osaki01Öffentlich, nicht privat

Das Gesundheits-System Osakidetza in Euskadi (Osa-sunbide in Nafarroa) galt lange Zeit als das Juwel der baskischen Regierung, das auch fleißig in “Entwicklungsländer“ exportiert wurde. Damit ist Schluss, spätestens seit der Pandemie. Bereits vorher gab es kritische Stimmen, die Einsparungen und Privatisierung beklagten: sie blieben ungehört. Doch der Härtetest Covid hat die Grenzen von Osakidetza aufgezeigt und die Mängel brutal bloßgelegt. Für viele geht es um den Erhalt des öffentlichen Systems.

Angesichts der immer deutlicher werdenden Mängel im baskischen Gesundheits-System organisieren sich immer mehr Bedienstete, Gewerkschaften zusammen mit der Bevölkerung gegen Kürzungen und Privatisierung im Gesundheitsbereich. Gegen neoliberale Tendenzen der baskischen Politik.

Nach eher vorsichtiger Kritik in der Endphase der Corona-Pandemie finden im südlichen Baskenland seit Februar 2023 erneut dezentrale Protest-Demonstrationen statt, um auf die zunehmende Verschlechterung des baskischen Gesundheits-Systems und insbesondere der medizinischen Grundversorgung in kleineren Gemeinden aufmerksam zu machen: Wartelisten, Ärztemangel, verkürzte Öffnungszeiten und eine Verringerung der persönlichen Betreuung werden beklagt. Die generelle Forderung lautet: Für eine umfassende und würdige öffentliche Gesundheits-Versorgung.

Angesichts der ernsten Situation, in der sich das öffentliche Gesundheits-System aufgrund der Politik der regierenden Parteien PNV (Christdemokraten) und PSE (Sozialdemokraten) befindet, gehen immer mehr Menschen auf die Straße, um das ursprüngliche System zu verteidigen und die neoliberale Regierungs-Strategie der Privatisierung und des Abbaus dieses öffentlichen Dienstes anzuprangern.

osaki02Eklatante Mängel

Am stärksten betroffen ist die Primärversorgung, die mehr als 75% der Gesundheits-Versorgung abdeckt, sie ist in eine kritische und unhaltbare Situation geraten: Kürzungen der Öffnungszeiten in den Gesundheits-Zentren; Einführung der telefonischen Betreuung zum Nachteil der persönlichen Betreuung, die für gute Diagnosen unerlässlich ist; Zunahme der Wartelisten zur Behandlung, Rehabilitation oder für Eingriffe; Konsultationen ohne ansprechbares medizinisches Personal; telematische Anfragen, die die digitale Kluft vergrößern und die vor allem schutzbedürftige Menschen aufgrund ihres Alters oder ihrer Unkenntnis betrifft.

Hinzu kommen die Arbeitsbedingungen des Gesundheits-Personals selbst. Immer mehr Bedienstete beklagen Arbeitsüberlastung, unsichere Arbeitsplätze, verursacht durch ein autoritär geführtes und konfliktreiches Verwaltungsmodell. Das aktuelle Modell verletzt das Recht auf Zugang zu einer allgemeinen, hochwertigen und kostenlosen Gesundheits-Versorgung, das Recht der Bevölkerung auf Beteiligung an den sie betreffenden und gesetzlich anerkannten Entscheidungen wird missachtet oder ignoriert. Eine logische Folge dieser Missstände sind höhere krankheits- und stressbedingte Ausfallzeiten des Personals, was wiederum den Teufelskreis beschleunigt.

Der private Ausweg

All das zwingt Tausende von Menschen dazu, in der privaten Gesundheits-Versorgung einen Ausweg zu suchen. Dies ist Teil der gesundheits-politischen Strategie der neoliberalen baskischen Regierung. Doch dieser Ausweg im privaten Gesundheitsbereich steht nur jenen offen, die sich diese privaten Dienstleistungen auch leisten können. Angesichts von 30% armer Bevölkerung im Baskenland ist davon auszugehen, dass mindestens diese 30% von Gesundheits-Versorgung ausgeschlossen sind oder nur noch unter schwierigen Bedingungen und mit endlosen Wartezeiten Zugang findet. Deshalb sind die letzten Erklärungen des Lehendakari (Ministerpräsidenten) Iñigo Urkullu, der die "wirtschaftlichen und menschlichen Anstrengungen für eine qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung" seiner Regierung hochhält, nichts als leere Worte im Vorfeld der Wahlen.

Anstatt aus der katastrophalen Situation während der Pandemie logische Konsequenzen zu ziehen, setzt die baskische Regierung auf Rationalisierung und Privatisierung. So wurden in den vergangenen Jahren Spezial-Abteilungen zusammengelegt und somit gekürzt. Die Wartezeiten auf chirurgische Eingriffe beträgt Monate und verlängert sich. In der Primärversorgung gibt es keinerlei Möglichkeit zur Spezial-Untersuchung, die Wartezeit auf Termine bei Spezialisten ist untragbar lange. Die nach Operationen notwendige sofortige Rehabilitation ist praktisch inexistent, weil keine Angebote vorhanden sind und mit Wartezeiten von einem Jahr gerechnet werden muss (man stelle sich das zum Beispiel nach einer Knie- oder Hüftoperation vor).

Wie funktioniert das baskische Gesundheits-System?

Vorausgeschickt werden muss die Feststellung, dass es im öffentlichen baskischen Gesundheits-System (das unbestritten besser ist als das spanische) kein Recht auf die Wahl eines Arztes oder einer Ärztin gibt (nur im privaten Bereich). Wer im Stadtteil A in der B-Straße wohnt, muss ins Gesundheits-Zentrum C und wird von “Kopfarzt“ Doktor D empfangen (cabezera). Aufgrund von Vertretungen und Verrentungen ist ständiger Wechsel angesagt, eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Ärztin und Patient ist kaum möglich, Krankengeschichten werden ausschließlich über Internet vermittelt. Wer nicht zufrieden ist mit der Behandlung, ist aufgeschmissen, oder geht privat. Alle Zahnbehandlungen (außer Zähneziehen) sind kostenpflichtig, es gibt keinerlei staatliche Anteile. Das Ergebnis dieser Politik ist deutlich zu sehen, wenn die arme Bevölkerung den Mund aufmacht: Lücken über Lücken. Somit gibt es nicht das aus Deutschland bekannte System der individuellen Arzt-Praxen (nur bei Zahnärztinnen), alles findet im kleinen oder großen Stadtteil-Gesundheits-Zentrum statt.

Unsichtbare Privatisierung

Privatisierung ist häufig unsichtbar und wird von den Patientinnen gar nicht oder nur schwer zur Kenntnis genommen. Denn nicht immer muss für privatisierte Dienste bezahlt werden. Wenn die “Kopfärzte“ Überweisungen ausstellen zu Spezialuntersuchungen, so finden diese häufig in privaten Zentren statt, Rotes Kreuz oder irgendwelche namentlich unbekannten Unternehmen. Die Ergebnisse gehen dann zurück in den öffentlichen Bereich – als hätte alles unter einem Dach stattgefunden.

Für einen simplen Hörtest im Fall von Tinitus muss fünf Monate gewartet werden, für eine Tomografie acht. Weil die Grundversorgung so schlecht ausgestattet ist, werden viele Personen in die Notaufnahme der Krankenhäuser geschickt, was dort zu Wartezeiten von acht oder zehn Stunden oder länger führt (vom Charakter der Massenabfertigung und der aggressiven Stimmung auf beiden Seiten -Bedienstete, Patientinnen- ganz zu schweigen). Die baskische Regierung räumt ein, dass im System 200 Kinderärztinnen fehlen und verweist darauf, dass es auf dem Arbeitsmarkt keine Bewerberinnen gibt. Das mag richtig sein, ist aber darauf zurückzuführen, dass die Arbeitsbedingungen ebenso schlecht sind wie die Bezahlung, und viele ihre Zukunft in der besser bezahlten Privatversorgung sehen.

Besonders schlimm trifft es die Landbevölkerung. In kleinen Orten sollen – laut Gesundheits-Senatorin – Gesundheits-Stationen geschlossen werden, die Menschen sollen gefälligst in den nächstgrößeren Ort fahren. In den verbliebenen Orts-Einrichtungen gibt es teilweise keine Ärzt*innen mehr, stattdessen übernehmen Krankenpfleger*innen ärztliche Aufgaben. Auf die besonderen Notwendigkeiten von älteren und weniger mobilen Menschen wird keinerlei Rücksicht genommen.

Tendenzen

osaki03Die Konsequenz aus der mit vielen Details beschriebenen Situation ist, dass sich die Gesundheit der Bevölkerung im Allgemeinen verschlechtert. Die Veralterung der Gesellschaft spielt eine zusätzliche Rolle, das bedeutet eine größere Anstrengung, diesen wachsenden Bedürfnissen hinterherzukommen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Die Zusammenlegung von speziellen Untersuchungs-Einheiten führt zu stärkerem Zulauf, die Ärztinnen haben weniger Zeit zum Gespräch. Viele Patientinnen ziehen Eigentherapie einer telefonischen Beratung vor, im Internet ist alles zu kriegen, ob es gut ist oder schlecht, vor allem Psychopharmaka.

Weil die Grundversorgung auf allen Ebenen eingeschränkt wird, ist der Ansturm auf die Krankenhäuser größer und nicht zu bewältigen, dabei fehlen Maschinen für die notwendigen Untersuchungen. Wie notwendig eine ausreichende öffentliche Gesundheits-Versorgung ist, machen Zahlen zu Lebenserwartung deutlich: die liegt in reichen Stadtteilen von Bilbao vier Jahre höher als die in armen Barrios.

Um zu rationalisieren werden Anrufer*innen bei der Frage nach einem Termin in der Gesundheits-Station bereits am Telefon von Verwaltungsleuten nach ihren Beschwerden befragt und teilweise abgewimmelt. Hausbesuche bei nicht mehr mobilen Patient*innen gibt es fast nicht mehr. Weil die Unzufriedenheit der Patient*innen steigt und der Stress bei den Gesundheits-Bediensteten zunimmt, steigt auch der allgemeine Aggressionspegel. Übergriffe von Unzufriedenen nehmen zu, deshalb steht in jedem Zentrum ein privater Hilfssheriff. Militarisierung im Gesundheitsbereich.

Der englische Patient

Die Auswirkungen der Auslagerung von Gesundheitsdiensten an gewinnorientierte Unternehmen (also Privatisierung) sind auch in England (wie überall) seit Jahrzehnten Gegenstand von Kontroversen. Manche argumentieren, dass die Auslagerung an marktwirtschaftlich arbeitende Unternehmen aufgrund des stärkeren Wettbewerbs die Ergebnisse verbessert, während andere befürchten, dass die Kommerzialisierung zu Kürzungen bei Ausgaben und Investitionen zu einer schlechteren Versorgung führen. Deshalb hat “The Lancet“, auf internationaler Ebene eine Referenz im Bereich der Medizin, mit einer Studie vor einigen Monaten Studie Licht ins Dunkel gebracht, in einem Moment, in dem Proteste und Streiks der Beschäftigten des Nationalen Gesundheits-Dienstes (NHS) gegen die Politik der Rechts-Regierung die Brisanz der Frage ins Licht gerückt haben.

Die Studie stützt sich auf Daten von 173 Verträgen, die in England zwischen 2013 und 2020 von regionalen Gesundheitsräten (RHCs) mit gewinnorientierten Unternehmen unterzeichnet wurden – im Wert von 204 Milliarden Pfund. Insgesamt 12.709 Ausgabendateien wurden analysiert. Diese Daten wurden ergänzt durch die Sterblichkeitsraten aufgrund von Ursachen, die durch medizinische Eingriffe behandelbar sein sollten, als Hinweis auf die Qualität des Gesundheitswesens.

Die Ergebnisse sind aufschlussreich: Ein jährlicher Anstieg der Auslagerung an den privaten Sektor um einen Prozentpunkt entspricht einem Anstieg der behandelbaren Sterblichkeit um 0,38% oder 0,29 Todesfälle pro 100.000 Einwohner im Folgejahr. In absoluten Zahlen ausgedrückt, so wird in der Studie festgestellt, haben Änderungen in der Gesundheits-Versorgung nach der Auslagerung an gewinnorientierte Unternehmen zu 557 zusätzlichen behandelbaren Todesfällen geführt. Anders ausgedrückt: Privatisierung ist tödlich.

Gefordert wird …

osaki04… im Baskenland: (*) Die Gewährleistung eines öffentlichen, flächendeckenden, kostenlosen und qualitativ hochwertigen Gesundheits-Dienstes, wobei den schwächsten Bevölkerungsgruppen Vorrang eingeräumt wird. (*) Die Rückkehr zur vollständigen persönlichen Betreuung. (*) Die Aufstockung des Budgets für die Primärversorgung. (*) Die Stärkung der Gesundheitsfürsorge mit dem Ziel der Gesundheits-Förderung und Krankheits-Prävention. (*) Der Stopp der Privatisierung und die Rückholung privatisierter Dienstleistungen. (*) Die Einrichtung einer Alten-Beratung in jeder Gesundheits-Station. (*) Die Verbesserung der Arbeits-Bedingungen für das Gesundheitspersonal. (*) Ein umgehender und vollständiger Ersatz für krankheitsbedingte Personalausfälle im Gesundheitsbereich. (*) Die Überwindung der digitalen Kluft, die vielen Menschen den Zugang zu Gesundheits-Ressourcen erschwert oder unmöglich macht. (*) Die Beteiligung der Bevölkerung an wichtigen Entscheidungen auf der Grundlage der Demokratisierung und Transparenz des Gesundheits-Managements.

Widersprüchlich

Weil die Bezahlung bei Osakidetza in Euskadi schlecht ist, haben manche Ärzt*innen die Möglichkeit, nebenbei noch auf privatem Weg Patient*innen zu betreuen. In Navarra ist die Situation anders: wer im öffentlichen Bereich beschäftigt ist, darf nicht gleichzeitig “privat“ tätig werden, Exklusivität wird dieses Prinzip genannt. Ausgerechnet in einer Zeit der allgemeinen Mobilisierung für ein würdiges öffentliches Gesundheits-System fordert der Ärzte-Verband Navarra das Ende der Exklusivität und die Öffnung der Tür zu privaten Nebentätigkeiten. Widersprüche.

Organisierung

Nachdem die Protest-Mobilisierungen während und nach der Pandemie aus ungeklärten Gründen in der Bevölkerung auf keine große Gegenliebe stießen (mangelndes Problem-Bewusstsein), ist momentan der zweite Versuch gestartet worden, die schlechte Situation im Gesundheitsbereich zu beklagen und um Verbesserungen zu kämpfen. Gewerkschaften auf der einen Seite und Nachbarschafts-Verbände auf der anderen mobilisieren zu Demonstrationen und Kundgebungen. Gewerkschaften drohen mit Arbeitsniederlegungen, die Nachbarschaften treten vor ihren Gesundheits-Zentren im Stadtteil zum Protest an.

ABBILDUNGEN:

(*) Öffentl. Gesundheits-System (ecuador etxea)

(PUBKLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-02-06)

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