11m01193 Tote in Madrid

Bei verheerenden Attentaten in Madrid am 11. März 2004 starben 193 Personen, mehr als 2.000 wurden verletzt. In verschiedenen Stadtzügen waren tödliche Bomben zur Explosion gebracht worden. Das Attentat, an einem Jahrestag des Angriffs auf die Twin Tower in New York, beherrschte weltweit die Schlagzeilen, in Spanien und im Baskenland auf ganz besondere Weise. Denn die spanische PP-Regierung Aznar machte die baskische Untergrund-Organisation ETA für die Anschläge verantwortlich. Eine gezielte Lüge.

Vier Tage vor den Parlamentswahlen im spanischen Staat wurde ein Anschlag auf Stadtzüge in Madrid zum brutalen Massaker. Obwohl schnell Anzeichen vorlagen, dass es sich um islamistische Täterschaft handelte, wurde ETA verantwortlich gemacht. Als die Wahrheit ans Licht kam, bezahlte die postfranquistische Rechte ihre Lügen mit einer deftigen Wahlniederlage.

Die Sicherheitskräfte der Aznar-Regierung versuchten, die von Beginn an vorliegenden Beweise für eine Beteiligung islamistischer Täter an dem Massaker zu vertuschen. Angesichts der bevorstehenden Parlamentswahlen spielten sie auf Zeit. Nur der konsequenten Arbeit linker Medien war es zu verdanken, dass es bereits nach drei Tagen zu öffentlichen Protesten gegen die falsche Informations-Politik der Rechten kam. Bis zum 11. März 2004 hatte niemand im Staat auch nur den geringsten Zweifel, dass Aznars Postfranquisten mit dem Nachfolge-Kandidaten Rajoy an der Spitze auch diese Wahlen für sich entscheiden würden. Doch die ans Licht kommende Wahrheit, dass es nicht ETA gewesen war, hatte für die Rechte ein Wahldebakel zur Folge. Gewählt wurden die Sozialdemokraten mit Jose Luis Rodriguez Zapatero.

11m02Was sich in den vier Tagen nach dem Attentat im Baskenland abspielte, beschreibt die Tageszeitung Gara (bask: Wir sind) in einem Artikel zum Jahrestag: “88 Stunden Rettung der Wahrheit unter einem Mantel von Leichen und Manipulationen. Die Tage von Donnerstag, dem 11. bis Sonntag, dem 14. März 2004 waren die intensivsten in zwanzig Jahren Gara. Alle denkbaren Aufgaben des Journalismus wurden in einem erdrückenden emotionalen Klima auf die Probe gestellt. Dies ist die Chronik dieser 88 Stunden“. (1)

Nach zwei Wochen Wahlkampf mit intensiver Polemik ist das Erwachen besonders abrupt. Das Mobiltelefon spuckt die ersten Anzeichen des Dramas aus, als es noch nicht einmal 8 Uhr morgens ist. Explosion in Madrid. Mehrere Tote in einem Zug. Eile ist angesagt. Um 9 Uhr gehen in der Redaktion bereits die Lichter an. Ein weiterer Schrecken: 30 Tote. Der baskische Lehendakari-Ministerpräsident Ibarretxe urteilt mit Blick auf ETA: "Das sind keine Basken, das ist Ungeziefer". Alle denken an den Lieferwagen von ETA, der zwölf Tage zuvor in Cuenca (Zentralspanien) mit 500 Kilo Sprengstoff abgefangen wurde. Und drei Monate zuvor ein angeblicher Plan, einen Anschlag am Madrider Bahnhof Chamartín zu verüben.

Es dauert eine Weile, bis die Warnung von Arnaldo Otegi (Sprecher der baskischen Linken) über einen kleinen Radiosender verbreitet wird: Es sieht nach einem islamistischen Anschlag aus. Die Tageszeitung Gara wird langsam zur Protagonistin: Ein Anruf der Guardia Civil, ob es eine Warnung von ETA gegeben hätte, klare Antwort: Nein. Weitere Informationen aus der spanischen Hauptstadt: Es kam zu mehreren Explosionen, willkürlich und in Vierteln wie dem Madrider Pozo del Tío Raimundo. Das kann nicht sein. Die Dramatik überschlägt sich, die Angst wächst: Es sind nicht mehr 30, sondern 60 Tote. Die ersten Bilder von gesprengten Zügen und Leichen auf den Gleisen erschüttern die Nachrichten-Redaktion. Aber sie führen nicht zu einer Lähmung der Redakteur*innen, wie es zweieinhalb Jahre zuvor passiert war, vor der halluzinierenden Szene des Einsturzes der Zwillingstürme in New York.

Bei Gara hat gerade die Leitung gewechselt, Josu Juaristi ist der neue Direktor. Es ist schwieriger denn je, Entscheidungen zu treffen, aber es werden einige Kriterien festgelegt, die sich als sehr angemessen herausstellen: das Ausmaß des Dramas zu darzustellen (34 Seiten, der größte Umfang in der Geschichte dieser Zeitung), das Drama in einen globalen Kontext zu stellen und an der Position der Redaktion keinen Zweifel zu lassen. Der Beginn: "Das gestern in Madrid verübte Massaker ist eine völlig unakzeptable Barbarei, wer auch immer die Täter sein mögen".

Es sind nicht mehr 60, es sind 100, dann 150 und schließlich 190 Tote. Die Zahlen erzeugen Schwindel, der Vormittag vergeht sehr langsam. Um 13 Uhr bekräftigt Otegi, dass er die Verantwortung von ETA nicht in Betracht zieht, "nicht einmal als Hypothese". Doch kaum hat er zu Ende geredet, da erscheint der spanische Innenminister Angel Acebes auf dem Bildschirm: es war ETA. Alle Journalist*innen mit einer gewissen Erfahrung wissen, dass die Art des Sprengstoffs die Schlüsselinformation darstellt. Acebes sagt dazu nichts. Es spricht sich herum, dass der katalanische ERC-Politiker Josep Lluis Carod-Rovira in Erfahrung bringen konnte, dass internationale Spionagedienste zweifelsfrei auf eine islamistische Täterschaft hinweisen.

Es gibt keinen Hunger, nur ein Bedürfnis nach Sauerstoff. Doch die der Nachrichten-Redaktion vorliegenden Informationen sind begrenzt: Spanische Agenturen sprechen von Tytadine, dem von ETA häufig benutzten Sprengstoff. Aznar präzisiert nichts. Die Existenz von Tytadine ändert alles – aber ist es möglich, dass das jemand erfunden hat? Die Nachrichtenticker werden von oben nach unten durchgesehen: nirgends wird angegeben, wer diese wichtige Information bestätigt. Ist es möglich, dass die "Anti-Terror-Quellen" lügen?

Der Nachmittag ist schrecklich, erdrückend, ein Auge auf dem Computer-Bildschirm, das andere auf dem Fernseher. Die Gerüchte häufen sich und zwingen uns dazu, die Glaubwürdigkeit jeder einzelnen Quelle noch genauer als bisher zu prüfen. Gara schaut auf alle Quellen und alle schauen auf Gara: ein Anruf von ETA könnte alles aufklären. Als sich dieser schreckliche Tag seinem Ende zuneigt, überschlagen sich die Ereignisse. Um 20.15 Uhr bestätigt Innenminister Acebes den Fund eines Korans in einem bei dem Massaker benutzten Lieferwagen. Um 21.30 Uhr stellt sich heraus, dass ein arabisches Medien-Unternehmen in London eine Bekenner-Erklärung erhalten hat.

Freitag, 12. März

11m03Die erste Information am Zeitungskiosk: zweideutige Schlagzeilen in Medien wie in der Tageszeitung "El País", die ihre Abendausgabe am Vortag mit "ETA-Massaker in Madrid" überschrieben hatte. Der Tag ist zu lang, um den Schwindel aufrechtzuerhalten. Die Weltbörsen fallen, das Kapital hat Angst vor ETA? Nein, vor Al-Qaida. PP-Minister Acebes zögert: "Wie kann es sein, dass nach 30 Jahren von Anschlägen ETA nicht an erster Stelle der Verdächtigen steht?“

Es ist 18 Uhr, als Gara den am vielerwarteten Anruf erhält. Ungewöhnlicherweise bat der Anrufer darum, mit der Redaktion zu sprechen und seine Stimme aufzeichnen und überprüfen zu lassen: "ETA trägt keine Verantwortung für die gestrigen Anschläge". Er wendet sich auch an das baskische Fernsehen EITB, dort wird bestätigt, dass es sich um denselben Anrufer handelte, der in einem kürzlich veröffentlichten Video der Organisation ETA sprach.

Es kommt zu Demonstrationen, zu denen "die Opfer und die Verfassung" aufgerufen haben. Sie rufen: "Wir wollen die Wahrheit wissen". Unterdessen räumt Minister Acebes bei seinem vierten Auftritt ein, dass es sich beim Sprengstoff des Massakers nicht um Tytadine, sondern um Dynamit handelt.

Samstag, 13. März

Das Trauma und der Schmerz sind noch da, aber die Spannung der Ungewissheit hat sich gelegt. Nach 48 Stunden von enormem Druck beginnt der Morgen etwas ruhiger, mit der Befriedigung, etwas zur Wahrheitsfindung beigetragen und die Informations-Aufgabe eines Mediums erfüllt zu haben. Einige Redakteure können sich sogar noch freinehmen vor dem Wahlsonntag, der auch ein starker Wahlsonntag sein wird. Doch am Mittag kehrt der Schatten zurück, die Betroffenheit kehrt zurück, diesmal gemischt mit Wut. Ein Nationalpolizist und sein Sohn (Valeriano de la Peña und José Miguel) töten in Iruñea-Pamplona den Bäcker Ángel Berrueta. Zuvor ging die Ehefrau und Mutter der beiden durch die Straßen und forderte die Ladenbesitzer auf, Plakate aufzuhängen, auf denen ETA des Massakers beschuldigt wird. Der abertzale Berrueta weigert sich, das bedeutet sein Todesurteil, er wird von den Männern erschossen. Gara ist innerhalb weniger Minuten am Tatort. Die Spannung ist unerträglich: "Sagt ihr jetzt wieder, dass es ETA war?" "Wie leicht es doch ist, einen Bäcker zu töten!“ Ein Polizist droht, auf die Demonstranten einzuschlagen. Dann setzen sie an der Tür des Bestattungsinstituts ihre Schlagstöcke ein.

Das Schreiben jenes Teils der Chronik ist besonders schmerzhaft, aber mit der letzten Zeile ist der Tag noch nicht zu Ende. Kurz vor Mitternacht erhält Gara ein Kommuniqué von ETA erhielt, in dem die Organisation betont, dass sie nichts mit dem Massaker zu tun habe, dass es vielmehr Aznar zuzuschreiben sei: es sei der Preis für die Unterstützung des US-Präsidenten Bush im Irakkrieg.

Die Ausgabe wird in den frühen Morgenstunden eilig geschlossen, erst dann können wir im Detail lesen, dass drei Marokkaner und zwei Hindus wegen des Massakers verhaftet wurden, wobei Minister Acebes die ETA-Hypothese offen lässt. Als wir die Redaktion in Iruñea zu später Stunde verlassen, stehen Dutzende von Jugendlichen vor dem Sitz der UPN-PP und rufen, dass sie die Wahrheit wissen wollen, bevor sie wählen gehen.

Sonntag, 14. März

11m04Wahltage haben üblicherweise immer nur ein Thema, aber dieses Mal nicht. Madrid bebt weiter, die IFEMA-Messe hat sich in eine riesige Leichenhalle verwandelt. Auch in Iruñea, wo Gara die Aussagen von Ladenbesitzern zitiert, die Ángel Berrueta sterben sahen: "Er wollte nicht einmal diskutieren".

Doch eine Tragödie führt zur nächsten: Um 12.30 Uhr beginnt in Hernani (Gipuzkoa) ein Protestmarsch wegen des Mords in Iruñea, die baskische Ertzaintza-Polizei setzt Gewalt ein, die Demonstrantin Kontxi Sanchiz erleidet einen Herzinfarkt. Die Familie bittet um Hilfe, aber ein Polizist antwortet: "Das ist mir egal". Die Hexenjagd der PP hat zwei Todesopfer gefordert.

Der Tag endet erneut in den frühen Morgenstunden. Über die Wahlurnen wurde Aznar-Nachfolger Rajoy in die Wüste geschickt. Doch gibt es weder den Willen noch die Kraft, das Ergebnis und die Abwahl der Postfranquisten zu feiern, nach diesen 88 Stunden Aufregung, die nie vergessen werden können.

Nachbemerkung:

Die sozialdemokratische PSOE gewann die Wahl mit 42,6% der Wahlstimmen vor der rechten PP mit 37,7%. Der als krasser Außenseiter angetretene Jose Luis Rodriguez Zapatero wurde zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Die spanische Rechte, im Zusammenspiel mit der rechten Presse (allen voran El Mundo, ABC und La Razón), gaben die Legende vom ETA-Attentat nie auf. Auch nicht nach ausführlichen Ermittlungen und einem Gerichts-Verfahren, bei dem sich herausstellte, dass spanische Mittelsmänner den Sprengstoff besorgt hatten. Die Attentäter und ihre Helfer wurden verurteilt, ein islamistisches Kommando entzog sich der Verhaftung durch eine Suizid-Bombe.

Nur zwei Jahre später sollte Zapatero komplizierte Friedens-Verhandlungen mit ETA erleben, die letztlich scheiterten und mit dem Attentat gegen das T4-Parkhaus am Flughafen Madrid ihr Fanal fanden. Ab 2009 ließ ETA die Waffen ruhen, 2011 erklärte die Organisation nach der Aiete-Friedens-Konferenz einen definitiven Waffenstillstand.

ANMERKUNGEN:

(1) “88 horas rescatando la verdad bajo un manto de cadáveres y manipulaciones” (88 Stunden Suche nach Wahrheit unter einem Mantel von Leichen und Manipulationen), Tageszeitung Gara 2023-03-11 (mit redaktionellen Ergänzungen) (LINK)

ABBILDUNGEN:

(1) Gara-Titelblatt (gara): Titelseite von GARA am 13. März, mit dem Dementi von ETA

(2) Zerstörte Züge (elpais)

(3) Titelblatt El Pais (elpais)

(4) Opfer-Pressekonferenz (gara)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-03-12)

Für den Betrieb unserer Webseite benutzen wir Cookies. Wenn Sie unsere Dienstleistungen in Anspruch nehmen, akzeptieren Sie unseren Einsatz von Cookies. Mehr Information