Nachhilfe von der UNO
Wieder einmal geht es im spanischen Staat um die historische Erinnerung, um nicht aufgearbeitete Verbrechen während des Krieges von 1936, um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den folgenden 40 Jahren Diktatur. Die Regierungen nach Franco hatten für den künftigen Staat nach 1975 zwar demokratische Institutionen gewählt, doch blieben die politischen, polizeilichen, militärischen und juristischen Vertreter alle in ihren Funktionen. Auf Francos Befehl wurde die Monarchie wieder eingeführt.
(11.10.2014) Dass die Vertreter der spanischen Rechts-Regierung nicht zur Ruhe kommen, dafür sorgt der Sonderbeauftragte der Vereinten Nationen (UNO), der Kolumbianer Pablo de Greiff, der zum wiederholten Mal seinen Finger in eine schon so lange offene Wunde legte. Das Ganze nicht ohne einen gewissen pädagogischen Impetus, um von den Spaniern nicht erneut krass zurückgewiesen zu werden. Greiffs Aufgabe ist es, nach den Opfern des Franquismus zu fragen, nach den Leichen, die nach wie vor in unbekannten Massengräbern liegen, nach den Opfern von Zwangsarbeit, die nie entschädigt wurden, und nach den Angehörigen der Opfer, die traumatische Folgen zu bewältigen hatten. Bei der Arbeit des Sonderbeauftragten der UNO geht es um die Umsetzung der von allen demokratischen Staaten vereinbarten Grundsätze von Wahrheit, Nicht-Wiederholung, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Auf 20 Seiten Bericht sieht er diese Prinzipien im spanischen Staat nicht gewährleistet, auch fast vierzig Jahre nach dem Tod des Diktators, der friedlich im Bett starb und nicht wie andere Dikatoren abgesetzt wurde.
Einerseits lobt Greiff die Modernisierung des spanischen Militärs und seine reduzierte gesellschaftliche Präsenz. andererseits stellt er fest, dass es im Bereich der Justiz zu keinen ausreichenden Reformen gekommen sei. So fordert er zum Beispiel eine "Neuinterpretation" des Amnestie-Gesetzes von 1977. Durch dieses Gesetz waren zwar die meisten politischen Gefangenen des Franco-Regimes freigekommen, insbesondere Gefangene von ETA und anderen militanten linken Gruppen. Dies hatte eine breite Massenbewegung auf der Straße gefordert, insbesondere im Baskenland. Gleichzeitig sicherte das Gesetz jedoch allen Kriegsverbrechern und Folterern aus der Diktatur Straffreiheit zu. "Wer sich die Protokolle der damaligen Parlaments-Diskussionen anschaut, sieht sofort, dass erst kurz vor Verabschiedung des Gesetzes ein Paragraf eingeführt wurde, der den franquistischen Beamten Immunität für ihre Taten einräumte". Tatsache ist, dass die große Mehrheit der Leute auf der Straße, die die Amnestie gefordert hatten, sich in keinster Weise bewusst waren, was sie mit ihren Mobilisierungen im Nebeneffekt erreicht hatten.
Interessanterweise hat die spanische Justiz dazu beigetragen, dass eine vergleichbare Straffreiheit im Falle Chile und Pinochet zu Fall gebracht wurde, über den Weg der internationalen Gesetzgebung. Gleiches fordert nun eine argentinische Richterin von den spanischen Behörden. Greiff fordert die Franquismus-Opfer auf, nicht müde zu werden in ihren Bemühungen um Gerechtigkeit. Die spanische Justiz erinnert er an ihre internationalen Verpflichtungen, die zum Beispiel eine Auslieferung von Verbrechern gegen die Menschlichkeit vorsehen. Das fordert auch die Argentinierin Maria Servini im Fall von zwei berüchtigten spanischen Folterern. "Diese Forderung kann nur dann abgeleht werden, wenn die spanische Justiz selbst die Vorgänge untersucht und vor Gericht verhandelt", lauten Greiffs Belehrungen. Doch unternimmt die Justiz weder das Eine noch das Andere. Lediglich Gerichte im Baskenland unterstützen die Richterin, indem sie Zeugen vorladen, die als Opfer des Franquismus vernommen werden können.
Dabei sind die spanischen Reaktionen auf Greiffs Forderungen und Empfehlungen alles andere als rational. In einer ersten Antwort war davon die Rede, die UNO hätte keine Forderungen zu stellen, weil sie (zur Zeit der Kriegsverbrechen von) 1936 noch gar nicht existierte. Eine zweite Version war, dass ein bedeutender Teil der Opfer des "Bürgerkriegs" nicht die Meinung der Opfer-Verbände teile, mit denen der UN-Berichterstatter Kontakt hatte. Voraussetzung für die Glaubhaftigkeit einer solchen Feststellung wäre, dass die spanische Rechte Kontakt gepflegt hätte mit Franquismus-Opfern, sie nach ihrer Meinung gefragt und statistisch erfasst hätte – all das ist jedoch nicht geschehen. Die spanische Botschafterin beim UN-Rat für Menschenrechte führt dies folgenermaßen aus: "Dieser andere Teil der Opfer, die der Berichterstatter unterschlägt, sind Personen, die der Überzeugung sind, dass ihre Wiedergutmachung darin besteht, dass sich im Staat die Demokratie konsolidiert hat". Die mehr als 10.000 baskischen Folteropfer aus der Zeit der "Demokratie" sind da sicher anderer Meinung. Dem widersprechen würden auch Hunderte von Arbeitern, die während des "demokratischen Übergangs" (Transición) bei politischen Streiks und Demonstrationen von der Polizei ermordet wurden – wenn sie denn noch widersprechen könnten.
Wahrheit
Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, dass in Hunderten oder Tausenden von kleinen und großen Massengräbern noch ca. 110.000 Leichen aus der Zeit des Krieges von 1936 liegen. Viele dieser Orte sind bekannt, staatlicherseits wird jedoch nichts unternommen, lediglich einige autonome Regionen wie das Baskenland oder Andalusien bemühen sich um Exhumierungen. Bei den von der UNO als "Verschwundene" bezeichneten Personen handelt sich entweder um republikanische Milizionäre, die bei Kriegshandlungen zu Tode kamen, oder um Zivilpersonen, die nach Ende der militärischen Auseinandersetzungen massenweise standrechtlich erschossen wurden. Insbesondere Lehrer war in großer Zahl davon betroffen, ob sie nun Republikaner waren oder nicht. Im baskischen Navarra zum Beispiel gab es überhaupt keinen Krieg, weil sich Politik, Militärs und Polizei sofort den putschenden Franco-Generälen angeschlossen hatten. Dennoch kam es sofort zu Massen-Erschießungen, deren Gesamtzahl auf über 3.500 geschätzt wird. Zum Opfer fiel dem faschistischen Mob somit mehr als 1% der damaligen Bevölkerung, manche Experten bezeichnen Liquidierungen in dieser Größenordnung als Genozid.
Greiff bestätigt, dass es viel Information gäbe über die franquistische Zeit, jedoch nicht geordnet und zugänglich. Es gäbe keine offiziellen Zählungen von Opfern und keine Gesamtzahlen von Opfern von Krieg und Diktatur. Keine Untersuchungen über Zwangsarbeit, entführte Kinder, Repression und die Rolle von Privatunternehmen bei Menschenrechts-Verletzungen. Nach wie vor existieren Archive der Diktatur, die nicht zugänglich sind, weder für Opfer noch für Historiker/innen. Geschlossen bleiben sie aus Gründen der "nationalen Sicherheit". Bei Exhumierungen von illegal Erschossenen aus Massengräbern habe der Staat so gut wie vollständig versagt, in vielen Fällen müssten die Angehörigen dies in die eigene Hand nehmen. Greiff empfiehlt, die Opfer ernst zu nehmen, die vorhandene Information zu systematisieren, Exhumierungen in staatliche Hände zu nehmen und die geheimen Archive zu öffnen.
Nicht-Wiederholung
Obwohl Franco im November 1975 starb und der sogenannte demokratische Übergang in den folgenden vier Jahren stattfand, gab es bis Mitte der 90er Jahre fast keine Stimmen, die Exhumierungen, Wiedergutmachung und Gerechtigkeit forderten. Die Grund liegt darin, dass – anders als Greiff mit seinen lobenden Worten vermitteln will – die alte militärische Garde des Franquismus immer wieder mit den Panzern drohte, wenn Bewegungen auf der Straße es mit der Demokratie zu genau nahmen. Vierzig Jahre bleierne Zeit hatten zu einem Trauma geführt, das auch nach dem Tod des Diktators von fortdauernder Angst geprägt war, die Geschichte könnte sich wiederholen.
Im Gegensatz dazu hebt Greiffs Bericht lobend hervor, dass trotz Putschversuchen während der Zeit der Übergangszeit das Militär modernisiert und in die NATO integriert wurde. Das gälte jedoch nicht für die Justiz. Bei der Ausbildung werde das Thema Menschenrechte und Diktaturopfer sträflich vernachlässigt. Es überrasche, dass die Justiz ihren Verpflichtungen, international definierte Verbrechen zu verfolgen, nicht nachkomme.
Dagegen empfiehlt der Kolumbianer, die Frage der franquistischen Symbole und Monumente sowie Francos Mausoleum (Tal der Gefallenen) zu überdenken und die Ausbildung von Beamten und Juristen zu ändern.
Gerechtigkeit
In dieser Frage sieht Greiff die größten Defizite, wenn es um Verletzungen der Menschenrechte geht. Auch Staaten mit vergleichbaren Amnestie-Gesetzen hätten juristische Wege gefunden, solche Verbrechen zu verfolgen. Die spanische Justiz selbst habe in den Fällen Argentinien und Chile dazu beigetragen, die sogenannten "Schlusspunkt-Gesetze" zu Fall zu bringen. Er kritisiert, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht oder ungenügend untersucht und zu den Akten gelegt würden. Auch die Rückschritte im Bereich der universellen Gerichtsbarkeit bemängelt er. Greiff schlägt vor, jene Anteile des Amnestie-Gesetzes zu annullieren, die internationalen Vereinbarungen widersprechen. Angehörige der Justiz sollen sensibilisiert werden für Menschenrechte und zu einer stärkeren Zusammenarbeit mit internationalen Instanzen verpflichtet werden.
Wiedergutmachung/Reparation
Greiff erinnert daran, dass viele Opfer-Verbände sich nach wie vor als Opfer zweiter Klasse fühlen, zum Beispiel im Vergleich mit Opfern der unterschiedlichen Formen des Terrorismus. Er fordert die Regierung auf, das Unrecht und die Verbrechen aus der Zeit des Krieges und der Diktatur anzuerkennen, Unrechts-Urteile der politischen Sondergerichte aus jener Zeit aufzuheben, die Menschenrechts-Verletzungen insbesondere Frauen gegenüber genauer zu untersuchen und neue Wege der Wiedergutmachung von Opfern zu gehen.
Quellen:
** Der Text beruht zu großen Teilen auf einem am 6.Oktober 2014 in der baskischen Tageszeitung DEIA erschienenen Artikel mit dem Titel "Las fortalezas de la memoria" (Die Stärken der Erinnerung) von Jurdan Arretxe
** Fotos: Txeng / www.flickr.com