Kontroverse um moderne urbane Kunst
Wer heutzutage durch die baskische Hauptstadt Vitoria-Gesteiz geht, trifft in vielen Stadtteilen auf riesige bunte Graffitibilder, die Wände zieren, die ansonsten grau und trist wären. Eigentlich ein Grund zur Freude. Doch ranken sich um diese Wandgemälde Kommentare zwischen Begeisterung und Polemik. Renommierte Künstler*innen und Architekt*innen kritisieren die neue Stadtgestaltung mit verschiedenen Argumenten. Unklar bleibt indes, ob es um sachliche Argumente geht oder um Einflussverlust.
Die Fülle großer bunter Wandgraffitis in Vitoria-Gasteiz ist Gegenstand einer Kontroverse zwischen etablierten Künstler*innen der Stadt und weniger bekannten aus der Peripherie. Dabei geht es um grundsätzliche Fragen elitärer Kunstauffassungen oder modern-populärer Kunstkonzepte.
Den architektonischen Merkmalen der Stadtlandschaft von Vitoria-Gasteiz wurde in den vergangenen zehn bis zwölf Jahren eine neue Attraktion hinzugefügt: auffällig viele farbenfrohe Wandmalereien. Die meisten dieser Gemälde entstanden nach 2007 an den Wänden verschiedener Häuser in der Altstadt von Vitoria-Gasteiz. Später breiteten sie sich auf weitere Stadtviertel aus. Mittlerweile zieren die Graffitis überall Schulen, Parks und Garagen.
Populäre Wandbemalungs-Fabrik
Die Mehrheit dieser Art urbaner Kunstobjekte wurde über die Organisation „Herri muralgintza lantegiak“ (Populäre Wandbemalungs-Fabrik) gefördert. Dabei wird Wert gelegt auf die Beteiligung der Anwohnerinnen und Anwohner, die Einfluss nehmen sollen auf die lokale Gestaltung und Ausführung. Gleichzeitig wurde die städtische Initiative „Gasteizko Muralen Ibilbidea“ (Rundgang Wandbilder Gasteiz) ins Leben gerufen, die über Stadtrundgänge die Graffitis zugänglich macht und erklärt. Bis vor Kurzem war diese Initiative unumstritten und überaus beliebt. (1)
Die Rundgänge mit Erklärungen zu den Wandbildern werden von einem speziell dafür gegründeten Unternehmen angeboten, das sich IMVG Hiri Margotua nennt. IMVG steht für „Itinerario Muralístico de Vitoria-Gasteiz“ (Rundgang Wandbilder Vitoria-Gasteiz), „Hiri Margotua“ ist baskisch und bedeutet „die bemalte Stadt“. Weitere Information zum Projekt selbst, zu den beteiligten Künstler*innen und Fotos einiger Wandbilder sind auf einer Webseite zu finden (2).
Graffiti-Rundgänge
Seinem Selbstverständnis nach ist das Projekt IMGV für die Stadt ein öffentliches und kommunales Instrument, zu dessen Zielen die Förderung des sozialen Zusammenhalts der Bevölkerung mittels Kunst, die Förderung der Bürgerbeteiligung und die Unterstützung der Künstler*innen und Urheber*innen gehören.
Zu der Initiative gehört, wie erwähnt, nicht nur die Auswahl und Gestaltung der Wände selbst, sondern auch die Organisation von begleiteten Rundgängen. An jedem beliebigen Tag durchkreuzen Gruppen die Altstadt von Gasteiz, betrachten die bemalten Fassaden und lauschen den Erklärungen der Organisator*innen. So gesehen stellen die farbigen Objekte auch eine Attraktion im Tourismusbereich dar.
Das Projekt genießt darüber hinaus die Unterstützung mehrerer öffentlicher und privater Einrichtungen. Einige davon weisen auf ihren Webseiten auf die Initiative hin: die Stadtverwaltung von Gasteiz, deren Jugendabteilung, die Botschaft der USA, eine Sparkasse, die Stiftung der Kathedrale Santa Maria, sowie das Projekt Gauekoak, das kulturelle Aktivitäten in Zusammenarbeit zwischen öffentlicher Verwaltung und Jugendverbänden organisiert.
Die Themen der Wandbilder
Die Themen für die Wandgemälde sind breit gefächert und werden teilweise schon in den Bildtiteln deutlich: bei „Denboraren harira = der Faden der Zeit“ geht es um Textilindustrie; Kontinenteak = Kontinente; „Gasteizko garaipena“ bedeutet „der Sieg von Gasteiz“ mit historischem Bezug; „Zeru eta izarrez estalirik“ = bedeckt von Himmel und Sternen; Gaurik motzena = die kürzeste Nacht; Eskuz esku = von Hand zu Hand; Zer egingo dugu jakindakoarekin? = Was fangen wir mit dem Wissen an? (an der Wand der alten Bibliothek); Itxaropenaren argia = das Licht der Hoffnung; Ura gara = wir sind Wasser; Behin batean bolondresgoa = einmal als Freiwillige.
Nicht nur in der Altstadt, auch außerhalb gibt es eine Reihe von Wandgemälden: im Stadtteil Judimendi ist das Graffiti „Emakumeen murala“ zu finden, das Wandbild der Frauen, in Zabalgana gibt es das „Aniztasuna“, was Freundschaft bedeutet. Im Stadtteil Zaramaga existiert ein ganz besonderes Wandgemälde, das ein ganz düsteres Kapitel der Stadtgeschichte darstellt: den 3. März 1976. Damals, kurz nach dem Tod des Diktators Franco, hatte es in der Stadt einen großen Streik gegeben, viele Arbeiter*innen hatten sich zu einer Versammlung in einer Kirche getroffen. Die von Franquisten kommandierte Polizei ließ scharf schießen, brachte fünf Personen um und verletzte Hunderte. Auf der schmalen Seite eines langen und ca. 40 Meter hohen Wohnblocks (etwa 1000 Meter von der Todesstelle entfernt) wird an diese tragische Geschichte erinnert, für die bis heute niemand die Verantwortung übernehmen musste.
Nicht unterschlagen werden sollen die Wandbilder im peripheren Stadtteil Errekaleor. Dieser Arbeiter-Stadtteil aus den 1950er Jahren sollte nach dem Willen der Stadtverwaltung verschwinden, die 18 großen Gebäude sollten abgerissen werden. Dafür wurden die Bewohner*innen nach und nach umgesiedelt. Bevor der Abriss erfolgen konnte wurde die Hälfte der Wohnblocks jedoch vor mittlerweile fünf Jahren von jungen Leuten und Familien besetzt und wieder mit Leben gefüllt. An den Giebelseiten der Häuser sind heute riesige und anspruchsvolle Wandbilder zu bewundern. (3)
Tradition der Wandbemalung
Die Praxis, Wände als Ausdrucksmittel zu benutzen, ist ungefähr so alt wie die Menschengeschichte, angefangen bei den Höhlenmalereien aus prähistorischen Zeiten. Auch aus Zeiten des römischen Reiches gibt es viele Reste, die die Zeit überdauerten, wie etwa diejenigen, die in Pompeji nach dem Vulkanausbruch verschüttet, bei den archäologischen Ausgrabungen jedoch wieder freigelegt werden konnten. In Pompeji wurden an die 10.000 – nach heutiger Bezeichnung – Graffiti entdeckt. Frühzeitliche Gravuren fanden sich bereits in großer Zahl im alten Ägypten. Damit sind nicht die minutiös ausgestalteten Wandmalereien in Tempeln und Grabstätten gemeint, sondern individuell gekratzte Inschriften, die sich auf Tempeln, in Gräbern, auf Felsen und Statuen befinden. (4)
Aus neuerer Zeit bekannt ist das Graffiti "Victor", das an den Wänden zahlreicher Universitäten zu sehen war und von den bestandenen Prüfungen der Studierenden erzählte. Vor nicht allzu langer Zeit, bevor sich die Gewohnheit ausbreitete, Vorhängeschlösser an Brücken anzubringen, verewigten Liebespaare ihre Treueversprechen mit Messern in Baumrinden.
Graffiti-Bewegung der 1980er Jahre
Dennoch hatte die im letzten Drittel des 20.Jahrhunderts aufgekommene Graffiti-Bewegung keinerlei Vergleiche in der Kunstgeschichte. Die Bewegung entstand in den USA, die ersten Sprayer entwickelten die Gewohnheit, ihre Namen an Wände zu schreiben, bis diese Art der Straßenkunst künstlerisch ausgefeilter wurde und mit der Wandmalerei verschmolz. Ursprünglich wurden nicht nur Wände, sondern in erster Linie Lastwagen, Eisenbahn- und Metro-Waggons bemalt, was vielen Politiker*innen und Stadtverwaltungen nicht wenig Kopfzerbrechen bereitete.
In ihrer Anfangszeit waren Graffitis ein Teil der Subkultur, insbesondere in den großen Metropolen, wo sich Menschen aus den Ghettos im Stadtbild bemerkbar machten. Diese meist nächtliche Aktivität war natürlich illegal, die anonymen Autoren wurden verfolgt und kriminalisiert. Diese Vorzeichen haben sich über die Jahrzehnte verändert, Graffiti ist zu einer Kunstrichtung geworden, der jung verstorbene Jean-Michel Basquiat (5) wird heute in den bekanntesten Museen der Welt herumgereicht. Die Wandgemälde von Vitoria-Gasteiz und vielen anderen Orten bewegen sich auf dieser legalen Ebene.
Es mag paradox klingen, doch einer der weltweit berühmtesten Graffiti-Künstler versucht bis heute, anonym zu bleiben. Der Sprayer zeichnet mit dem Namen Banksy (6) und es ist möglich, dass ausgerechnet er damit begann, die bis dahin eher als störend empfundenen Graffitis „urbane Kunst“ zu nennen. Heute werden die Kunstwerke des unbekannten Banksy von den städtischen Autoritäten geschützt, in mehreren europäischen Städten wurde bereits eine Wanderausstellung mit Werken Banksys gezeigt. Dabei handelt es sich um eine Kunstschau, die der Künstler selbst nie autorisiert hat.
Polemik in Gasteiz
Nachdem diese Art der Wandgestaltung legalisiert und von verschiedenen Institutionen unterstützt wurde, begann im Herbst des Jahres 2018 eine lebhafte Kontroverse um die „heiligen“ Wandmalereien von Vitoria-Gasteiz. Zuerst waren es einige Bildhauer der Stadt, die die Eignung der Wandbemalungen in Zweifel zogen. Eines ihrer Argumente war, die unterschiedlichen Gemälde könnten dem historisch-monumentalen Charakter der Altstadt Schaden zufügen. Damit wurden die Gemälde sozusagen in die Nähe visueller Stadtverschmutzung gerückt.
Weil die Planung der Wandgestaltung kein konkretes Konzept zur Grundlage habe, wurde der Stadtverwaltung vorgeworfen, sie lasse beliebigen Künstler*innen freie Hand, während andere Kreative der Stadt ohne jede Arbeitsmöglichkeit blieben. Kurz, es wurde ein grundsätzlicher Streit provoziert zwischen renommierten städtischen Künstler*innen und weniger bekannten Künstler*innen aus der Peripherie, ein Streit zwischen einem eher elitären Kunstkonzept und populärer Kunstauffassung. Klar ist auf jeden Fall, dass die große Mehrheit der Altstadt-Bevölkerung das Projekt der Wandbemalungen unterstützt und verteidigt.
Kritik von Architektur-Seite
Kurz nach der Kunstkritik wurde die Kontroverse von anderer Seite weiter angeheizt. Diesmal waren es Architektur-Verbände, die kritisierten, dass der lokalen Künstlerin Irantzu Lekue die Gestaltung der Fassade eines Hotels in der Stadt übertragen worden war. Argumentiert wurde aus den Architekturkreisen, das betreffende Gebäude habe einen besonderen architektonischen Wert. Sein Baustil sei Ergebnis der architektonischen Modernisierungs-Bewegung der 1960er Jahre. Angesichts dieser Kritik ließ Lekue von diesem Objekt ab und suchte anderweitig nach einer Möglichkeit zur Umsetzung ihres Werks, bis sie schließlich in der Schule San Martín im gleichnamigen Stadtteil fündig wurde.
Vitoria-Gasteiz war schon immer besonders sensibel, was Veränderungen im Stadtbild betrifft, viele der geplanten Neuerungen wurden von der einen oder anderen Seite kritisiert: der Bau der Straßenbahnlinie, das neue Auditorium (ein Veranstaltungssaal mit Kapazität für 1.550 Personen), mechanische Rampen oder Rolltreppen zur Überwindung der Steigungen in der Altstadt sind nur einige Beispiele.
Im vorliegenden Fall greifen in der Debatte mehrere Faktoren ineinander: die unterschiedlichen Auffassungen über die Funktion von Kunst, die Idee des Privateigentums, ein touristisches Interesse und wirtschaftliche Komponenten ... die Diskussion bietet ausreichend Stoff für weitere Kapitel.
(Publikation Baskultur.info 2019-04-17)
ANMERKUNGEN:
(1) Information aus „Gasteizko muralak: xarmaren eta polemikaren artean“, Tageszeitung El Correo, 6. April 2019, Autor: Joxeme López de Arana
(2) Information zum Projekt (LINK)
(3) Besetzter Stadtteil Errekaleor in Vitoria-Gasteiz, Baskultur.info (LINK)
(4) Bei den Römern wurden diese nur selten mit Kohle oder mit Kreide gefertigt. Normalerweise wurde dazu ein Stilus verwendet, ein spitzer Griffel, mit dem auf Wachstafeln geschrieben wurde. Die Tafeln waren im Alltagsgebrauch, um schnell etwas aufschreiben zu können. Der Schreibstift aus Metall drang aber auch problemlos in jeden Putz ein. Um die feinen Ritzungen zu entdecken, muss meist ganz genau hingesehen werden. Das heißt, diese haben eine ganz andere Anmutung als die heutigen Graffiti, die oft unübersehbar bunt und groß gestaltet werden. Vermutlich wurden diese deswegen meist relativ großzügig beurteilt und sie wurden zumindest toleriert. Selbst in Tempelsäulen oder in die Wände von Amphitheatern fanden sich ganze Gladiatorengraffiti eingeritzt. Diese Einritzungen waren sogar farbig ausgemalt, woraus sich schließen lässt, dass diese ohne Furcht, dabei entdeckt zu werden, angebracht wurden. (Wikipedia)
(5) Jean-Michel Basquiat, Baskultur.info (LINK)
(6) Der bislang anonym gebliebene Banksy stammt vermutlich aus Bristol, England (Jg. 1974), der Name ist das Pseudonym eines britischen Streetart-Künstlers. Seine Schablonengraffiti wurden anfangs in Bristol und London bekannt. Durch seine internationalen Aktivitäten erlangte er weltweite Bekanntheit. Banksy bemüht sich, seinen bürgerlichen Namen sowie seine wahre Identität geheim zu halten. (Wikipedia)
ABBILDUNGEN:
(1) Straßengraffiti Gasteiz (FAT)
(2) Straßengraffiti Gasteiz (FAT)
(3) Graffiti 3.März (FAT)
(4) Palästina Graffiti (FAT)
(5) Straßengraffiti Gasteiz (FAT)
(6) Straßengraffiti Gasteiz (FAT)
(7) Errekaleor Graffiti (FAT)