Die Vergessenen des politischen Konflikts
Die Frage der politischen Gefangenen ist im Baskenland seit 60 Jahren ein aktuelles Thema. Über das Schicksal der politischen Flüchtlinge (aus dem Baskenland) wird schon etwas weniger gesprochen. Weitgehend unbekannt ist das Thema der Deportationen von politischen Aktivisten im Zeitraum zwischen 1984 und 1998. Die das feststellt ist Susana Panisello Sabaté, die Autorin eines Buchs mit dem Titel “Die Deportierten von ETA – Die Vergessenen des Konflikts” – die Geschichte von 70 baskischen Aktivist*innen.
Susana Panisello Sabaté ist Katalanin und suchte für ihre Doktorarbeit ein baskisches Thema, das noch unbearbeitet war. “Die Deportierten von ETA – Die Vergessenen des Konflikts” (Los deportados de ETA – Los olvidados del conflicto). Was sie vor zehn Jahren schrieb, wurde 2020 im baskischen Txertoa-Verlag publiziert und stellt die einzige relevante Publikation zum Thema dar.
Die Deportation baskischer Flüchtlinge in Frankreich geht zurück auf Mitte der 1980er Jahre. Iparralde war das Hinterland für Aktivist*innen, die im spanischen Staat verfolgt wurden und in Frankreich eine Zeit lang einen Flüchtlings-Status hatten. Den Spaniern missfiel dies und der Sozialdemokrat Felipe Gonzalez machte sich daran, dem Thema eine “Endlösung” zukommen zu lassen. Bekanntermaßen wurden in jener Zeit (1983-1987) die GAL-Todesschwadronen gegründet, eine Mischung aus Zivilgardisten, Militärs, Ultrarechten und Söldnern, die ETA-Flüchtlinge verfolgten und ermordeten. Die Regierung Goznalez forderte die Auslieferung, Frankreich weigerte sich und hatte dafür den ultrarechten Anschlagsterror im Haus. (1)
“Viele verwechseln Deportierte mit Flüchtlingen”, stellt die Buch-Autorin Panisello gleich zu Beginn ihrer Buchvorstellung im Mai 2021 im Kulturcafé BIRA in der Altstadt von Bilbao fest. Sie nennt Namen. “Mehrfach habe ich gehört, dass Joseba Sarrionandia beim Thema Deportation ins Spiel gebracht wird, aber das ist nicht richtig. Auch wenn sich der Begriff in diesem Zusammenhang etwas seltsam anhört, Sarrionandia ist sozusagen ‘freiwillig’ ins Exil gegangen”, bekräftigt Susana Panisello ihre Erfahrung bei der Arbeit zu ihrer Doktorarbeit. (2) (3)
Todesschwadronen und Deportation
Auf verschiedenen Wegen erreichten die spanischen Sozialdemokraten in den frühen 1980er Jahren, Frankreich mit dem Sozialdemokraten Francois Mitterand zur Deportation zu bewegen, für die es im Lande der Jakobiner eine gesetzliche Grundlage aus dem Jahr 1945 gab: staatsgefährende Subjekte sollten entfernt werden. Zu Beginn ihrer Forschung ging die Autorin davon aus, dass diese Deportationen eine illegale Praxis darstellten. Sie musste sich eines Besseren belehren lassen und entdeckte, dass hinter der Praxis, von der mehr als 70 Personen betroffen waren, ein ausgeklügelter Bezahlungsmodus stand. Denn die “Aufnahme-Länder” boten diese “Dienstleistung” natürlich nicht umsonst. Frankreich war die deportierende Staat, Spanien zahlte die Rechnung, Tatsache ist, dass aus Spanien mangels rechtlicher Grundlage nie jemand deportiert wurde. Was auch nicht notwendig war, denn hier herrschten die Anti-Terrorismus-Gesetze und alle greifbaren Verdächtigen wanderten in den Knast.
Die “Bezahlung” für die Deportationen fand auf zwei Ebenen statt. Einmal gegenüber Frankreich, zweitens gegenüber den Ausnahmeländern. Dokumente, die eine direkte Bezahlung beweisen, existieren verständlicherweise nicht. Deshalb erforderte es für Susana Panisello Sabaté eine akribische Arbeit, Fälle von Deportation mit zwischen-staatlichen Wirtschafts-Verträgen in Einklang zu bringen. “Wenn der spanische Staat seine Armee modernisierte, gingen die Aufträge immer an Frankreich, obwohl aus England oder Deutschland bessere Angebote auf dem Tisch lagen”, so die Autorin.
Bezahlung auf dunklen Wegen
Die Bezahlung der kooperierenden “Entwicklungsländer” wurde über Entwicklungshilfe-Projekte abgewickelt. Wiederholt konnte Susana Panisello feststellen, dass sich Momente von Deportationen exakt mit Entwicklungshilfe-Transfers deckten. Ein weiterer Bezahlungsweg waren die legendären Geldkoffer, die mit Mitteln aus staatlichen Geheimfonds gefüllt wurden. Aus diesen Fonds, deren Existenz dem spanischen Parlament vorenthalten blieben, wurden auch die Todesschwadronen finanziert, wie sich bei Prozessen Ende der 1990er Jahre herausstellte (4). Ein besonders deutliches Beispiel ist jenes eines Entwicklungshilfe-Projekts, dessen Finanzierung die Regierung der Kapverden be der spanische Regierung beantragt hatte. Zwei Mal wurde es abgelehnt, kurz nach der Deportation von Alfonso Etxegarai wurde es genehmigt. Einige der Entwicklungshilfe-Zahlungen wurden auch für militärische Zwecke benutzt.
Lebensbedingungen in der Deportation
Von den ursprünglich 70 Deportierten lebt heute nur noch eine Handvoll in ihren Zwangs-Wohnorten. Zweifellos waren die Lebensbedingungen in den einzelnen Ländern ziemlich unterschiedlich. Die damaligen Deportations-Länder hatten eines gemeinsam: sie wurden in jener Zeit von sozialdemokratischen Regierungen verwaltet, dazu kamen Kuba und Algerien als sozialistische Länder. “Man traf sich bei Tagungen der Sozialistischen Internationale, dort wurden die informellen Absprachen getroffen”, so Susana Panisello.
In einigen der Deportationsländer standen die Betroffenen direkt unter polizeilicher Bewachung oder Hausarrest, oder sie wurden kontrolliert. Sie verfügten über keine Pässe und waren somit ungeschützt und konnten nicht reisen. In Kuba war die Situation unterschiedlich, dort konnten sich die Deportierten in die Gesellschaft integrieren und teilweise eine neue Existenz mit Familie aufbauen. Dass Kuba überhaupt auf die Liste der Aufnahmeländer kam, wurde bei der Bilbao-Veranstaltung hinterfragt, immerhin fiel der Beginn der Deportationen in die Endzeit des Kalten Krieges und Kuba war enger Verbündeter der Sowjetunion. Susana Panisello erklärte dazu, Fidel Castro sei zu Beginn nicht bereit gewesen, Deportierte aufzunehmen, bei einem Spanien-Besuch sei er jedoch überzeugt worden. Näheres ist nicht bekannt, auch nicht, ob im Fall Kubas ebenfalls Gelder geflossen sind.
Etxegarai – Der bekannsteste Fall
Der bekannteste Fall eines aus Frankreich Deportierten ist jener von Alfonso Etxegarai Atxirika. Bekannt wurde er durch sein Buch “Regresar a Sara – Testimonio de un deportado vasco” (Rückkehr nach Sara – Zeugnis eines baskische Deportierten) (5). Die baskischen Jungfilmer Josu Martinez, Txaber Larreategi und Hibai Castro drehten im Jahr 2010 einen Film über sein Schicksal und besuchten ihn dafür in seinem Deportations-Ort. Etxegarai hatte das Glück, dass seine Freundin und spätere Ehefrau Kristiane Etxaluz ihn mehr als 25 Jahre lang regelmäßig besuchte und das Thema der Deportation aktuell hielt. (6)
Alfonso Etxegarai, Jahrgang 1958 und aus dem bizkainischen Küstenort Plentzia stammend, verdingte sich mit 18 Jahren als Arbeiter in dem im Bau befindlichen Atomkraftwerk Lemoiz (span: Lemoniz), das zum Ursprung der baskischen Anti-AKW-Bewegung wurde. Er war bei der Gewerkschaft LAB aktiv und zudem Freiwilliger bei der Untergrund-Organisation ETA, die mehrere teilweise tödliche Anschläge gegen das AKW verübte. Als der Kollege, mit dem zusammen er 1978 an einem Angriff gegen die Baustelle beteiligt war, von der Guardia Civil erschossen wurde, musste er nach Iparralde ins französische Baskenland flüchten. Dort erlebte er nach 1983, wie verschiedene politische Flüchtlinge, auch auch verwechselte Personen von den spanischen GAL-Todesschwadronen umgebracht wurden (7).
Als die französische Regierung dem spanischen Druck nachgab und mit Deportationen begann, wurde 1985 auch Alfonso Etxegarai deportiert, in seinem Fall nach Quito in Ecuador. Dort wurde er mit einem anderen Deportierten unter Bewachung festgehalten. Nachdem die spanische Polizei die beiden in Ecuador folterte, wurde der dortigen Regierung die Geschichte zu heiß, sie veranlasste den Weitertransport der beiden. Etxegarai wurde nach Sao Tomé verschubt, wo er 35 Jahre festsaß, bevor er von der französischen Regierung die Erlaubnis zur Rückkehr erhielt. Nach Spanien einreisen kann er nicht. Im vergangenen Pandemie-Jahr stellte dasselbe Filmteam mit “Caminho Longe” (Langer Weg) einen Dokumentarfilm über die Rückkehr von Etxegarai vor.
Rückkehr-Optionen
Eine mögliche Rückkehr war immer problematisch, weil in den meisten Fällen unklar war, was die Rückkehrer von Seiten der spanischen Justiz zu erwarten hatten. Die arbeitete mit juristischen Tricks und schaltete die Option aus, dass bestimmte Verbrechen oder Vergehen nach einer gewissen Zeit verjähren. Stattdessen wurden im Zweifelsfall längst eingestellte Verfahren aus den 1980er Jahren wieder eröffnet.
Manche Deportierten beauftragten Anwälte, um die juristische Situation im spanischen Staat überprüfen zu lassen, denen wurden alle erdenklichen Steine in den Weg gelegt. Aber auch jene Deportierten, die in ihrem Ursprungsland keine juristische Verfolgung mehr zu befürchten hatten, mussten sich eine mögliche Rückkehr sehr gut überlegen. Auf Kuba lebende Deportierte dürften zwar konsequenzlos zurückkehren, sie könnten dann jedoch nicht mehr nach Kuba zurück. Wer dort Familie hat, überlegt sich das zweimal. Zehn der Deportierten starben in ihrem Zwangsexil.
Ende der Zahlungen
Fünf afrikanische und fünf lateinamerikanische Staaten wurden zu Aufnahme-Ländern für Aktivist*innen, die von Frankreich im Auftrag Spaniens deportiert wurden: Kuba, Ecuador, die Dominikanische Republik, Venezuela und Panama auf der amerikanischen Seite; Gabun, Algerien, Sao Tome, Kapverden und ein weiteres Land auf dem Südkontinent.
Jose Maria Aznar beendete die Kompensations-Zahlungen nach 1998, als er nach Felipe Gonzalez die Regierung übernahm. Man forderte von den Ländern eine Auslieferung, die meisten lehnten jedoch ab. Nur die Dominikanische Republik ließ sich auf die Auslieferung von drei Personen ein. Die Antwort aus Kuba hingegen war klar: “Wir liefern nicht jene aus, die ihr selbst vor fünfzehn Jahren zwangsdeportiert habt”.
Auch Frauen deportiert
Unter den Deportierten waren auch Frauen, erklärt Susana Panisello, die große Mehrheit waren jedoch Männer. Deshalb sei der Titel des Buches in der männlichen Form gewählt worden (los deportados – auf Deutsch geschlechts-neutral: die Deportierten). Ob sie angesichts ihres doch etwas extravaganten Themas für die Doktorarbeit nicht mit negativen Reaktionen konfrontiert gewesen sei, wird sie gefragt. Etwas wie Drohungen habe sie nie erlebt, auch wenn sie von ihren Doktorant*innen-Kolleg*innen immer schräg betrachtet worden sei. Dass alle anderen für ihre Arbeiten Stipendien erhielten – außer ihr – war allerdings auffällig.
ANMERKUNGEN:
(1) Txertoa-Verlag 2010: “Los deportados de ETA – Los olvidados del conflicto” (Die Deportierten von ETA – Die Vergessenen des Konflikts) (LINK)
(2) Joseba Sarrionandia: Als ETA-Gefangener flüchtete Sarrionandia 1985 aus dem Gefängnis und lebte mehr als 30 Jahre an unbekanntem Ort, bevor er 2021 zu Besuch in seine Heimatstadt Irureta zurückkehrte. (LINK)
(3) BIRA: Seit fünf Jahren existierendes gemeinnütziges Kulturcafé in der Altstadt Bilbaos zur Förderung der baskischen Sprache und Kultur (LINK)
(4) GAL – Grupos Antiterroristas de Liberación (Antiterroristische Befreiungs-Gruppen): Von der spanischen Regierung aufgestellte Todesschwadrone, mit dem Ziel, das baskische Exil in Iparralde (Frankreich) zu bedrohen und zu eliminieren. / Artikel: “Das Monbar Attentat 1985 – Todesschwadrone in Iparralde aktiv“, Artikel Baskultur.info 2018-10-17) (LINK) Artikel: “Freund der Terrorschwadrone – Spanischer Ex-Präsident beschuldigt“ Baskultur.info, 2020-06-26 (LINK)
(5) Alfonso Etxegarai: “Regresar a Sara. Testimonio de un deportado vasco” (Rückkehr nach Sara. Zeugnis eines baskischen Deportierten), Verlag Txalaparta 1995 (LINK)
(6) Sagarren Denbora – Zeit der Äpfel. Baskischer Film aus dem Jahr 2010 von Josu Martinez, Txaber Larreategi und Hibai Castro, der das Deportations-Schicksal von Alfonso Etxegarai schildert. Ein Großteil der Aufnahmen wurde auf der Insel Sao Tomé gedreht, dem Deportations-Ort von Etxegarai. (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Deportation (FAT)
(2) Deportation (FAT)
(3) Caminho Longe
(4) Sagarren Denbora (IPES)
(5) Caminho Longe
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2021-05-25)