Schwarze Frauen besonders betroffen
Die Zahl schwarzer Opfer von Polizeigewalt in den USA ist seit Langem hoch. Das Risiko, von einem Polizisten erschossen zu werden, ist für Afroamerikaner*innen 2,5 Mal größer als für Weiße. Daneben existiert ein direkter Zusammenhang zwischen rassistischer und sexistischer Unterdrückung und Gewalt. Danach stehen nicht allein schwarze Männer im Fokus der hochgerüsteten Polizisten, sondern auch schwarze Frauen. Diese sexistisch-rassistische Gewalt ist weniger sichtbar und wird weniger thematisiert.
Um die rassistische Polizeigewalt in den USA in den Blickpunkt zu rücken, wurde im Juli 2013 die Bewegung „Black Lives Matter“ (BLM) ins Leben gerufen. Um die sexistisch-rassistische Polizeigewalt zu konkretisieren, folgte später die Kampagne „Say Her Name“. (Jürgen Heiser, Junge Welt)
Die nach dem Freispruch des Mörders von Trayvon Martin im Juli 2013 ins Leben gerufene Bewegung „Black Lives Matter“ (BLM), die nach den tödlichen Schüssen eines weißen Polizisten auf Michael Brown im August 2014 auch über die USA hinaus wahrgenommen wurde, hat das in den vergangenen Jahren immer wieder thematisiert. Die Gründerinnen von BLM, Alicia Garza, Patrisse Cullors und Opal Tometi, haben zwar auch frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass ein Zusammenhang zwischen rassistischer und sexistischer Unterdrückung besteht und nicht allein schwarze, meist junge Männer im Fokus der hochgerüsteten Polizisten stehen, sondern auch schwarze Frauen.
Die in den USA seit 2014 sprunghaft angewachsene und sehr breite Widerstandsbewegung hat in der Vergangenheit dennoch oft den Eindruck erzeugt, als gehe es nur um männliche Opfer. Der damalige US-Präsident Barack Obama (2009–2017) beförderte diesen Blick auf das Problem zusätzlich mit seiner Initiative „My Brother’s Keeper“ („Hüter meines Bruders“). Vor eingeladenen männlichen schwarzen Studenten nannte er am 27. Februar 2014 im Weißen Haus die Todesschüsse auf schwarze Männer und die Ereignisse nach dem Freispruch des Mörders von Trayvon Martin „ein Thema von nationaler Tragweite“ und führte zu seiner Initiative weiter aus, es gehe ihm „um den gezielteren Einsatz für Jungen und junge Männer farbiger Herkunft, die es besonders schwer haben“.
Das Schweigen brechen
Angesichts der bis in die Staatsspitze erkennbaren gesellschaftlichen Ignoranz gegenüber der prekären Situation schwarzer Mädchen und Frauen legten einige Aktivistinnen deshalb in der Folge den Schwerpunkt ihrer Arbeit auf die „vergessenen Opfer“ rassistischer Gewalt (1). Zu einer ersten öffentlichkeitswirksamen Aktion schlossen sich im Dezember 2014 beim „Marsch der Millionen gegen Polizeigewalt“ in New York City Frauengruppen zum Demoblock „Feministinnen in Bewegung“ zusammen. Während des Marsches machten sie auf die weiblichen Opfer rassistischer Polizeigewalt aufmerksam, indem sie laut deren Namen riefen. Zu diesem Zeitpunkt waren das Aiyana Stanley-Jones (sieben Jahre), Pearlie Golden (92), Rekia Boyd (22), Nizah Morris (47), Kayla Moore (42) und einige mehr. Faktisch war das der Beginn der Kampagne „Say Her Name“.
Inspiriert durch diese feministische Aktion gab es am 20. Mai 2015 am Union Square in New York City eine „Mahnwache zum Gedenken an schwarze Frauen und Mädchen, die von der Polizei getötet wurden“. Zum ersten Mal kamen Familien der Ermordeten zusammen, um auf die Geschichten ihrer getöteten Angehörigen aufmerksam zu machen. Die Eltern, Geschwister und Ehemänner trugen T-Shirts mit der Aufschrift „Say Her Name“ und zeigten eine Vielzahl von großen Plakaten mit Fotos der weiblichen Opfer von Polizeigewalt aus den vergangenen Jahren. Aufgedruckt waren auf den Plakaten neben ihrem Todestag und -ort vor allem in großen Lettern ihre bislang nicht bekanntgewordenen Namen. Hunderte Aktivistinnen und Aktivisten unterstützten die Familien.
Ähnliche Mahnwachen und Aktionen fanden im Rahmen des „Nationalen Aktionstags zur Beendigung staatlicher Gewalt gegen Frauen und Mädchen“ auch in Chicago, Los Angeles und weiteren Großstädten statt. Die Mainstream-Medien konnten sie nicht ignorieren und zeigten Bilder von Frauen und Männern, die mit Klebeband über dem Mund auf die Straße gingen, um symbolhaft das Schweigen über die Polizeigewalt gegen schwarze Frauen darzustellen. Wieder und wieder wurden die Namen der Opfer öffentlich gemacht.
Gefördert wurden diese Aktionen durch das „African American Policy Forum“ (AAPF), eine in New York City ansässige sozialpolitische Denkfabrik, die es sich seit 1996 zur Aufgabe gemacht hat, „die Zusammenhänge rassistischer, sexistischer und klassenbedingte Diskriminierungs-Formen aufzudecken“. Nahezu zeitgleich zum Aktionstag veröffentlichte das Forum die erste Fassung eines Berichts mit dem Titel „Say Her Name: Resisting Police Brutality Against Black Women“ („Nennt ihre Namen: Widerstand gegen Polizeigewalt gegen schwarze Frauen“) (2).
Darin waren zum ersten Mal die Fakten zusammengefasst, die bislang in der öffentlichen Darstellung des Problems rassistischer Polizeigewalt kaum eine Rolle gespielt hatten. Der Grund für diese Unterlassung ist auch darin zu suchen, dass es in den USA keine landesweite Erfassung von gewaltsamen Polizeihandlungen gibt. Das ist Sache der lokalen und regionalen Polizeibehörden, die gesetzlich jedoch nicht dazu verpflichtet sind, solche Statistiken zu führen. Obwohl die US-Bundespolizei FBI die von bis zu 18.000 Einzelinstitutionen kommenden statistischen Informationen über alle mit Kriminalität im Zusammenhang stehenden Vorgänge erfasst und jährlich veröffentlicht, besteht bis heute keine Verpflichtung für öffentliche Institutionen, Daten aus ihrem Arbeitsbereich beim FBI abzuliefern. Die Erfassung und Auswertung von polizeilichem Handeln, bei dem Menschen zu Schaden kommen, ist Sache der US-Bundesstaaten. Halbherzige Versuche der Obama-Regierung, das bundesweit zu ändern, wurden von Donald Trumps Regierung wieder zurückgenommen (3).
Durch die steigende Zahl von Polizeiaktionen, die Todesopfer insbesondere aus der schwarzen und hispanischen Bevölkerung zur Folge hatten, gab es in der Hochzeit der Proteste gegen rassistische Polizeigewalt jedoch bereits Untersuchungen, die im AAPF-Bericht zitiert werden. Denen zufolge machen Afroamerikanerinnen weniger als zehn Prozent der weiblichen Bevölkerung aus, während ein Fünftel aller von der Polizei getöteten Frauen und fast ein Drittel der von der Polizei getöteten unbewaffneten Frauen schwarz sind.
Stop and Frisk – Anhalten und filzen
Laut dem US-Zensus von 2013 lag der Anteil von Schwarzen an der Bevölkerung New York Citys bei 27 Prozent. Im selben Jahr waren von allen Männern, die von der Polizei durch „Stop and Frisk“-Maßnahmen (Stoppen und filzen) betroffen waren, 10,9 Prozent Weiße, 55,7 Prozent Schwarze und 29,3 Prozent Latinos (Angehörige der indigenen, asiatischen oder sonstigen Bevölkerungsgruppen wurden in dieser Statistik nicht erfasst). Bezogen auf alle kontrollierten Frauen ergab sich im selben Jahr ein ähnliches Bild: 14,4 Prozent Weiße, 53,4 Prozent Schwarze und 27,5 Prozent Latinas. Dass mehr als 80 Prozent der gefilzten Männer ebenso wie Frauen nichtweißer Hautfarbe waren, sagt noch nichts über die von der Polizei eingesetzte Gewalt aus. Jede dieser Situationen trägt indes das Potential für gewaltsame Maßnahmen in sich. Wie sich noch zeigen wird, finden gerade Polizeieinsätze gegen Frauen oft in deren häuslichem Umfeld statt.
In dem auf der Website des AAPF bereitgestellten Bericht ist nachzulesen, wie das Forum sich bereits im Dezember 2014 dafür stark machte, den Hashtag „Say Her Name“ über alle medialen Kanäle zu verbreiten. Die Autorinnen des Berichts erklärten, „Say Her Name“ ziele darauf ab, „die geschlechtsspezifische Art und Weise hervorzuheben, in der schwarze Frauen unverhältnismäßig stark von tödlichen Akten rassistischen Unrechts betroffen sind“. Neben Aktionen wie Demos, Kundgebungen und politischen Veranstaltungen sei es zunächst darum gegangen, analog zu „den bereits bestehenden Kampagnen von Black Lives Matter eine möglichst große Präsenz in den sozialen Medien zu schaffen“.
Als zu jener Zeit wichtiger Begründungs-Zusammenhang für die Ausweitung der „Say Her Name“-Kampagne gilt ein Ereignis, das als scheinbar harmlose Verkehrskontrolle begann, jedoch mit dem Tod einer bekannten Aktivistin endete. Im Juli 2015 wurde die 28jährige Sandra Bland, die nach einem Verkehrsverstoß in Polizeigewahrsam genommen worden war, erhängt in ihrer Zelle in Waller County, Texas, aufgefunden (4). Die beliebte BLM-Bloggerin Bland hatte in ihren radikalen Beiträgen unter dem Hashtag „Sandy speaks“ auch Fälle der „vergessenen Opfer“ unter ihren Geschlechtsgenossinnen öffentlich gemacht und ihre Namen genannt. Als über sie in den Medien die Polizeiversion verbreitet wurde, sie habe „Selbstmord“ begangen, waren es nicht wenige in der antirassistischen Bewegung, die den Verdacht äußerten, Bland habe sterben müssen, weil sie sich furchtlos gegen staatliche Autoritäten behauptet und mit ihren Beiträgen im Internet erfolgreich Menschen mobilisiert hatte.
Von Beginn an gehörten zu den stärksten Kräften, die solidarisch die „Say Her Name“-Bewegung unterstützten, jene Menschen, die direkt von den Morden betroffen waren. Familienmitglieder, Freunde der Opfer und Personen, die wissen, dass auch sie potentielle Opfer sind. Vor allem Mütter der getöteten Mädchen und Frauen wendeten ihre Trauer in beharrlichen Widerstand um und gründeten ein überregionales Mütternetzwerk, mit dem sie die Polizeigewalt bekämpfen und betroffenen Angehörigen mit Rat und Tat zur Seite stehen. Neben BLM waren stets auch Menschen- und Bürgerrechts-Organisationen an den antirassistischen Mobilisierungen beteiligt. Beispielhaft genannt seien die „American Civil Liberties Union“ und die „Human Rights Campaign“. Letztere nutzte den Hashtag „Say Her Name“ auch, um während der Massenaktion des „Women’s March“ in Washington, D. C., am 21. Januar 2017, einen Tag nach der Amtseinführung Donald Trumps, die ermordeten schwarzen Transfrauen zu würdigen.
Im Bett erschossen
Nachdem es eine Zeit lang stiller um die Kampagne geworden war, wirkte ein weiterer Polizeimord auch während der Beschränkungen durch die Covid-19-Pandemie mobilisierend. Am 13. März 2020 wurde Breonna Taylor in ihrer Wohnung in Louisville, Kentucky, von Polizisten erschossen. Die 26 Jahre alte Rettungssanitäterin schlief, als die Beamten eines Zivilkommandos die Wohnungstür aufbrachen und ohne Vorwarnung eindrangen. Hinterher behaupteten die Fahnder, sie hätten sich angekündigt, bevor sie sich mit einem Rammbock gewaltsam Zutritt verschafften. Zeugen sagten jedoch aus, sie hätten sich nicht als Polizisten zu erkennen gegeben. Einer der Zeugen war Taylors Freund, Kenneth Walker, der glaubte, die Männer seien Gangster, die sie ausrauben wollten. Deshalb habe er mit einer Waffe auf sie geschossen und einen der Fremden am Bein getroffen. Das Polizeikommando antwortete mit einem wilden Kugelhagel. Acht der Projektile trafen die unbewaffnete Breonna Taylor im Bett. Die Polizeiaktion richtete sich tatsächlich gegen einen Verdächtigen in einem laufenden Rauschgiftverfahren. Wie sich dann herausstellte, wohnte die Zielperson zehn Meilen von Taylors Wohnung entfernt. Breonna Taylors Tod erregte auch deshalb landesweites Aufsehen, weil es sich bei ihr um eine Sanitäterin handelte, die zu dieser Zeit an vorderster Front bei der Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie mitwirkte und ihre eigene Gesundheit beim Einsatz für das Gemeinwohl nicht geschont hatte. Todesursache: „Sleeping While Black“.
Heute verschärft sich die soziale Lage im Land der zunehmend begrenzten Möglichkeiten. Wie alle, die durch die Brille des „Racial Profiling“ betrachtet werden, erleben auch schwarze Frauen unvermindert Konfrontationen mit der Polizei und sonstigen staatlichen Autoritäten. Sie sind weitaus häufiger betroffen als jede andere Gruppe von Frauen. Das belegen die Untersuchungen von Wissenschaftlerinnen, die seit Jahren an US-Hochschulen dazu arbeiten. Eine dieser engagierten Bürgerrechtlerinnen ist Kimberlé Williams Crenshaw, Mitbegründerin des bereits erwähnten „African American Policy Forum“. Die Juristin lehrt Rechtswissenschaften an der University of California und der Columbia University. Ihre Spezialgebiete sind institutioneller Rassismus im US-Rechtssystem und feministische Rechtstheorie. Sie gilt als eine der Begründerinnen der „Critical Race Theory“.
Nach fast zehn Jahren praktischer Arbeit in der „Say Her Name“-Kampagne erschien am 18. Juli 2023 ihr Buch „#SayHerName: Black Women’s Stories of Police Violence and Public Silence“ (5). Als Endloszeile listet das Buchcover hintereinander die Namen derer auf, um die es geht: Crenshaw würdigt die Lebensgeschichten von 177 schwarzen Frauen und Mädchen, die in den USA zwischen 1975 und 2022 von der Polizei ermordet wurden und deren Tod in den Medien nur wenig oder gar keine Beachtung fand.
„Das Unsichtbarmachen schwarzer Frauen hat sich geändert“, konstatiert die nichtbinäre US-amerikanische Soulsängerin Janelle Monáe im Vorwort. Als Grund dafür hebt sie beispielhaft „die unglaubliche Arbeit von Kimberlé Crenshaw, dem African American Policy Forum und der Kampagne Say Her Name“ hervor. „Genau wie dieses kraftvolle Buch“, schreibt Monáe und verschweigt bescheiden den eigenen Beitrag zum Erfolg dieser Kampagne. Denn die achtfache Grammy-Preisträgerin hatte 2021 gemeinsam mit dem AAPF, Kimberlé Crenshaw und 15 schwarzen Künstlerinnen und Aktivistinnen die Single „Say Her Name (Hell You Talmbout)“ veröffentlicht, um die Kampagne und das „Mothers Network“ zu unterstützen (6).
Auch Janelle Monáe war ursprünglich durch die Polizeimorde an George Floyd und Breonna Taylor zu dieser Protesthymne inspiriert worden. Als Künstlerin wollte sie auf ihre Weise die Namen der Opfer rassistischer Polizeigewalt in die Öffentlichkeit bringen. Dazu veränderte sie den Protestsong „Hell You Talmbout“ (7), den sie zusammen mit dem Wondaland-Künstlerkollektiv beim „Women’s March“ in Washington, D. C., als Reaktion auf die Polizeigewalt dieser Jahre aufgeführt hatte. „Diese Arbeit ist zu wichtig, sie allein zu leisten“, erklärte Monáe. „Als Töchter, die versuchen, eine Welt zu schaffen, in der Geschichten wie diese nicht mehr alltäglich sind, folgen wir dem Aufruf zum Handeln und rufen andere ebenfalls zum Handeln auf“, kommentierte sie ihren Beitrag. Der Gerechtigkeit müsse Genüge getan und die Gesellschaft verändert werden, „um unsere Schwestern vor Gewalt und Machtmissbrauch der Polizei zu schützen“. Das Vorwort zu Kimberlé Crenshaws Buch zu verfassen, war der nächste konsequente Schritt in Monáes Handeln.
Lieber nicht die Polizei rufen
Crenshaw rückt neun Fälle in den Fokus, wobei es ihr besonders um die Umstände geht, unter denen Frauen von Polizisten getötet werden. Denn schwarze Frauen erleiden oft nicht deshalb staatliche Gewalt, weil sie Gesetze verletzt hätten, sondern weil sie oder ihre Familie in einer Notlage die Polizei um Hilfe bitten.
Das war der Fall, als Tanisha Anderson (37) im November 2014 von Beamten des Cleveland Police Department getötet wurde. Sie befand sich zu Besuch bei ihrem Bruder und nach einem Klinikaufenthalt in einer psychischen Ausnahmesituation. Die Familie kam damit nicht klar und hoffte, die Polizei könnte helfen. Stattdessen kamen zwei bewaffnete Beamte und schlugen auf die psychisch Kranke ein und nahmen sie fest. Als sie in den Streifenwagen gezwungen wurde, bekam Anderson Panik und wehrte sich, woraufhin die Beamten sie nach Aussage der Familie bei dem Versuch, ihr Handschellen anzulegen, auf den Bürgersteig warfen. Als sich ein Beamter auf sie kniete, bekam sie keine Luft mehr. Der zweite Beamte hinderte die Familie mit gezogener Waffe daran, Tanisha zu Hilfe zu kommen. Als sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde, war sie bereits tot.
Typischerweise dauerte die Untersuchung des Vorfalls durch verschiedene Dienststellen gut drei Jahre bis März 2018. In dieser Zeit versahen die beiden Streifenbeamten „eingeschränkten Dienst“. Die von der Staatsanwaltschaft eingesetzte Grand Jury sprach beide „von jedem strafrechtlich relevanten Verhalten“ frei. Wie in der Mehrheit dieser Fälle üblich, wurden sie nur disziplinarisch belangt. Officer Scott Aldridge (49) wurde für zehn Tage ohne Bezahlung suspendiert. Sein Kollege Bryan Myers erhielt lediglich eine schriftliche Abmahnung.
In einem jüngst veröffentlichten Kommentar in der Los Angeles Times (21.7.2023) mit der Überschrift: „Schwarze Frauen sind die unsichtbaren Opfer von Polizeigewalt. Warum reden wir nicht darüber?“, stellte Crenshaw fest, dass in den fast 200 Fällen getöteter schwarzer Frauen, um die es in ihrem Buch geht, „tragischerweise praktisch keiner der beteiligten Beamten zur Rechenschaft gezogen wurde“. Dass gerade schwarze Frauen mehr als jede andere Gruppe von Frauen in der Gesellschaft von staatlicher Gewalt bedroht seien und von der Polizei getötet würden, führe auch dazu, dass der Verlust ihres Lebens zu einem weiteren Verlust führe: dem der öffentlichen Kenntnisnahme, den sie als Individuen und auch als Gruppe erlebten. Sie und ihr Leid verschwänden mit ihrem Tod.
Im Interview mit dem US-Sender Democracy Now! (7.8.2023) leitete Crenshaw die Tatsache, dass das Leid schwarzer Frauen nicht wahrgenommen wird, von der Ausbeutung der unsichtbaren produktiven Arbeit schwarzer Frauen ab. „Schwarze Frauen waren die Quelle des amerikanischen Reichtums.“ Durch die Körper schwarzer Frauen sei das Arbeitsheer der Sklaven entstanden, die das Fundament des amerikanischen Imperiums bauten. „Und doch sind wir die letzten, über die gesprochen wird“, so Crenshaw. Die letzten, deren Schicksal Bedeutung beigemessen werde. Die letzten, für die auf den Straßen marschiert werde, wenn sie durch Polizeikugeln ermordet werden. Genauso wie Schweigen darüber herrsche, „dass wir immer noch unverhältnismäßig oft bei Geburten sterben“.
Dem Vergessen entreißen
Die Kampagne „Say Her Name“ sei nur eine der Möglichkeiten, an dieser Situation etwas zu ändern, betonte Crenshaw. „Das Unerlässliche, das wir tun können und einfach tun müssen.“ Die Kampagne könne die ermordeten Frauen nicht zu ihren Familien zurückbringen. „Aber wir können dafür sorgen, dass ihre Lebensgeschichten nicht dem Vergessen anheimfallen.“ Die Umstände, unter denen schwarze Frauen leiden, müssten Teil des kollektiven Bewusstseins darüber sein, „was in der Gesellschaft in Angriff genommen werden muss, um wirklich eine vollständig integrative Demokratie zu erreichen“, so die Autorin.
In der Los Angeles Times griff Crenshaw „Demagogen wie Floridas Gouverneur Ron DeSantis“ an, der versucht habe, den Unterricht zum Thema Intersektionalität – die Wechselwirkungen zwischen Rassismus, Sexismus und anderen Kräften – zu verbieten, „weil man damit die Unterdrückungs-Mechanismen deutlicher sehen kann, die er lieber verdunkeln“ würde. Das Verständnis dieser Zusammenhänge sei „jedoch entscheidend für das Überleben schwarzer Frauen und Mädchen, ebenso wie kritisches Denken über ethnische Fragen eine Notwendigkeit für alle schwarzen Menschen ist“.
Sie sei indes nicht so naiv zu glauben, dass das Ende der Polizeigewalt durch die „Say Her Name“-Bewegung herbeigeführt werden könne. „Wir können aber Zeugnis ablegen gegen die Politik und die Praktiken, die schwarze Frauen systematisch brutaler Gewalt unterwerfen“. Der erste Schritt, den Wert des Lebens dieser Frauen anzuerkennen, so Crenshaw, „mag einfach erscheinen, aber er ist entscheidend: Nennen Sie ihre Namen“.
ANMERKUNGEN:
(0) „Rassismus und Polizei. #Say Her Name“, Tageszeitung Junge Welt, Autor: Jürgen Heiser, 2023-09-11 (LINK)
(1) Vgl. Jürgen Heiser: Vergessene Opfer, jW v. 4.5.2015
(2) https://kurzelinks.de/AAPF
(3) Vgl. Jürgen Heiser: Regieren mit Zahlen, jW v. 12.1.2018
(4) Vgl. Jürgen Heiser: „Say Her Name“, jW v. 16.5.2019
(5) Kimberlé Crenshaw & African American Policy Forum: #SayHerName: Black Women’s Stories of Police Violence and Public Silence, Chicago 2023
(6) Das 17minütige Video zu dem Song ist im Netz abrufbar: https://www.youtube.com/watch?v=kQbeUN-IfyQ
(7) Das Wort „talmbout“ ist eine Verkürzung von „talking about“; der Titel fragt also: „Worüber zum Teufel redest du?“
ABBILDUNGEN:
(1) Black (NMAAHC Museum)
(2) Black (nbc news)
(3) Black (nyt)
(4) Black (jw)
(5) Black (pew research)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-09-12)