Reisebericht in Bildern (2017)
Die Rezension eines Fotobuchs zu schreiben und seinen Reiz darzustellen ist nicht einfach. Denn Fotobücher leben vom Anschauen, von konkreten Eindrücken, Texte spielen eine Nebenrolle. Die Fotografin Gabriele Senft hat sich Gernika als Projekt vorgenommen und ein interessantes Buch kreiert, das deutlich macht, dass Gedenkveranstaltungen nicht nur aus Politikerreden und Kranzniederlegungen bestehen müssen. In Gernika steht jeden 26. April Begegnung und Demonstration, Forderung und Besinnung an.
Der Verlag Wiljo Heinen hat ein Fotobuch vorgelegt, das eine Reise ins baskische Gernika dokumentiert. Nicht zufällig am 26. April, denn an jenem Tag im Jahr 1937 wurde die Stadt von den Nazis in Schutt und Asche gelegt. Die Fotografin Gabriele Senft besuchte die Gedenkveranstaltungen und hielt ihre Eindrücke fest.
Vorangestellt werden muss, dass die Baskenland-unerfahrene Fotografin Gabriele Senft Glück hatte bei der Auswahl ihrer Reisebegleiter*innen: unterwegs war sie in einer kleinen Gruppe mit zwei Reiseleiter*innen, die sich in Gernika und umzu perfekt auskennen (1). Entsprechend kam sie in den wenigen Tagen ihres Aufenthalts im Baskenland in den Genuss vieler persönlicher Begegnungen, die im vorliegenden Fotobuch ihre Spuren hinterließen (2).
„An vielen Orten der Erde wurde 2017 in den letzten Apriltagen an das vor 80 Jahren geschehene, und als eines der ersten großen international wahrgenommene, Kriegsverbrechen von Gernika gedacht. Gabriele Senft weilte vor Ort im Baskenland und erlebte mit, wie das Andenken an die damaligen Opfer der Bombardierung bewahrt wird von den Einwohnern Gernikas, wie die es ihren Kindern lebendig und anschaulich als ihre Geschichte vermitteln und eindringlich fordern, Bedingungen zu schaffen, die Kriege verhindern.“
Dieser Nachspann auf der Rückseite des Buches könnte auch ein Vorwort sein, eine Einführung in die Motivation zum Fotoprojekt Gernika. Wer Gernika nicht kennt und ebensowenig die baskischen Gewohnheiten an derartigen Gedenktagen, erlebt mit der Fotodarstellung eine – sicher positive – Überraschung. Denn im Baskenland werden auch Ereignisse, die an Tragik und Dramatik kaum zu überbieten sind, durchaus mit festlichem Charakter begangen. Zumindest ein Volksessen ist auf jeden Fall dabei. Der Gedenktag am 26. April in Gernika ist von früh bis in die Nacht von einer Vielzahl von Treffen, Veranstaltungen und Mobilisierungen verschiedener Institutionen und Initiativen geprägt.
Der Tag beginnt mit der förmlichen Verleihung der Gernikapreise für Personen, die sich um den Weltfrieden verdient gemacht haben. Es folgt die Ehrung für den Journalisten George Steer, dem es zu verdanken ist, dass das Kriegsverbrechen sofort an die Weltöffentlichkeit übermittelt wurde. Verschiedene Besichtigungen und Begehungen folgen, am Nachmittag findet auf dem Friedhof eine Messe statt. Emotionaler Höhepunkt des Tages ist um 16 Uhr nachmittags das Heulen der Sirene zur Warnung vor dem Fliegerangriff, genau wie vor 80 Jahren. Dann versammelt sich der ganze Ort auf der Straße zu Schweigeminuten. Es folgt ein Straßentheater von Laien-Darsteller*innen, darunter viele Schulkinder. Abends eine Demonstration, die sich nicht nur gegen Krieg wendet, sondern auch Rechte für die verbleibenden politischen Gefangenen einfordert.
Begegnungen
Es mag kaum glaublich erscheinen, aber auch 80 Jahre nach der verheerenden Bombardierung leben noch Menschen, die das damalige Geschehen selbst erlebt haben. Als Kinder. Luis Iriondo und Francisco Zarrandi zum Beispiel, ihnen sind die ersten Fotos im Band gewidmet. Lobak – die Enkel auf Baskisch - ist eine Gruppe aus der dritten oder vierten Nachfolge-Generation, die sich vor einigen Jahren an die Arbeit gemacht hat, die Erinnerung an das Unsägliche auch unter jüngeren Einwohner*innen am Leben zu erhalten. Sie haben die Sirene wieder aktiviert, die vor 80 Jahren vergeblich vor den anfliegenden Nazis warnte. In irgend einem Lager war sie vor 10 Jahren wiedergefunden worden, die Herstellerfirma bestätigte die Autentizität, nun ist sie wieder im Einsatz, einmal im Jahr am 26. April – um die Schweigeminuten einzuläuten.
Untrennbar mit Gernika verbunden ist der Name George Steer, Journalist der London Times, der damals noch in der Nacht von Bilbao nach Gernika fuhr, um sich ein Bild von der Zerstörung zu machen. Und um darüber zu berichten. Seine Büste steht nahe der Altstadt und erfährt am Vernichtungstag eine Würdigung. Anwesend im Jahr 2017 waren Steers Sohn und Nichols Rankin, Steers Biograf. Eine Begegnung gab es auch mit der freundlichen Briefträgerin, die sich zum Foto bereit zeigte.
Begegnungen auch mit Agirre, Basterretxea, Moore, Chillida und Iparragirre – sie alle erzählen kleine und große Kapitel baskischer Geschichte und der von Gernika. Besuch bei der Brücke, die von den Nazis als angebliches Angriffsziel definiert wurde aber unbeschädigt blieb. Besuch auf dem Montagsmarkt, denn die Bombardierung fand an einem Markttag statt, als neben den Gernikatarras noch einmal soviele Menschen aus der Umgebung in der Stadt waren. Besuch im Parlamentsgebäude mit seinem beeindruckenden Deckenfenster, das alle bizkainischen Gemeinden verewigt – auch hier fielen keine Bomben, sicher nicht zufällig. Besuch an der Ureiche, deren Stumpf neben dem Versammlungssaal steht – Symbol der baskischen Selbstverwaltungs-Rechte.
Picassos Symbolkraft
Der Bedeutung von Goerge Steer bei der Vermittlung der historischen Wahrheit kommt Picasso beim Schaffen eines sichtbaren Symbols zu. Picasso kannte Gernika nicht persönlich. Auch war es nicht geplant, das in Planung befindliche Protestwerk für die Weltausstellung nach dem baskischen Ort zu benennen, dies war allein der Dynamik der Ereignisse geschuldet. Picassos Vermächtnis war nicht, dass sein Bild eines Tages nach Gernika kommen sollte, er wollte es in einem erneut republikanischen Spanien sehen. In verschiedener Form hinterlässt "Guernica" heute seine Spuren in der bizkainischen Kleinstadt: als originalgroßes Wandbild, oder in Form entfremdeter Graffitis auf scheinbar achtlos gewählten Mauern.
Besuch beim einzig übrig gebliebenen Schutzbunker, auf dem Gelände der ehemaligen Waffenfabrik Astra, heute Kulturzentrum. „Im Schutzbunker von Astra lädt die Gruppe Lobak, Enkelgeneration der Bombenopfer, jedes Jahr Gäste ein, die Sirene einzuschalten. Im letzten Jahr betätigten syrische Geflüchtete den Sirenenschalter. In diesem Jahr als ein Zeichen der Versöhnung ein Nachfahre des damals für die Bombardierung verantwortlichen Kommandeurs, Wolfram von Richthofen.“ (2) Diebrand von Richthofen heißt der Großneffe des Nazi-Einsatzleiters – nicht alle Beteiligten in Gernika finden das angemessen, auch wenn der Mann eine Friedensbotschaft in den Himmel schickt.
Sirenengeheul
Gegen 16 Uhr war es am 26. April 1937, als die Sirenen klangen und gleich darauf die ersten Bomben fielen. Einen Umweg über das Meer hatten sie geflogen, zur Verwirrung. Die verschiedenen Etappen des folgenden Bombardements dauerten fast drei Stunden und forderten schätzungsweise 2.500 Tote. Jeden 26. April tönen die Sirenen wieder, diesmal als Zeichen der Besinnung über das Geschehene und die aktuellen Kriege, die oft weit weg erscheinen und doch auch im Baskenland produziert werden, in der auf dem internationalen Markt gut situierten baskischen Rüstungsindustrie. Es ist ein befreiendes Gefühl in einer sonst lärmenden und hektischen Stadt ein paar Minuten nichts, einfach nichts zu hören, niemand und nichts bewegt sich – ein einzigartiger Moment der Besinnung und des Nachdenkens. Dem folgt ein jedes Jahr anders gestaltetes Straßentheater, an dem viele Kinder beteiligt sind – sicher eine bessere Geschichtslektion als jede Unterrichtseinheit.
Ein Kreis schließt sich
Regelmäßig zum Gernika-Gedenktag kommt auch eine Delegation aus Hiroshima, jener Stadt, die vielleicht das verheerendste aller Kriegsverbrechen erlitt und die auf diese Art – wie Gernika – zum Symbol im Kampf gegen Krieg geworden ist. Dass die Kriege der Gegenwart auch im Baskenland produziert werden, wird leider sehr wenig thematisiert, auch nicht in Gernika. Einen großen Umfang hat nämlich gerade die baskische Militär- und Rüstungsindustrie. Dies an dieser Stelle zu verschweigen würde die Erinnerung an die Vernichtung Gernikas unglaubwürdig machen. Es käme der Lüge nahe, die die Franquisten 40 Jahre lang aufrecht erhielten: die Basken hätten Gernika selbst angezündet (manche glauben bis heute daran). Tatsache ist, dass der Bürgermeister der Friedensstadt Gernika einer Partei angehört, die die baskische Rüstungsproduktion fördert und subventioniert, die Produkte werden im Hafen von Bilbao nach Saudi Arabien verschifft für einen Krieg gegen die Zivilbevölkerung im Jemen.
Auf zynische Weise schließt sich hier ein Kreis, der mit einem notwendigen Gedenktag begann. Doch sind Widersprüche nicht mit Schweigen aufzulösen. Friedensstadt zu sein ist nur zum Teil ein Verdienst aus der Vergangenheit, um diesen Ehrentitel muss in der Gegenwart und Zukunft täglich gerungen werden.
Solche Überlegungen sind nicht Gegenstand des Fotobands „Gedenken. Ein Reisebericht“. Das Anliegen seiner Autorin war und ist die Momentaufnahme der Aktivitäten an jedem 26. April. Wer Geschichte und Hintergründe des Kriegsverbrechens sucht, wird in diesem Buch nicht fündig. Sein Verdienst ist die Vermittlung von Eindrücken zu einem Ereignis, das auch 80 Jahre danach in keinster Weise an Aktualität verloren hat. Wussten Sie – dass keine postfranquistische Regierung sich je von der Lüge der Basken als Brandstifter verabschiedet hat? Dass keine „demokratische“ Regierung sich je für das vom spanisch-franquistischen Regime zu verantwortende Verbrechen entschuldigt hat? Die Menschen, die sich jährlich am 26. April um 16 Uhr versammeln wissen es. Die Fotografin Gabriele Senft hat sie in ihrem Alltag unspektakulär und überaus sympathisch portraitiert.
ANMERKUNGEN:
(1) Organisiert wurde die Bildungsreise vom alternativen Veranstalter Partizan Travel, Uschi Grandel und Ingo Niebel waren die Reiseleiter*innen.
(2) "Gedenken. Ein Reisebericht”, von Gabriele Senft, Verlag Wiljo Heinen, Berlin 2017, 12 Euro
ABBILDUNGEN:
(*) Buchfotos (FAT)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2018-12-15)