Pichichi, der Messi der 1920er Jahre
Es ist eher ungewöhnlich, dass das Phänomen Fußball im Theater thematisiert wird. In Bilbao gibt es eine Ausnahme: Das Stück “Ich bin der Pichichi“ basiert auf der Biografie von Rafael Moreno Aranzadi, einem der berühmtesten und gleichzeitig legendärsten Kicker des baskischen Fußballclubs Athletic Bilbao. Das Stück von Lander Otaola ist ein Musical-Kabarett, eine typische Geschichte aus Bilbao, mit Protagonisten, die in der Stadt alle kennen. Nach großem Erfolg 2018 kehrt es nun auf die Bühne zurück.
Das Kabarett-Musical “Ich bin der Pichichi“ handelt von Fußball, Lebensfreude und dem frühen Tod eines Stars in den 1920er Jahren. Rafael Moreno Aranzadi “Pichichi“ von Athletic Bilbao ist der legendäre Protagonist. Ein Theaterstück der besonderen Art.
Uraufgeführt wurde “Ich bin der Pichichi“ im vergangenen Jahr 2018 auf dem Halbinsel-Stadtteil Zorrotzaurre in dem von einer Künstlerinnen-Gruppe selbstorganisierten Alternativ-Theater Pabellón 6. Vom 21. August bis zum 1. September 2019, mitten in der bilbainischen Fiesta-Zeit, ist das Stück erneut zu sehen, erneut in Zorrotzaurre, das in der Zwischenzeit allerdings zur Insel geworden ist. (1)
“Alle Tage sind Samstage“. Diese Lebensphilosophie ist eine der Botschaften, die das Theaterstück “Ich bin der Pichichi“ gerne vermitteln möchte. Lander Otaola ist nicht nur der Autor des Stücks, er spielt auch die Hauptrolle, jene des Rafael Moreno Aranzadi “Pichichi“. Otaola beschreibt das Stück als “Txirene-Kabarett“, das vom und für das Publikum in Bilbao geschrieben wurde. Der Begriff Txirene ist nicht einfach zu übersetzen, es handelt sich um einen ausschließlich in Bilbao verwendeten Begriff für etwas Witziges, Unterhaltsames, Sympathisches und Einfallsreiches – es soll Leute geben, die Bilbao für den Mittelpunkt der Welt halten!
Dass es im August 2019 zu einer zweiten Aufführungs-Serie kommt, erklärt sich aus dem Erfolg, den das Stück im vergangenen Jahr hatte. An sämtlichen 20 Vorführungstagen, mit jeweils Doppelprogramm füllte sich das kleine Theater in der Zorrotzaurre-Vorstadt – die Kritiken waren durchweg positiv, teilweise von Begeisterung geprägt. Ein Stück über Fußball, das zu Begeisterung führt?
Das Geheimnis von Athletic
Wesentliche Voraussetzung zum besseren Verständnis dieser Begeisterung ist der Charakter des Fußballclubs in Bilbao. Hier spielen nur Baskinnen und Basken, oder solche, die hier das Kicken gelernt haben. Keine Spanier*innen, keine Brasilianer*innen. Beste Voraussetzung also zu einer innigen Identifizierung, der ausgerechnet von englischen Ingenieuren gegründete Athletic Club ist eines der Symbole und Mythen der Stadt.
Rafael Moreno ist nicht unbedingt ein Name, den in Bilbao alle kennen. Wenn sie allerdings Pichichi hören (oder baskisch Pitxitxi) dann ist die große Mehrheit im Bilde. Er war der große Fußball-Star der 1910er und 1920er Jahre, der mehr durch Genialität als durch den sonst bei Athletic üblichen Teamgeist brillierte. Sein unverwechselbares Markenzeichen war, ein mit Knoten versehenes Taschentuch auf dem Kopf zu tragen, auch und vor allem bei Spielen. Als Stürmer schoss er Tore am Fließband. Nur alt wurde der Pichichi nicht.
Der spanische Fußball setzte Rafael Moreno ein symbolisches Denkmal indem die Trophäe für den oder die besten Torschütz*innen des Jahres seinen Namen tragen: Pichichi des Jahres, etwas sympathischer als die deutsche “Torjägerkanone“. Im Bilbao-Stadion San Mamés wurde dem Pichichi zu Ehren vier Jahre nach seinem frühen Tod auf der Tribüne eine Büste aufgestellt. Seiher legen die Spielführer*innen aller Teams, die zum ersten Mal im Stadion spielen, ein Blumengebinde ab. Viel Ruhm, viel Ehre also, was den berühmtesten Torjäger aller Zeiten von Athletic anbelangt.
Das Theaterstück
Lander Otaola schrieb das Stück und verkörpert als Schauspieler gleichzeitig auch den Pichichi. Geschildert wird das Leben von Rafael Moreno Aranzadi, “dem ersten professionellen Fußballer des Landes“, vor immerhin hundert Jahren. Doch für Otaola ist dies nur ein Vorwand, um “die Geschichte eines geborenen Hedonisten zu erzählen, der sehr schnell lebte, etwa wie ein heutiger Rockstar“. Obwohl Pichichi als Kicker eine Berühmtheit war, wissen die meisten nur sehr wenig über sein Leben – aus heutiger Sicht kaum mehr vorstellbar. (2)
Fast unbekannt ist zum Beispiel, dass Rafael mit zwei weiteren Größen der baskischen Geschichte verwandt war. Pichichi war der Neffe von Miguel de Unamuno, dem tragischen Schriftsteller aus Bilbao, der vom Republikaner zum Ultrarechten mutierte und dennoch als der größte Schreiber Bilbaos aller Zeiten gilt. Pichichi war auch Neffe von Telesforo Aranzadi (1860-1945), Naturwissenschaftler und Anthropologe, der mit Barandiaran und Eguren zusammen die baskische Steinzeit erforschte. “Pichichi lebte in einer unruhigen Zeit“, erzählt Otaola, deshalb handelt das Stück in erster Linie von der einmaligen Geschichte jener Zeit in Bilbao, in Bizkaia und im Baskenland.
Rafael Moreno
Der Bilbaino Rafael Moreno “Pichichi“ (geboren am 23. Mai 1892, gestorben am 1. März 1922) spielte seit 1913 bei Athletic Bilbao. Sein Vater war 1896/97 Bürgermeister von Bilbao, 1920 nahm Pichichi für Spanien an den Olympischen Spielen von Antwerpen teil und gewann mit dem Team die Silbermedaille. “Dennoch war er ein unbekannter Typ. Er starb mit 29 Jahren an einer Lebensmittelvergiftung, es heißt, er habe schlechte Austern gegessen. Pichichi wurde in der Altstadt Bilbaos geboren und starb dort. Er war eine Art von Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi seiner Zeit, der erste große Star. Deshalb waren wir verwundert, dass seine Geschichte nie wirklich erzählt wurde. Wir mussten sie einfach erzählen! Wir machten uns an die Arbeit und wählten die Form eines Kabarett-Txirenes, denn zu Lebzeiten Pichichis war Bilbao voller Kabaretts und Travestie-Lokalen. Zu erleben ist im Stück das Ambiente der 1920er Jahre, der Salon Vizcaya, in jener Epoche das bekannteste Kabarett, in dem auch Pichichi Stammgast war.
“Ich bin der Pichichi“ baut auf eine hervorragende Besetzung, angefangen mit Ylenia Baglietto: “meine Partnerin im wirklichen Leben wie auch im Stück“, erzählt Otaola. Felipe Loza spielt den Unamuno und Iñaki Urrutia verkörpert den Telesforo Aranzadi. Nur Itziar Ituno aus der ersten Spielzeit musste ersetzt werden wegen anderweitiger Verpflichtungen, ihre Rolle spielt Itxaso Quintana. Der Drehbuchschreiber bezeichnet das Stück als eines der besten Musicals derzeit.
Die Regie im Stück führt der in Bilbao ebenfalls bekannte Patxo Telleria, der mit Otaola schon auf eine längere Zusammenarbeit zurückblicken kann. Für den gibt es keinen besseren Regisseur als Telleria. Zu Beginn arbeitete auch Aitor Mazo mit als Direktor, doch leider verstarb er in der Zwischenzeit.
Otaola wird gefragt, welche Rolle die Musik spielt in einem Werk, das als Kabarett-Txirene definiert wird. “Musik ist das entscheidende Element, die Musik erlaubt uns, jeden Moment des Stücks aus anderer Sicht erzählen“. Musik dominiert und schafft das Ambiente der ganzen Vorstellung. Es gibt Rock, Pop, Balladen, aber alles auf der Grundlage von Bilbainadas und Koplas – zwei typische volkstümliche Gesangsvarianten in Bilbao. “Ohne Musik hätten wir diese unterschiedlichen Ambiente nicht schaffen können, das Stück wäre unverständlich“. Daher die Charakterisierung als “Txirene-Musical oder als Bilbainada XXL“.
Ein neues Publikum
Für 2019 war eigentlich keine Wiederholung des Programms vorgesehen, doch der Erfolg des vergangenen Jahres mit 20 ausverkauften Vorführungen legten eine neue Serie nahe. “Alle Vorführungen waren lange vorher ausverkauft, das hatten wir im Pabellon 6 noch nie, auch im baskischen Theater generell ist das außergewöhnlich“. Deshalb sah Otaola die Chance und Notwendigkeit zur Wiederholung – so viele, die das Stück im ersten Durchlauf nicht hatten sehen können, hatten darum gebeten.
Was die Zusammensetzung des Publikums betrifft, meint Otaola voller Stolz: “Wir haben ein neues Publikum aktiviert. Normalerweise sind es immer dieselben Leute, die ins Theater gehen. Vergangenes Jahr hingegen gab es Leute, die sagten: vorher war ich nie im Theater, aber weil es um Pichichi und Athletic ging … Das Durchschnittsalter ist normalerweise von 60 an aufwärts. Doch waren bei unserem Stück alle Altersklassen vertreten. Ich denke, dass wir mit unserer Vorstellung ein neues Publikum erschlossen haben und das ist enorm wichtig für die baskische Kultur“. Nun geht es darum, dieses Publikum bei der Stange zu halten. Für “Ich bin der Pichichi“ gibt es verschiedene Preisreduzierungen für Jugendliche unter 25 Jahren (50%) und 20% für Mitglieder von Athletic und Fanclub-Mitglieder.
Aste Nagusia
Die zweite Vorstellungs-Serie vor, während und nach der Aste Nagusia, der großen neuntägigen Fiestawoche in Bilbao anzuberaumen, findet Otaola “optimal“. Das Werk ist zum Lachen, zum Weinen, zum Weitersingen … Wir präsentieren Volkslieder und die Leute sind ermuntert, wenn sie das Theater verlassen. Nach den Vorstellungen können sie zu den Txosnas gehen (die Fiestameile neben der Altstadt) und dort etwas trinken. Das ist ein Festambiente, das auch dem Pichichi gut gefallen hätte“. Tatsächlich sagt Pichichi im Theaterstück an einer bestimmten Stelle: “Für mich ist jeder Tag Samstag“ – Samstag war sowohl Tag der Fußballspiele als auch Tag des Ausgehens und Vergnügens nach dem Spiel. “Jeder Tag soll Samstag sein, das wollen wir vermitteln, die Leute sollen in ihrem Alltag wissen, dass Samstag ist, wann sie es wollen“.
PABELLÓN 6
Dass “Ich bin der Pichichi“ im Pabellón 6 wiederholt wird ist kein Zufall, erzählt Otaola. Fünf Jahre lang war er auf der Suche nach einem Theater, das sein Stück zeigen könnte. Niemand vertraute ihm, bis er schließlich an der richtigen Tür klopfte: beim selbstorganisierten Alternativ-Theater Pabellón 6, mit großer Unterstützung von Ramón Barea, dem großen Schauspieler und Mitgründer dieser kulturellen Initiative (3). “Niemand vertraute auf das Stück, alle sagten es, sei zu kommerziell“. Und am Ende wurde es tatsächlich zu einem kommerziellen Stück, zu einem Publikumserfolg“. Dieses ursprüngliche Vertrauen hat dazu geführt, dass Lander Otaola Angebote von anderen Theatern abgelehnt hat, die ebenfalls das Stück zeigen wollten. Er sieht sich dem Pabellón 6 verpflichtet und arbeitet weiterhin dort – emotionale Geschichten in einem mitunter harten Geschäft ums Überleben, denn Zuschüsse erhalten in Bilbao nur die großen Theater.
“Außerdem“, sagt er, “Pichichi hätte ein Ort wie Pabellón 6 gut gefallen, ein Underground-Ort, eine alternativer Ort. Wir hatten Angebote, zu anderen Theatern zu gehen, aber wir wollten in Bilbao bleiben, es musste hier sein. Es gibt nur eine Ausnahme: Wenn sie uns aus Madrid anrufen würden, wären wir begeistert, dort ein Stück Baskenland zu zeigen. Aber hier im Baskenland muss es der Pabellón 6 sein. Ein Stück über Bilbao muss im Botxo gespielt werden“.
Botxo bedeutet Loch und ist der traditionelle Begriff, wie die Menschen in Bilbao ihre Stadt liebevoll bezeichnen. Der Begriff stammt aus einer Zeit, als die Stadt zwischen den Hängen und Bergen wegen der Industrie eine der schmutzigsten Städte Europas war. Eine Stadt mit einer starken Arbeiterbewegung und viel Charakter. Eine Stadt mit einem Fußballclub, bei dem (auch in Zeiten der Globalisierung und der Vertragsmillionen) nur einheimische Kickerinnen und Kicker spielen.
(Publikation Baskultur.info 2019-08-05)
ANMERKUNGEN:
(1) Zorrotzaurre war ein Industriegebiet am Rande Bilbaos. In den 1950er Jahren wurde durch einen künstlichen Kanal eine Halbinsel geschaffen. Nach dem Niedergang der Industriebetriebe ist Zorrotzaurre zum letzten großen Spekulationsobjekt der Stadt geworden, Luxuswohnungen sollen gebaut werden, dafür wurde die letzte Landverbindung gekappt, sodass der Stadtteil zu einer Insel geworden ist. Pabellón 6 und andere Alternativ-Projekte haben dort ihre Räume.
(2) Zitate aus dem Artikel “La obra ‘Yo soy Pichichi’ es un cabaré txirene, una bilbainada XXL” (Das Stück ’Ich bin der Pichichi’ ist ein Kabarett-Txirene, eine Bilbainada XXL), Tageszeitung Deia 2019-08-01 (LINK)
(3) Ramón Barea: bekannter Schauspieler weit über das Baskenland hinaus, Mitbegründer von Pabellón 6. Bei Baskultur.info erschien ein Artikel unter dem Titel: “Baskisches Theater – Der Schauspieler Ramón Barea“ (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) Collage Pichichi (FAT)
(2) Pichichi (Pabellón 6)
(3) Athletic Team (elcorreo)
(4) Pichichi (wikipedia)
(5) Pichichi, Pabellón 6