baskischen Gesellschaft über die Zukunft des Baskenlandes aussprechen, haben ihre familiären Wurzeln in anderen Regionen des spanischen Staates. Das Streben nach Unabhängigkeit ist somit nicht ethnisch motiviert, sondern kulturell und politisch – niemand benötigt vier baskische Nachnamen um politisch ernst genommen zu werden.

In Deutschland war und ist Nationalismus immer eine Form der Fremdenfeindlichkeit. Dabei geht es nicht um Abgrenzung, sondern um Ausgrenzung, es geht darum, sich als eine Gruppe zu definieren, die besser ist als eine andere, besser als „die Ausländer". Die Ausgrenzenden werden als Elite dargestellt, und das nicht etwa, weil diese Gruppe etwas Besonderes geleistet hätte, sondern schlicht weil sie Deutsche sind.
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In Bilbao habe ich Nationalismus – oder besser gesagt Patriotismus, denn „abertzal“ bedeutet eher patriotisch als nationalistisch – anders wahrgenommen. Die Bask*innen grenzen sich nicht ab, weil sie denken, sie seien etwas Besseres als die Spanier*innen. Auch sind sie in ihrem Bestreben nach Unabhängigkeit oder Autonomie nicht komplett verschlossen. Ich habe häufig wahrgenommen, dass sie es befürworten, auch von Nicht-Bask*innen Unterstützung zu bekommen, nicht zuletzt aus dem spanischen Staat, wo es nicht wenige Sympathisant*innen gibt. Als größte und wirtschaftlich bedeutendste Stadt ist Bilbao natürlich auch ein Zentrum des baskischen Nationalismus. Bliebe zu ergänzen, dass ich dort in einem relativ kurzen Zeitraum eine große Zahl von Kundgebungen und Demonstrationen erlebt habe, die sich um Unabhängigkeit, Amnestie für politische Gefangene, um internationalistische Themen, sowie um sozialpolitische und gewerkschaftliche Themen drehten. Die Agitation auf der Straße und in der Uni ist praktisch eine tägliche Erscheinung, die baskische Gesellschaft ist nach wie vor hoch politisiert.

Bei vielen meiner Erasmus-Kommiliton*innen fiel mir das mangelnde Interesse an der baskischen Kultur auf. Vieles wurde reduziert auf Essen und die Nähe zum Meer, Surfen und Feiern. Dass das Baskenland keine normale Region des spanischen Staates ist, dass es dort eine eigene Identität gibt, das ist den meisten nicht einmal aufgefallen. Dabei wären hierfür nur wache Blicke in der Uni nötig gewesen. Dort gab es regelmäßig Kundgebungen und viele Graffitis zu sehen, die in baskischer Sprache politische Meinungen kundtaten. Schade war, dass die Rolle anderer europäischer Staaten (aus denen der größte Teil der Studierenden kam) im spanischen Bürgerkrieg und während der Franco-Diktatur nur wenige interessiert hat. Nur wenige deutsche Studierende fuhren in das nicht weit entfernte Gernika, um sich dort anzugucken, was die Nazi-Luftwaffe verbrochen hat.

Ich hätte mir gewünscht, dass die Universität ein Angebot organisiert, mit welchem sie den internationalen Studierenden nahebringt, welche Bedeutung Bilbao und das Baskenland haben. Eine einfache Konsumhaltung, nur Party und Genuss, finde ich viel zu wenig. Das zu ändern wäre für meine Begriffe eine Aufgabe der Universität. Hilfreich wäre, wenn verschiedene politische Gruppen aus Bilbao versuchen, an der Universität ein wenig Kontakt zu knüpfen, um den Studierenden alternative Angebote zu den Party-Aktivitäten zu bieten. Ich denke es gäbe dafür auf jeden Fall genügend Möglichkeiten.

Gelernt habe ich trotzdem eine Menge, mehr als ich mir vorher vorgestellt hatte. Ich habe einen neuen Blick gewonnen auf den spanischen Staat, auf den baskischen Nationalismus und auf die Idee von Nationalismus an sich. Außerdem habe ich an der Universität und in der Stadt spannende Menschen mit interessanten Geschichten kennengelernt. Und natürlich, nicht zu vergessen, auch eine schöne Stadt. (Lukas)

ANMERKUNGEN:

(1) Erasmus-Studienprogramm: Wikipedia

ABBILDUNGEN:

(1) Universität Bilbao (universia.es)

(2) Universität Bilbao (bilbaoenconstruccion.com)

(3) Picasso Guernica-Version (FAT)

(4) Demo Uni Bilbao (deia.com)

(5) Universität Bilbao (ehu.eus)

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