Fortgesetzte Ausnahmejustiz
Die zivilgesellschaftliche Initiative “SARE“ (Netz), die sich mit der Situation und den Rechten der baskischen politischen Gefangenen beschäftigt, hat eine Bilanz der Verhältnisse im Gefängnis gezogen. Nach einem Jahr mit einigen Fortschritten, in dem jedoch die juristische Blockade des Madrider Polit-Gerichts Audiencia Nacional weiter anhielt. Haftentlassungen auf Bewährung wurden abgelehnt, Freigangs-Genehmigungen ebenfalls. "Unter den derzeitigen Umständen gibt es keinerlei Recht-fertigung", so SARE.
Zwar hat die baskische Regierung seit Herbst 2021 die Kompetenz für die Verwaltung der baskischen Gefängnisse, doch werden wesentliche Entscheidungen weiterhin in Madrid getroffen: von der Audiencia Nacional.
Was ist unter “den derzeitigen Umständen“ zu verstehen, auf die sich SARE bei ihrer Kritik an der spanischen Justiz bezieht? Tatsache ist, dass ETA vor genau 13 Jahren ihre letzte bewaffnete Aktion durchgeführt hat. Vor 11 Jahren (2011) verkündete die Organisation ihren definitiven Gewaltverzicht. 2017 gab ETA die Positionen ihrer Waffendepots und ein Jahr darauf ihre Auflösung bekannt. Damit ist ETA Geschichte.
Fortgesetzte Dispersion
Oder nicht ganz Geschichte, denn zur Aktualität gehören die verbleibenden Gefangenen, die im Zusammenhang mit ETA einsitzen. Mit wenigen Ausnahmen verbüßten diese Gefangenen ihre Strafe bis auf den letzten Tag, obwohl die spanische Rechtsprechung Entlassungen nach zwei Drittel oder drei Viertel der Strafen vorsieht. Bis zum Ende der Regierung der postfranquistischen PP im Jahr 2018 wurde von der Justiz die umstrittene und illegale Dispersion aufrechterhalten, das heißt, die möglichst weit entfernte Inhaftierung der Gefangenen, in Andalusien, Murcia, Madrid oder Galicien.
Eine Änderung brachte erst der Regierungswechsel 2018. Die sozialliberale Minderheits-Regierung von Sozialdemokraten und Podemos “erkaufte“ sich die parlamentarische Zustimmung der baskischen Linken mit dem Versprechen, die Gefangenen definitiv ins Baskenland (oder in die Nähe) zu verlegen. Dieses Versprechen wurde ab 2020 umgesetzt.
Autonome Gefängnis-Kompetenz
Weitere Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation der Gefangenen machte die Übergabe der Kompetenz der Gefängnis-Verwaltung von der Zentralregierung in die Hände der baskischen Regional-Exekutive. Diese Kompetenz war eigentlich schon im Autonomie-Statut von 1979 verankert, doch die folgenden Regierungen in Madrid drückten sich mit Ausreden immer um die Umsetzung (dies galt auch für weitere Artikel aus dem Statut).
Die neuen baskischen Gefängnis-Behörden versprachen ein anderes, stark auf Wiedereingliederung setzendes Modell und machten sich an die Arbeit. Auch für die politischen Gefangenen wurden Resozialisierungs-Pläne gemacht, in vielen Fällen sprachen sich Gutachter für Ausgänge, Freigang oder vorzeitige Entlassung aus. Diese Entscheidungen konnten jedoch nur zum Teil umgesetzt werden, weil das Politgericht in Madrid Einspruch erhob. Vor dem Hintergrund, dass Maßnahmen im Zusammenhang mit allen von der Audiencia Nacional verurteilten Personen an gleicher Stelle entschieden werden. Das führte zu der surrealistischen Situation, dass im Baskenland Gefangene auf Bewährung entlassen wurden und die AN ihre Wiederinhaftierung veranlasste.
Ende von ETA
So viel zu den “aktuellen Umständen“ von SARE. Die Organisation hat diese AN-Strategie in einer Reihe von Fällen ausführlich erklärt, bei denen Haftentlassung auf Bewährung oder Freigangs-Genehmigungen verweigert wurden und fügt hinzu:
“Dreizehn Monate nach dem Ende der extremen Dispersion zeigt die Realität, dass sich immer noch 47 baskische Gefangene außerhalb von Euskal Herria befinden und dass darüber hinaus die Engstirnigkeit der Audiencia Nacional in Bezug auf das Recht auf Freiheit und die Erteilung von Genehmigungen fortbesteht“ (1). Joseba Azkarraga und Bego Atxa, die beiden Sprecher*innen von SARE, betonten dies kürzlich in Donostia mit dem allgemeinen Hinweis: "Wir fordern keine Privilegien für die Gefangenen. Wir fordern ein Ende der Sonderregelungen. Wir sagen Nein zu den alten Kriterien der Antiterror-Politik, denn seit dem Verschwinden von ETA sind elf Jahre vergangen und vier Jahre seit ihrer Auflösung".
Null-Kilometer für Besuche
Ihre Analyse begann SARE mit der noch offenen Frage der Beendigung des Rückführungsprozesses. Die Sprecherinnen verwiesen auf die "zwar langsame, aber positive Entwicklung" in diesem Jahr, erinnerten aber daran, dass es "einerseits Rückschläge gegeben hat und andererseits neue Bewegungen, die uns hoffen lassen, dass wir das Null-Kilometer-Ziel in den kommenden Monaten erreichen". Noch 47 Gefangene befinden sich außerhalb des Baskenlandes, in Entfernungen bis zu 350 Kilometern und SARE drängt darauf, in diesem Jahr alle ins Baskenland und nach Navarra zu holen.
"Die Erfahrung zeigt uns, dass alles, was von der spanischen Strafvollzugs-Behörde abhängt, von Stagnation geprägt ist. Deshalb ist es notwendig, weiterhin darauf zu bestehen und darauf zu drängen, dass das, was die große politische Mehrheit inzwischen als unbestreitbares Recht ansieht, nämlich die Verbüßung der Strafe in den Gefängnissen, die dem Wohnort am nächsten liegen, absolut und dringend respektiert wird", so SARE.
Die Zahlen im spanischen Staat sind eindeutig: Vier Jahre nach der von Pedro Sánchez angekündigten Änderung der Gefängnispolitik befinden sich immer noch 28% dieser Gefangenen weit entfernt von ihrem Wohnort im spanischen Staat, insgesamt 47. In den Fällen von Estremera, Topas, Dueñas oder Daroca müssen von Gasteiz aus mehr als 350 Kilometer (700 hin und zurück) zurückgelegt werden, "für einen Besuch von 40 Minuten. Leider können wir noch nicht feststellen, dass die Politik der Dispersion beendet ist".
"Gefangen im Spinnennetz"
Für den Rest des Jahres besteht Hoffnung, bei einem anderen, wichtigeren Thema sieht es eher schlecht aus. "Die Rückkehr der baskischen Gefangenen in die Gesellschaft oder, genauer gesagt, die Rückkehr in ihre Heimat gemäß der normalen Anwendung der Gesetze, ohne dieses Spinnennetz der Ausnahme-Justiz".
Trotz der zaghaften Schritte war ein Jahr der Verzweiflung", so das Fazit von Atxa und Azkarraga. Einigen der Gefangenen ist es gelungen, in das System der Genehmigungen zu kommen, andere haben weitere Fortschritte gemacht und sind in den dritten Haftgrad aufgestiegen, eine Form der Halbfreiheit, was wir unbedingt positiv bewerten müssen. Das Problem entsteht, wenn der Prozess der Rückkehr in die Heimat durch die Entscheidungen verschiedener Organe und Verwaltungen behindert wird, aufgrund dieser Ausnahme-Justiz, in der die Audiencia Nacional eine entscheidende Rolle spielt, mit drei Instanzen, in deren Händen alles endet: die Staatsanwaltschaft der AN, das Zentrale Gericht für Strafvollzug und die Strafkammer der AN".
Diese Justizorgane verharren weiterhin "in einer Position, die jeden Fortschritt in Richtung Normalität blockiert". Es gibt eine Blockade in Bezug auf Freigang; eine Blockade der Möglichkeit, dass Gefangene in Halbfreiheit kommen; und eine Blockade, dass Strafen wegen guter Führung reduziert werden, worauf prinzipiell alle Häftlinge ein Recht haben".
Auch hier legt SARE anschauliche Zahlen vor: "Objektiv betrachtet und unter Berücksichtigung der verbüßten Haftzeit müssten 90 % der baskischen Gefangenen (etwa 160) Genehmigungen erhalten, aber nur bei 30 ist dies der Fall. Dasselbe gilt für den Übergang in den dritten Freigangs-Grad: aufgrund ihrer Haftzeit müsste dies auf 80 Gefangene zutreffen, aber nur 20 sind in dieser Situation".
Sprachrohr der extremen Rechten
"Es wäre naiv, diese Situation auf juristische Gründe zurückzuführen. Das Ganze hat einen politischen Hintergrund in den Justizorganen und, wie wir vor einigen Tagen sagten, weil die Audiencia zum Rechtsorgan der extremen Rechten geworden ist", so die Sprecher*innen von SARE. Dieses juristische Vorgehen wurde als "grausam und illegal" gebrandmarkt, zumal es im Widerspruch zu den Entscheidungen der Gutachter*innen in den Gefängnissen steht, "die die Entwicklung der baskischen Gefangenen besser kennen".
"Von SARE müssen wir als positiv anerkennen, dass in den Gefängnissen selbst Anstrengungen unternommen werden, um die verheerenden Folgen der Ausnahme-Justiz zu verhindern. Diese Gesetzgebung muss entweder radikal anders ausgelegt oder aufgehoben werden, sonst wird es für einige dieser Gefangenen unmöglich, lebend entlassen zu werden", warnten sie.
"Im Gefängnis verfaulen"
"Im Strafvollzug müssen ausschließlich Kriterien der Gerechtigkeit angewandt werden, keine Rache-Motivation oder politischen Kriterien, damit Leute, die perfekt in der Lage sind, in die Gesellschaft zurückzukehren, nicht sinnlos in Gefängnissen bleiben", so Azkarraga und Atxa. Dabei erinnerten sie an den Satz von José María Aznar, der zum Gesetz 7/2003 führte, das immer noch in Kraft ist: die politische Rechte im Staat sprach mehrfach ganz offen davon, die Haftbedingungen müssten so gestaltet sein, dass die Gefangenen im Gefängnis verfaulen“. Eine ganz spezielle Auffassung von Menschenrechten, Strafvollzug und Wiedereingliederung – solche Exzesse sind 100% politische Justiz, wie aus dem Franquismus gewohnt.
Fazit
Abschließend betonte SARE, dass "die überwiegende Mehrheit der baskischen Gesellschaft hinter den Institutionen steht, die sich für Normalisierung und Koexistenz einsetzen. Angesichts einer Gesetzgebung, die diesen Gefangenen drakonische Bedingungen für ihre Rückkehr in die Gesellschaft auferlegt, ist es unverantwortlich, passiv zu bleiben. Vor allem wenn man bedenkt, dass es sich um Leute handelt, die bereits fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig und manche sogar mehr als dreißig Jahre im Gefängnis verbracht haben und jahrelang einer Strafvollzugs-Politik ausgesetzt waren, die viele ihrer Rechte verletzte".
Daher fordert SARE die Anerkennung verschiedener Rechte: "Die Verbüßung der Strafe in der Nähe des Wohnsitzes, Recht auf Familienleben, auf Gesundheit, auf Nichtverlängerung der Strafe und die Abschaffung aller Ausnahme-Regelungen". In der PP, bei den Faschisten von Vox und in der starken rechtsextremen Lobby der “Verbände der Terrorismus-Opfer“ wird jeder kleinste Schritt zu Hafterleichterungen schärfstens kritisiert. Nach deren Auffassung müsste lebenslange Haft eingeführt und die sozialliberale Regierung in die Wüste geschickt werden.
"Wir sind schon spät dran. Diese Normalisierung ist längst überfällig. Jeder hat seine Verantwortung, und wir übernehmen die unsere: mit Klagen und Mobilisierungen daran zu erinnern, dass die Existenz von fast 200 Menschen, die ihrer Freiheit beraubt sind, unter den derzeitigen Umständen in keiner Weise gerechtfertigt ist", so SARE abschließend.
ANMERKUNGEN:
(1) “130 presos privados de permisos y 60 de libertad: No pedimos privilegios, dice Sare“ (130 Häftlinge erhalten keine Genehigungen und 60 nicht aus der Haft entlassen: Wir fordern keine Privilegien, sagt Sare), Tageszeitung Gara, 2022-08-12 (LINK)
https://www.naiz.eus/eu/info/noticia/20220812/sare-detalla-130-presos-privados-de-permisos-y-60-de-libertad-no-pedimos-privilegios
ABBILDUNGEN:
(1) Sare (naiz)
(2) Sare (cronicavasca)
(3) Sare (naiz)
(4) Sare (deia)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-08-13)