Zweite Ausgabe des „Letzte Grenze”-Festivals
Im Oktober 2017 wurde die zweite Ausgabe des Kultur-Festivals Azken Muga (Letzte Grenze) an der Grenze zwischen Navarra und Gipuzkoa abgeschlossen. Von Juli bis September (mit Nachschlag Januar) wurde eine Vielzahl verschiedenster kultureller, musikalischer und künstlerischer Aktivitäten durchgeführt. Beteiligt waren Künstler*innen, Musiker*innen, Bertsolaris und Volkstänzer*innen – sowie viele Freiwillige, die das Ganze organisieren halfen mit tatkräftiger Unterstützung der umliegenden Gemeinden.
„Azken Muga – Letzte Grenze“ ist ein kollektives Kunst- und Kultur-Projekt, das sich überwiegend in der Natur abspielt. Zum Programm gehören Musik, Tanz, Film, Ausstellungen, Handarbeit, darstellende Kunst und Bertsolaris.
Vorgesehen war, den Großteil der Veranstaltungen von Azken Muga (mit unterschiedlichem Charakter und Inhalt) am namensgebenden Ort des Festivals stattfinden zu lassen: an der „Letzten Grenze“. Leider verhinderte das Wetter diese Pläne mehrfach, denn auf ein warm-trockenes Frühjahr folgte ein feuchter Sommer. So mussten wegen schlechter Wetterprognosen einige Aktivitäten ins Tal oder in umliegende Dörfer verlegt werden. Doch auch das macht den Charakter des Festivals aus, denn Azken Muga setzt auf den offenen Zugang in der Natur und fordert von den Organisator*innen die Fähigkeit zur Improvisation, wenn sich die Umstände kurzfristig ändern.
Orte und Namen
„Azken Muga“ ist Baskisch und bedeutet „Letzte Grenze“. Gemeint ist die Grenzlinie zwischen den baskischen Provinzen Navarra und Gipuzkoa, vertreten durch die Orte Bedaio auf der Gipuzkoa-Seite und Azkarate in Navarra. Die kleine Hochebene Zarate am Fuße des Balerdi-Berges ist das Zentrum des Festivals. Dort steht neben dem ehemaligen Schlagbaum die Zaratetxe-Hütte, die als Ausstellungsraum und Materiallager dient. Als Basiscamp wurde im Zarate-Nachbarort Azkarate (Navarra) ein Haus angemietet, in dem Organisator*innen und Künstler*innen eine Herberge fanden, um sich nach regnerischen Arbeitstagen im Wald bei gemeinsamen Mahlzeiten aufzuwärmen.
Die Geschichte des Azken-Muga-Festivals und die Motivation seiner Initiator*innen kam bei Baskultur.info bereits mehrfach zur Sprache. Zuerst unter dem Titel „Azken Muga – Letzte Grenze“ (1). Im Vorfeld des Festivals 2017 erschien der Artikel „Kunst im Wald: Letzte Grenze – Kunst und Kultur“ (2). Daneben ein Bericht über das große Sommer-Konzert 2017 unter dem Titel „Azken Muga orchestral“ (3).
Internationale Beteiligung
Im künstlerischen Teil von Azken Muga hatten die Organisator*innen des Festivals in diesem Jahr auf internationale Beteiligung gesetzt. So sollte deutlich werden, dass es sich nicht allein um eine Initiative von lokalem Charakter handelt, sondern um ein Konglomerat von Veranstaltungen, das über die „letzten Grenzen“ hinaus Anziehungskraft besitzt. Tatsächlich konnten einige nicht-baskische Künstler*innen gewonnen werden, am Projekt auf dem Zarate-Pass unter dem Balerdi-Berg teilzunehmen und ihre Skulpturen aufzustellen oder aufzuhängen. Hierfür waren spezielle Einladungen ins Ausland gegangen.
Mit Corne Nuham aus Südafrika und Marvin Liberman aus Massachusetts kamen zwei Künstler, die zumindest ein Standbein im Baskenland bzw. in Madrid haben, die in Bilbao ansässige Andrea Heuschmid aus dem deutschen Süden ergänzte das Team. Marvin stand tagelang im Juli-Regen, um seine aus den Naturmaterialien Holz und Wolle bestehende Skulptur „Der Wald des Schneiders“ (El Bosque del Sastre) fertigzustellen, die seither fast unscheinbar am Wegesrand von Zarate steht und an der nun Kühe vorbeistreifen. Im Gegensatz dazu ist Corne Nuhams Vogelskulptur mit dem Titel „Bëlit-ili“ eine mehr als drei Meter hohe metallene und fast industriell wirkende Großfigur, die alle Besucher*innen stark beeindruckte. Sie stand auf einem sturmgefällten Baumstumpf, bei jedem Lichteinfall wirkte sie anders. Andrea Heuschmids Thema waren menschliche Spuren an Grenzübergängen, was in zwei kleinen Werken Ausdruck fand: „Huellas“, Fußspuren aus Gips auf dem ehemaligen Zugangsweg nach Zarate und eine Naturwand aus Zweigen hinter dem Zaratetxe-Haus mit dem Titel „Melilla“.
Kulturelle Landpartie Wendland
Im widerständischen Wendland fiel die deutsche Kontaktsuche auf fruchtbaren Boden. Sicher kein Zufall, denn die dort organisierte „Kulturelle Landpartie“ hat zweifellos eine gewisse Ähnlichkeit mit Azken Muga (4). Vier Aktivist*innen aus der „Freien Republik Wendland“ (wer erinnert sich nicht an die 1004-Platzbesetzung in Gorleben im Mai 1980) machten sich auf den Weg von „da wo die Elbe rauskommt“ ins bergige Baskenland: Tanja Zeps und Vatula Sonntag machten sich daran, Skulpturen anzufertigen, begleitet wurden sie von der Fotografin Anne Przyklenk-Hadel und der KLP-Koordinatorin Monika Bischoff.
Tanja Zeps kreierte mit „Verstrickung“ (Enredado) ein Werk zum Nachdenken, es besteht aus einem überdimensionalen gehäkelten Hemd, hergestellt aus alten Stoffen der Zarate-Gegend und mit einer zweisprachigen Aufschrift zum Thema Lachen, Leben und Licht. Vatula Sonntags Kreation ist eine Skulptur, die vorbeikommende Betrachter*innen fast magnetisch zur Interaktion motiviert – eine überaus erwünschte Handlung, die in Museen bei Strafe verboten ist. Vatulas „Umarmung“ (Besarkada – Abrazo) sucht genau das Gegenteil, denn erst die dem Titel entsprechende Aktion der Zuschauer*innen bringt das Werk zu seiner Vollendung. Ursprung der Skulptur war ein dicker Baumstamm von etwas mehr als zwei Metern Höhe, der zunächst mit der Motorsäge eingekerbt und im Anschluss mit Schnitzeisen gestaltet wurde. Es entstand eine Negativform mit Kopf und zwei Armen, in die sich (je nach Körpergröße) jede Passantin einpassen kann. Tatsächlich widersteht kaum jemand der eindeutigen Einladung.
Anne Przyklenk-Hadel begleitete das Geschehen fotografisch mit der Perspektive, bei der kommenden Kulturellen Landpartie im Jahr 2018 eine Fotoausstellung über Azken Muga zu organisieren. Begleitet wurde die Wendländer Anwesenheit durch eine Ausstellung im Zaratexte-Haus. Dargestellt wurde die Geschichte der Bewegung gegen das Atomlager Gorleben, dokumentiert mit Fotos und Broschüren. Bei einer Informations-Veranstaltung im Zaratexte hatte das baskische Publikum die Gelegenheit, die Geschichte jenes Ortes kennenzulernen, der einst „am Zaun lag, der unter Strom steht und schießt“, wie der Liedermacher Mossmann Gorleben seinerzeit besang.
Ob Azken Muga im Jahr 2018 eine Fortsetzung haben wird, ist noch nicht definitiv entschieden. Klar ist bereits, dass eine Reihe von baskischen Künstler*innen zur Kulturellen Landpartie eingeladen wurden, um dort im Mai 2018 ihre kreativen Spuren zu hinterlassen.
Baskische Künstler*innen bei AM
Von der ersten Azken-Muga-Ausgabe des Jahres 2016 stand noch das „unvollendete Ei“ (Burtzako) des Künstlers und AM-Initiatoren Guillermo Olmo. Es steht exakt an der Stelle des ehemaligen Grenzübergangs und soll einen Übergang darstellen: ein metallener Steg führt mitten durch die Eiform. Ein zweites schlichtes Werk desselben Künstlers ist zum Wahrzeichen von Azken Muga geworden: der hölzerne Stuhl „Aulkia“. Seine Besonderheit ist, dass er ca. 10 Meter hoch und nur mit Leiter zu besteigen ist. Schwindelfreie Künstler*innen benutzen ihn als Bühne für ihre Darstellungen. Guillermos drittes Werk „Meta“, ein riesiger Heuhaufen, konnte aus technischen Gründen im Sommer nicht fertig gestellt werden und ging deshalb erst im Oktober auf die Reise durch verschiedene Orte in Gipuzkoa.
Marijose Recalde schuf – ebenfalls bei tagelangem Regen – das Werk „Sorgina”, das baskische Wort für Hexe. Zwischen zwei Buchen sind dünne Äste zu Matten zusammengebunden, die den Zwischenraum der Bäume ausfüllen. Die Hexenfigur entsteht durch eine Aussparung, daneben simuliert ein weiterer Leerraum einen Topf. In Anbetracht der umherstreunenden Kühe hat das Werk wahrscheinlich keine lange Lebensdauer. Weil es sich mit dem Herstellungsmaterial perfekt in die Umgebung integriert, ist „Sorgina“ schwierig zu fotografieren. Denn hinter der Hexe befindet sich aus jeder Perspektive immer ein Stück Natur. Was umgekehrt eine gelungene Darstellung des Hexenthemas ist und gut zur Hexen-Ausstellung bei Azken Muga passt.
German de los Rios Werk trägt den Namen „Denken” (Pensamiento). Es besteht aus einem dunklen Sockel, auf dem sich holzbestückte Metallarme in die Höhe winden. Oben thront als Kopf oder Dach ein weiterer Block, der schwer wiegt und die Dynamik nach oben begrenzt. Das Werk hat bereits eine Stunde Null vor sich, denn im kommenden Jahr (2018) soll es bei der im Baskenland populären (weder esotherisch noch faschistisch angehauchten) Sommersonnwendfeier verbrannt werden.
Dora Salazars „Qualle“ (Medusa) ist ein feingliedrig gewobenes Netz aus Kupferdrähten, aufgehängt an einem abgebrochenen Ast in drei Metern Höhe. Zur Kreativität der erwachsenen Künstler*innen gesellte sich jene des Nachwuchses. Aus Holzresten bauten Cornes Kinder eine Minibrücke, die trotz der Kühe den ganzen Sommer überdauerte. Offenbar haben die Kinder das Motto „Letzte Grenze“ gut verstanden und zu ihrer Überwindung eine Brücke geschaffen. Auch der Riesenstuhl muss sie inspiriert haben, mit einer Miniausgabe schufen sie ein perfektes Gegenstück, das anstatt metallener Schrauben mit einfacher Schnur zusammengehalten wird.
Azken Muga Eröffnungsfest in Zarate
Gestartet wurde das Azken-Muga-Festival am 27. Juli 2017 am Zarate-Pass mit einer sogenannten Romeria (baskisch: Erromeria). In früheren Zeiten, insbesondere während des Franquismus, waren dies religiöse Umzüge und Prozessionen. Nur der Name hat überlebt, der Charakter hingegen hat sich völlig verändert, von Religion ist keine Spur mehr erhalten. Heutzutage sind Romerias zu Festen geworden, die sich in Dörfern oder in der Natur abspielen. Erneut wurde der Gigantenstuhl aus dem vergangenen Jahr zur Bühne. Nacheinander traten in luftiger Höhe baskische Spontan-Reim-Sänger auf, Bertsolaris. Die folgende Tanzgruppe aus Iparralde brachte die Bühne mit ihren Bewegungen gefährlich ins Wanken. Zwischen den Bäumen spielte eine Verbena-Gruppe bekannte baskische Melodien zu denen getanzt wurde. Für Verköstigung war ebenfalls gesorgt.
Mutur Beltz – Schaf- und Hirtenkultur
Der Eröffnung folgte im Zaratetxe-Ausstellungs-Haus eine Ausstellung des Projekts „Mutur Beltz“, was „Schwarzer Kopf“ oder „Schwarzer Schädel“ bedeutet (28.7.). Der Name bezieht sich auf eine Unterart der baskischen Schafrasse Latxa, die sich durch schwarze Köpfe auszeichnet. Wegen der starken Konkurrenz von synthetischen Stoffen und asiatischer Produktion ging die Verarbeitung von baskischer Schafwolle stark zurück. Oft wird sie weggeworfen. Demgegenüber besinnt sich die Gruppe „Mutur Beltz“ auf alte Traditionen und versucht, die Verwertung des Rohstoffs am Leben zu halten. Die beiden Aktivist*innen Laurita und Joseba leben im bizkainischen Karrantza auf einem Hof, in dem traditionell Schafe jener Rasse gehalten werden. Zur Demonstration des Handwerks montierten sie ein Wollspinnrad auf ein Fahrrad, um die Fadenproduktion zu veranschaulichen und den Mechanismus transportierbar zu machen. Hintergründe und Motivation zum Projekt wurden bei einer Veranstaltung erklärt und praktisch demonstriert. Höhepunkt war die Herstellung einer echten Baskenmütze nach alter Technik während des Events.Zum Thema Schaf- und Hirtenkultur ein Artikel bei Baskultur (5).
Wendland-Besuch
Vom 12. bis 19. August folgte der Besuch aus dem Wendland, mit Ausstellung zur Geschichte des Atommüll-Lagers bei Gorleben und einer Infoveranstaltung, bei der auch das Festival „Kulturelle Landpartie“vorgestellt wurde. In diesen Zeitraum fiel ein Workshop für Kinder im Zarate-Wald, der wegen Regen fast ins Wasser fiel. Eine handvoll Kinder (mit elterlichem Anhang) trotzte der Regenkulisse und baute eine Holzhütte, an die sich bisher nicht einmal die umherschweifenden Kühe trauen.
Vorstellung in Iruñea-Pamplona
Am 17. August fand die mediale Vorstellung des Projekts Azken Muga in Iruñea (spanisch: Pamplona) statt, dem eine technische Meisterleistung voranging. Denn bei der Präsentation auf dem zentralen Plaza del Castillo sollte der bereits legendäre Azken-Muga-Stuhl als Bühne benutzt werden. Dafür musste er mit einem langen LKW vom Zarate-Pass geholt, über den steinigen Weg nach Azkarate gebracht und ins Tal chauffiert werden. Die größte Herausforderung bei diesem Schwertransport war eine niedrige Brückendurchfahrt im Tal, der Stuhl musste abgeladen, auf die Brücke gelegt und von der anderen Seite wieder auf den Laster gehoben werden. Eine technische Meisterleistung des Fahrers und Ladekapitäns, die fotografisch in die Geschichte von Azken Muga eingegangen ist. - Die Vorstellung des Azken-Muga-Projekts fand am späten Vormittag unter strahlendem Himmel statt. Der gigantische Stuhl inmitten des Platzes zog in der belebten Innenstadt Pamplonas viele Schaulustige an, die ein buntes Kurzprogramm geboten bekamen. Nachdem eine Bertsolari das Projekt in Reimform vorgestellt und der Chor von Muthiko Alaiak mehrere Lieder zum Besten gegeben hatte, sprach Dirigent und Azken-Muga-Mitgründer Migel Zeberio ein Grußwort und lud zur Teilnahme an den folgenden Veranstaltungen und zum Besuch des Grenzwaldes Zarate ein. Zum Abschluss kletterte eine Folklore-Tänzerin die Leiter nach oben und tanzte in luftiger Höhe den sogenannten „Aurresku", einen typisch baskischen Tanz, der zu Ehren von Personen und bei Hochzeiten, Veranstaltungen und Festen aller Art getanzt wird. Die Veranstaltung fand ihr Echo in der Presse des nächsten Tages.
Tanz- und Musikfest
Die Wendländer Präsenz endete am 19. August mit einem erneuten Tanzfest (Romeria), bei dem die Folklore-Gruppe Muthiko Alaiak aus Iruñea (Pamplona) für Musik und Tanzeinlagen sorgte, zusammen mit der lokalen Verbena-Gruppe aus Betelu. Ein paar Freiwillige aus dem Nachbarort Altzo sorgten mit ihrer Mobilküche für einen deftigen Thunfisch-Eintopf (Marmitako). Dem folgte verdauungsfördernd eine allgemeine zweite Musik- und Tanzeinheit, an diesem Tag vom sonnigen Wetter begünstigt. Mit der unermüdlichen Musikleistung – Trompeten, Akkordeon, Saxofon – wurde es Abend und Zeit für den Abschied der Wendländer*innen.
Jesus Elósegui – Fotoausstellung
Die Wissenschaftliche Gesellschaft Aranzadi (6) stellte Azken Muga eine Ausstellung mit Fotos von Jesús Elósegui Irazusta zur Verfügung, in Form großer Darstellungen auf Karton, die vom 20. August bis 2. September in Zaratexte zu sehen war. Der 1909 in Tolosa geborene Elósegui war einer der Aranzadi-Gründer, er verließ seine Ingenieur-Studien und widmete sich der Fotografie. Sein Thema waren das Leben im Baskenland, vor allem das Leben auf dem Lande. Elósegui wurde zu einem der wichtigsten Dokumentaristen seiner Zeit, er fotografierte die Arbeitswelt, Sport, Natur, unter anderem die Kupferminen in den Aralar-Bergen. Bei Aranzadi arbeitete er zusammen mit José Miguel Barandiarán (7) (8), der urzeitliche Stätten fand und erforschte. Der Franquismus trieb Elósegui ins Exil nach Iparralde, ins nördliche Baskenland. Erst Jahre später kam er zurück, Elósegui starb 1979. Am 25. August kam Elóseguis ehemaliger Mitarbeiter Fermin Leizaola zu einer Informations-Veranstaltung für Azken Muga ins Zaratexte, um die Fotoausstellung zu kommentieren und Elóseguis Lebenswerk vorzustellen.
“Schwarzmarkt der Emotionen” – Geschichten von Zarate
Zu einer Erzähl-Veranstaltung der besonderen Art war der Journalist und Schriftsteller Joxemari Otermin aus dem benachbarten Amezketa nach Zarate eingeladen. So abgelegen die Zarate-Gegend auch ist, aufgrund ihres Grenzcharakters spielten sich hier dennoch viele Episoden aller Art ab: „1002 schlichte Ereignisse“, wie Otermin es formulierte. An dieser Grenze zwischen Navarra und Gipuzkoa standen sich jahrzehntelang Schmuggler und Grenzwächter gegenüber, die Mikeletes, in teilweise blutigen Auseinandersetzungen. Hier wurde Holz gefällt, es wurde gewettet, das Vieh auf- und abgetrieben, Pilger machten ihre Strecke auf dem Ignatius- oder dem Jakobsweg, Feste wurde gefeiert von den Anliegerdörfern, es wurde geraubt und gemordet. Otermin begann seine Erzählrunde mit der Aufforderung an die Zuhörer*innen, sie sollten doch bitte etwas aufmerksamer auf die Berge und Wälder achten, auf die Kuhglocken und Geräusche der wilden Tiere, auf die Axtschläge der Waldarbeiter, auf die Gerüche von Vieh, Pilzen, dem Frühling, von Minze und trockenem Rauchschinken.
Tanz, Grillessen, Weinprobe und Bertsolaris in Altzo
Weil die Wettervorhersage nichts Gutes erwarten ließ, wurden die Aktivitäten des Tages vorsorglich in den Fronton des gipuzkoanischen Dorfes Altzo verlegt, ein nur wenige Luftkilometer von Zarate entfernter Ort. Altzo ist bekannt, weil hier einst ein übergroßer Mensch lebte, dem kürzlich ein preisgekrönter Film gewidmet wurde: „Aundia“. Der Tag begann mit der Folklore-Tanzgruppe Muthiko Alaiak, die aus Pamplona angereist war und ihr Programm vorführte. Derweil präparierte eine Kochgruppe vor der Sporthalle einen Mobilgrill, auf dem zehn Lämmer gebraten wurden für das anschließende Mittagessen. Eine Kellerei aus Navarra bot zudem eine Weinprobe mit einem vorzüglichen Tropfen. – Nach dem Essen bewegte sich die Gesellschaft in die Kapelle nebenan, dort fanden sich fünf der aktuell besten Bertsolaris des Baskenlandes zu einer Bertso-Vorstellung ein: Amets Arzallus, Julio Soto, Alaia Martin, Iñigo Gorostartzu, Imanol Artola und Maialen Lujanbio, die erst kürzlich zum zweiten Mal die alle vier Jahre stattfindende gesamtbaskische Bertsolari-Meisterschaft gewann. Bertsolaris sind Reimsänger, die ein vorgegebenes Thema musikalisch und in Spontanreimen verarbeiten, allein oder zu zweit. Dass diese überaus weltliche Vorführung ausgerechnet in einem Gebäude vonstatten ging, in dem normalerweise Predigten abgeliefert werden, gab dem Ganzen einen surrealen Touch. Mehr als ein Mal bezogen sich die Bertsolaris auf die Tatsache, zum ersten Mal seit Jahren in einer Kirche zu sein und dann noch vor dem Altar zu agieren! Mit Blasmusik der Muthikos wurde der kalte Tag in einem Txoko abgeschlossen, einem typisch baskischen Vereinslokal.
Orchester mit vier Generationen Popmusik
Aufgrund der Wettervorhersage erlebte ein weiteres Gotteshaus am 17. September einen Besuch wie seit Jahren nicht. Die Kirche im Araitz-Tal unterhalb von Azkarate war brechend voll, denn angesagt waren „vier Generationen von Rockmusik“, fünf bekannte und teilweise legendäre Vertreter*innen der baskischen Musikkultur der letzten 40 Jahre: die junge Liedermacherin Izaro, der abgetretene Sänger Gorka Sarriegi von Sorotan Bele, Alex Sardui von der aktuellen Trend-Gruppe Gatibu, der Liedermacher Petti sowie der allseits bekannte und beliebte Altrocker Niko Etxart aus dem Nord-Baskenland. Begleitet wurden sie von einem vierzehnköpfigen Orchester, Et Incarnatus, dirigiert von Azken-Muga-Mitgründer Migel Zeberio. Mehr als 500 Zuhörer*innen zwischen 8 und 80 Jahren waren begeistert von zwei Stunden erfrischender Musik. Bereits im Herbst wurde dem Konzert ein Artikel bei Baskultur.info gewidmet. (3)
Film: Chronik der Karlistenkriege
Im kleinen Fronton von Azkarate fanden sich am 22. September nach Anbruch der Dunkelheit Geschichts-Interessierte ein, um einen Dokumentarfilm über die Geschichte des Zweiten Karlistenkrieges zu sehen. Anwesend und zur Diskussion bereit waren der Direktor, José María Tuduri und weitere am Film Mitwirkende. Auch der Chefredakteur der einzigen baskischsprachigen Tageszeitung des Baskenlandes, BERRIA, machte sich die Mühe, von Donostia zu kommen um die Diskussion anzuregen, obwohl dort gleichzeitig das Internationale Filmfestival eröffnet wurde. Leider verhinderte die nächtliche Septemberkälte eine anregende Diskussion, die von der Thematik durchaus gegeben war: ohne die Karlistenkriege ist das heutige Baskenland kaum denkbar und verstehbar, ihr Ausgang war der Ursprung für die Entwicklung des baskischen Nationalismus.
Hexen in den Aralar-Bergen – Ausstellung Zarate
Die Ausstellung in Zarate über die Geschichte der „Hexen-Frauen“ im Baskenland stellte die letzte große Aktivität im Mikeletes-Haus am Zarate-Pass dar. Ausgestellt wurden Abbildungen aus der Mythologie, Hexen-Geschichten, Geschichten von Andra Mari, der baskischen Urmutter, Tiere mit besonderen Fähigkeiten, Aspekte einer magischen Welt. Daneben hatten die Organisator*innen von Azken Muga drei Tage lang an Gebrauchsobjekten aus der Zeit der Inquisition getüftelt. Auf dem Vorplatz wurde ein Scheiterhaufen aufgestellt, im Zarate-Haus wurde ein Wagen gebaut, der an jene Karren erinnern sollte, in denen die geschorenen und gefolterten Hexenfrauen durch die Orte kutschiert wurden auf dem Weg zum Scheiterhaufen. Die im nahen Wald aufzufindenden Gräser und Kräuter wurden in Bündeln an die Wand gehängt, in einer Ecke wurde ein über dem Feuer hängender Topf installiert, der die Braukunst jener weisen Frauen darstellen sollte. – Zur Informations-Veranstaltung mit dem Titel „Von den Hexen zur Hexenverfolgung“ (Sorginatik Sorginkerirat am 29.9.) war die Schriftstellerin Koro Irazoki eingeladen, Autorin des Buches „Die Hexen von Zugarramurdi“ (Las brujas de Zugarramurdi). Koro Irazoki ist eine der bekanntesten Forscherinnen der Geschichte der „Hexen-Verfolgungen“, sie arbeitet unter anderem für das „Hexen-Museum“ im navarrischen Ort Zugarramurdi, der für die mittelalterliche Hexenverfolgung bekannt wurde. Koro verteidigt die „Hexen“, ihre Dienste, ihre Weisheit, ihr Wissen über die Heilkräuter. Und sie erinnerte an die fatale Rolle der Kirche. 1595 wurden dreizehn Frauen aus dem nahen Araitz-Tal festgenommen, bei ihrem Prozess fiel zum ersten Mal der Begriff Akelarre, was ungefähr Hexentanz bedeutet. Koro Irazoki beschrieb auch Inquisitions-Fälle von Lapurdi und Zugarramurdi und zählte die vielen Vergehen auf, die den Frauen vorgeworfen wurden.
Jazzarate: Malos Tiempos
Im späten September wurde das Wetter kurzzeitig noch einmal besser und erlaubte am 23.9. die Organisation eines stimmungsvollen abendlichen Jazz-Konzerts: Jazzarate, das heißt Jazz in Zarate, mit dem Duo „Malos tiempos“. Die Musiker spielten auf einer improvisierten Bühne mitten in einer Wiese, das Publikum trollte sich zwischen den Buchenbäumen. Zu Klängen von Klarinette, Saxofon und E-Bass begleitete die Abendsonne zum letzten Mal ein Ereignis von Azken Muga im Kalenderjahr 2017 auf dem Zarate-Pass.
Tanz, Musik und Konzerte in Baldorba
Der Folkloregruppe Muthiko Alaiak war es zu verdanken, dass Azken Muga bei der letzten Veranstaltung Zarate und dem Araitz-Tal den Rücken kehrte. Der letzte Weg führte in die Baldorba-Hügel im südlichen Navarra, etwa 80 Kilometer von Azkarate entfernt. Wieder waren Kirchen und Kapellen die Schauplätze für Tanz, Theater und klassische Konzerte: Puiu, Katalain und Orisoain. Der Anfang wurde vor und in der Kirche von Puiu gemacht. Muthiko Alaiak konzentrierten sich in diesem Fall auf das Theaterspiel, das auf dem Kirchenvorplatz stattfand: mittelalterliche Tänze, Spielmänner und Trunkenbolde. Ein Quintett begleitete dazu mit klassischen Stücken. Dann ging es zum zweiten Teil ins Innere der Kirche. Dort wurde das Publikum von zwei Musikern erwartet: Pedro Estevan aus Valencia mit verschiedenen Trommeln und der Baske Enrique Solinis mit seinen Gitarren spielten mittelalterliche Stücke im denkbar besten Ambiente. Wenige Kilometer weiter in Katalain wiederholte sich der Event mit denselben Akteur*innen und neuem Tanz, der Fortsetzung des Theaters und verschiedenen Musikstücken. Den Unterschied markierte die spontane Präsenz der Geigerin Miren Zeberio. Wer erwartet hatte, dass jeder Spielort ein neues Publikum erfordern würde, sah sich getäuscht, denn die Karawane zog (in den Kutschen des 21. Jahrhunderts) von Puiu nach Katalain, und anschließend auch noch in die Kirche von Orisoain. Dort war es bereits Nacht, als die mittelalterlichen Reigen auf dem Kirchplatz aufgeführt wurden, bevor das Trio Estevan-Zeberio-Solinis zum letzten Akt aufspielte. Den Abschluss bildete erneut eine Weinprobe. Für die meisten der Anwesenden war es ein einmaliger Nachmittag, nie zuvor hatten sie sechs Vorführungen an drei aufeinander folgenden Orten erlebt. Baldorba bleibt in Erinnerung.
Tanz und Marionetten in Tolosa
Zwar war das Azken-Muga-Programmjahr 2017 mit dem Event-Marathon in Baldorba beendet, doch nicht alle Pläne, Ideen und Projekte hatten Platz gefunden – nicht zuletzt des unbeständigen Wetters wegen. Deshalb musste es einen Nachschlag geben, der Moment dafür kam am 7. Januar des neuen Jahres 2018 in der gipuzkoanischen Bezirkshauptstadt Tolosa, 15 Kilometer von Azkarate entfernt. Hier kam zum ersten Mal der Meta-Heuhaufen zum Einsatz, der eigentlich als AM-Symbol 2017 vorgesehen war. Auf dem Stadtplatz war er zu bewundern. Der Bildhauer Guillermo Olmo hatte die Zwischenzeit genutzt, ein weiteres Symbol fertigzustellen: eine aus verschiedenen bunten Kreishölzern bestehende Kugel, die den Namen „Eine bessere Welt ist möglich“ trug (Beste mundu bat posible da). Auf dem überdachten Marktplatz der Stadt tanzten und musizierten die navarrischen Gruppen Muthiko Alaiak und Ortzadar, sowie Udaberri aus Tolosa, viele aus dem Publikum schlossen sich dem Volkstanz an. Es folgte ein Marionetten-Spiel für das junge Publikum. Trotz Regen ging es anschließend musizierend und tanzend durch die Altstadt. Das anschließende Mittagessen zog sich – wie im Baskenland häufig der Fall – bis in den frühen Abend: für den Begriff „sobremesa“ gibt es keine Übersetzung, es ist die lange Unterhaltung nach dem Essen, mit viel Nachtisch, Kaffee und Alkohol. So ging Azken Muga 2017 mit einem vorzüglichen Gulasch-Essen in einem Tolosa-Txoko bei Musik von Jugendlichen aus der Stadt zu Ende.
Azken-Muga-Symbole
Symbol von Azken Muga 2016 ist der gigantische Stuhl „Aulkia“, der auch in das Logo des Festivals Eingang gefunden hat. Das für 2017 vorgesehene Symbol war ein ebenfalls überdimensional großer Heuhaufen – „Meta“ – der aus technischen Gründen erst spät fertig gestellt werden konnte, weshalb er nur die letzte Veranstaltung in Tolosa erlebte.
Veranstalter und Unterstützung
Hauptveranstalter des Kunst- und Kultur-Festivals Azken Muga ist der gemeinnützige Verein Azken Muga. Tragende Säule bei Azken Muga sind das Orchester „Et Incarnatus Orkestra“ aus Tolosa und die Tanz- und Musikgruppe Muthiko Alaiak aus Pamplona. Im Jahr 2017 schloss sich der baskisch-deutsche Kulturverein Baskale aus Bilbao der Organisationsgruppe an. Dazu kamen verschiedene individuelle Unterstützer*innen aus der Gegend Tolosa, Betelu, Azkarate, Amezketa, Altzo und Arribe. Die Bürgermeister des Araitz-Tals unterstützen das Festival ebenso wie die Stadtverwaltung Tolosa, die Kulturabteilung der Provinzregierung Gipuzkoa und jene der navarrischen und der baskischen Regierung.
LINKS:
(*) Azken-Muga Blog (Link)
(*) Eine lange Reihe von Fotoreportagen zum Azken-Muga-Festival 2017 findet sich bei Flickr im Foto-Archiv-Txeng (Link)
(*) Azken-Muga Webseite: eine neue Webseite des Kunst- und Kultur-Festivals ist derzeit in Arbeit und wird im Frühjahr 2018 vorgestellt.
ANMERKUNGEN:
(1) „Azken Muga, Letzte Grenze – Partizipatives Kunst- und Kultur-Projekt“ (Link)
(2) „Kunst im Wald: Letzte Grenze – Kunst und Kultur“ (Link)
(3) „Azken Muga orchestral“ (Link)
(4) Kulturelle Landpartie (Link)
(5) Artikel Baskultur.info „Von Schafen, Wolle und Käse – Latxa, das baskische Schaf“ (Link)
(6) Aranzadi: Die Wissenschafts-Gesellschaft Aranzadi wurde 1947 gegründet mit der Absicht, die Arbeit der im Franquismus verbotenen Gesellschaft für Baskische Studien fortzuführen. Ihr Zweck ist die wissenschaftliche Erforschung von Natur und menschlichem Wirken. Ihren Namen hat die Gesellschaft von Telesforo de Aranzadi, einem bekannten Anthropologen und Ethnologen (1860-1945). Besondere Bedeutung kommt Aranzadi heutzutage bei der Aushebung von Massengräbern aus der Zeit des Spanischen Krieges und der Identifizierung der dort gefundenen Opfer des Faschismus zu. (Baskultur.info)
(7) José Miguel de Barandiarán y Ayerbe (1889-1991) war ein baskischer Pfarrer, Anthropologe, Ethnologe und Archäologe. Seiner Arbeit zu verdanken sind die wissenschaftlichen Auswertungen zahlreicher Ausgrabungen von urzeitlichen Stätten und Hinterlassenschaften im Baskenland. Dolmen und Cromlechs, eisenzeitliche Kult- und Totenstätten wurden dabei gefunden und freigelegt. Der Spanische Krieg unterbrach die Forschungsarbeit. Erst 1953 konnte er zurückkehren, just zu dem Zeitpunkt als in Salamanca an der Universität die Professur für baskische Studien eingerichtet und zu der er als Gastdozent eingeladen wurde, um einen Vortrag zu halten über "Die aktuelle Situation der baskischen Studien". Er starb 101jährig nach einem Leben voller historisch wertvoller Ausgrabungen, wissenschaftlicher Analysen und Publikationen. (Baskultur.info)
(8) Artikel bei Baskultur.info: “José Miguel de Barandiarán – Baskische Anthropologie” (Link)
ABBILDUNGEN:
(*) Azken Muga Festival 2017 (foto-archiv-txeng)