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Karlistenkrieg im Stummfilm

Die baskische Filmbranche feiert einen ganz besonderen Jahrestag. Im Oktober 1920, vor genau hundert Jahren, wurde der erste Spielfilm im Baskenland gedreht. Regie führte die unter dem Pseudonym “Musidora“ bekannte Filmpionierin Jeanne Roques aus Paris, die gleichzeitig auch als Koproduzentin und Hauptdarstellerin auftrat. Der Stummfilm hatte von Anfang an zwei offizielle Titel. “Pour Don Carlos“ hieß er im französischen Staatsgebiet, auf spanischer Seite trug er den Namen “La Capitana Alegría“.

Einhundert Jahre nach seiner Premiere im Jahr 1920 wurde der erste vollständig im Baskenland gedrehte Spielfilm “Pour Don Carlos“ bzw. “La Capitana Alegría“ im Oktober 2020 in digitalisierter Version wieder vorgestellt.

Die Wiederveröffentlichung geht zurück auf eine Initiative des Karlismus-Museums in Lizarra (span: Estella) in der baskischen Region Navarra. Das hat einen konkreten Hintergrund, der bereits im französischen Titel des Films zum Ausdruck kommt: “Pour Don Carlos“ – denn ein gewisser Carlos (Karl) war der damalige Thronfolge-Konkurrent um die spanische Krone. Die Handlung spielt in den Jahren 1875 und 1876 und erzählt die Abenteuer eines jungen Mannes, der den Auftrag hat, den Aufenthaltsort der karlistischen Befehlshaberin Alegría Detchard ausfindig zu machen, einer glühenden Verteidigerin von Don Carlos, der den Thron der spanischen Monarchie für sich reklamiert. (1)

Der Film spiegelt den politisch-kulturellen Konflikt zwischen Absolutismus und Liberalismus, der (beflügelt von der bürgerlichen französischen Revolution) im spanischen Staat im 19. Jahrhundert zu drei sogenannten Karlisten-Kriegen führte. In diesen Kriegen ging es um die gesellschaftliche Neuordnung des Staates und des Baskenlandes.

musidora2Karlistenkriege

Um den historischen Gegenstand des Films und die karlistische Ideologie einordnen zu können, an dieser Stelle ein kurzer Rückblick. Nach der französischen Revolution und dem von Frankreich ausgehenden politischen Liberalismus formierten sich im spanischen Staat zwei Lager. Die Traditionalisten waren von reaktionärer Weltanschauung, sie waren streng katholisch, forderten die Wiedereinführung der Inquisition und verteidigten die absolutistische Monarchie. Hinter ihnen standen die einfachen Leute, Bauern und Handwerker, der niedere Klerus und Teile des Adels, sie stellten die Mehrheit der Bevölkerung.

Demgegenüber standen die sogenannten Liberalen, ihr Anliegen war ein moderner Staat von zentralistischer Prägung. Zu ihren Anhängern gehörte die Bevölkerung der wachsenden Städte, die aufstrebende Bourgeoisie und der Großteil des Adels. Die spanische Königsfamilie, die Borbonen,war gespalten. Im Hintergrund stand ein gesellschaftlicher Wandel der Produktionsformen. Manufakturen und industrielle Produktion waren im Aufwind, dafür musste das kommunale Landeigentum abgeschafft werden, was die Produktionsform in der Landwirtschaft und die Lebensgrundlagen der einfachen Leute in Frage stellte. Mit der sog. Desamortisation wurde das kommunale Land (teilweise auch kirchliche Ländereien) der neuen Bourgeoisie zur Ausbeutung zugänglich gemacht. Es war die Geburtsstunde des spanischen Kapitalismus.

Auslöser der Kriege war ein Thronfolge-Streit. König Fernando VII starb 1833 ohne männlichen Nachwuchs, deshalb änderte er das Nachfolge-Recht zugunsten seiner Tochter Isabel. Sein Bruder Carlos Maria Isidro sah sich dagegen als der rechtmäßige Thronfolger. Ein Krieg war vorprogrammiert (1833 bis 1840). Weil es für die baskische Landbevölkerung um ihre Lebens- und Produktionsformen ging und um die baskischen Selbstverwaltungs-Rechte, die Fueros, die dem liberalen Zentralismus zum Opfer fallen sollten, stellten sie sich auf die Seite des Herausforderers Carlos (von seinen Anhängern Carlos V genannt, Karl V.), der den Erhalt der Fueros versprach.

Der historische Begriff – Karlistenkriege, Guerras Carlistas – leitet sich vom Namen der drei aufeinander folgenden Thron-Prätendenten mit dem Namen Carlos ab (im zweiten Karlistenkrieg 1846 bis 1849 stand Carlos Marias Sohn Carlos Luis im Mittelpunkt, von seinen Anhängern Carlos VI genannt; im dritten Krieg 1872 bis 1876 war es Carlos Borbon, Carlos VII). Der erste und der dritte Karlistenkrieg spielten sich in verschiedenen spanischen Regionen ab, der zweite vorwiegend in Katalonien. Mit der Niederlage im dritten Krieg waren die Fueros der Basken verloren. Sie sollten erst nach dem Franquismus in Form von Autonomie-Statuten wieder hergestellt werden.

musidora3Der Karlismus im Film

Im Jahr 2018 wurde im Karlismus-Museum in Lizarra (Museo del Carlismo) eine temporäre Ausstellung mit dem Titel “El carlismo desde el cine“ (Der Karlismus in der Filmwelt) vorgestellt, die von der Regional-Regierung Navarras finanziert wurde. Ziel der Bemühungen war es, alle Filme zusammenzutragen, die sich mit dem Thema Karlismus befassen. Unter ihnen befand sich der erste und fast schon legendäre Film “Pour Don Carlos“ bzw.“La Capitana Alegría“ (3). Kurator der Ausstellung war Eneko Tuduri Zubillaga, geboren 1990 in Donibane Lohizune (frz: Saint-Jean-de-Luz, im französischen Baskenland). Dessen Vater, der Filmemacher Jose Mari Tuduri, hatte sich ebenfalls mit Filmen über die Karlisten beschäftigt.

“Durch meinen Vater hatte ich von der Existenz dieses Films von 1921 gehört – schreibt Eneko – der wie viele Nitratfilme vor dem Spanienkrieg und dem Zweiten Weltkrieg in den Augen der meisten Experten als verschollen galt. Meine Überraschung war groß, als ich feststellte, dass die Cinémathèquevon Toulouse gerade dabei war, eine Filmkopie zu restaurieren und zu digitalisieren, die den Lauf der Zeit auf wundersame Weise überlebt hatte“(1). Als das Toulouse-Projekt bekannt wurde, übernahm die Regional-Regierung von Navarra eine Teilfinanzierung der Restaurierung des Films und legte die Verantwortung in die Hände der Direktorin des ethnografischen Museums Lizarra, Susana Irigaray Soto. Fast hundert Jahre später konnte der Film somit vom Karlismus-Museum wieder veröffentlicht werden.

musidora4Carlos und Alegría

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman des französischen Schriftstellers Pierre Benoit (1886-1962) aus dem Jahr 1920. Er spielt in den letzten Monaten des Jahres 1875 und in den ersten Monaten des Jahres 1876, am Ende des dritten und letzten Karlistenkrieges. Erzählt wird die Geschichte der Abenteuer eines jungen Mannes namens Olivier, der nach der Befehlshaberin Alegría Detchard (3) suchen soll, einer Baskin, die sich beim Rückzug der karlistischen Truppen nach Frankreich eifrig für die Sache von Don Carlos eingesetzt hatte. Die Befehlshaberin wird von der Ko-Regisseurin Musidora selbst gespielt. So präsentiert sich uns eine Abenteuer-Geschichte, in der die Protagonistin, eine Heldin im besten romantischen Stil, bis zum bitteren Ende um den Thron für Karl VII. kämpft. Wegen ihrer Unerbittlichkeit und ihres kämpferischen Einsatzes wird die Heldin in blinder Liebe von dem jungen Olivier bewundert, der ihr auf Schritt und Tritt folgt. Eine Geschichte ganz nach französischem Geschmack, in der die Exotik, die den Kriegen des 19. Jahrhunderts anhaftete und die von der Auseinandersetzung zwischen Absolutismus und Liberalismus geprägt war, von der Hauptdarstellerin überzeugend in Szene gesetzt wurde.

Superproduktion

Der Film “Pour Don Carlos“ oder “La Capitana Alegría” weist gleich mehrere Besonderheiten auf. Laut aktuellem Wissenstand handelt es sich um den ersten Spielfilm in der Geschichte des Baskenlandes, der vollständig auf baskischem Terrain gedreht wurde. Alle Szenen spielen im Jahr 1920 zwischen den Provinzen Lapurdi, Nafarroa und Gipuzkoa.

Der Film hat eine Gesamtdauer von drei Stunden und würde heute als eine Superproduktion bezeichnet werden. Die wiederveröffentlichte aktuelle Version hingegen dauert neunzig Minuten. Selbstverständlich gab es zuvor bereits Filmproduktionen, allerdings waren diese wesentlich kürzer. So zum Beispiel der Film “Vicenta“ von 1919, der teilweise in den baskischen Städten Hendaia (frz: Hendaye) und Pasaia (span: Pasajes) auf beiden Seiten der Staatsgrenze gedreht wurde und ebenfalls Musidora zur Protagonistin hatte.

musidora5Unterschiedliche Erfolge

Der Film feierte ein internationales Debüt. Über Europa hinaus wurde er auch in den Vereinigten Staaten und in den französischen und britischen Kolonien gezeigt. Im Jahr 1921 kam er in Großbritannien, den USA, Deutschland, der Tschechoslowakei, Ägypten und Syrien auf die Leinwand. In Frankreich erzielte er besonders gute Ergebnisse, denn 1950 kam eine Version der Geschichte in Operetten-Format auf die Bühne und wurde erneut zu einem großen Erfolg. Im spanischen Staat nahm Musidora Vertriebs-Verhandlungen auf, doch es scheint, als hätte es Probleme bei der Premiere gegeben, denn nach den Worten des Vertreibers “bevorzugen die Filmvertriebe in Spanien das amerikanische Filmgenre“. Jedenfalls wurde der Film auch vom damaligen König Alfonso XIII besucht, der den Ruf eines Filmliebhabers hatte.(1)

Die in der Cinémathèque in Paris verfügbaren Filmkredite weisen je nach Version einen gewissen Jacques Lasseyne (oder Lassègue) als Regisseur und Produzent aus. Dabei handelt es sich um das Pseudonym des aus Bizkaia stammenden Jaime de Lasuen Reischach (geb. 1888), der als Filmemacher in Paris lebte und Anhänger der Karlisten war. Unter Lasuens Anleitung und Finanzierung erreichte der Film in Bezug auf Kostüme und Kulisse eine große Qualität, wobei die Uniformen der Karlisten und Liberalen wahrscheinlich authentisch aus dem damals letzten Karlistenkrieg von 1872 bis 1876 stammten. Als Anekdote wurden Kanonen der Garnison von Donostia verwendet, die ebenfalls im letzten Karlistenkrieg zum Einsatz gekommen waren. So wurde der Film zu einem der ersten Filme, der von einem Basken produziert und vollständig im Baskenland gedreht wurde.

Dreharbeiten in Gipuzkoa

Der Großteil der Szenen wurde in Gipuzkoa gedreht, wobei die Kleinstädte Hondarribia (spanisch: Fuenterrabía) und Oiartzun, sowie die Berglandschaft Aiako Harria (spanisch: Peñas de Aya) als natürliche Schauplätze genutzt wurden, ohne dass Studioaufnahmen erforderlich gewesen wären. “Außerdem wurde offenbar auch im Kasino von Biarritz und im navarrischen Vor-Pyrenäenort Elizondo gedreht – diese beiden Schauplätze sind im Drehbuch enthalten, das ich selbst lesen konnte. Einheimische, zum Beispiel aus Oiartzun, wurden als Statisten eingestellt. Damit erhielt der Film zusätzlich einen wichtigen dokumentarischen Charakter. Viele der Landschaften, Gebäude, Bauernhöfe, Kleidungs-Traditionen sind heute verschwunden. Im Film werden sie so gezeigt, wie sie 1920 waren. Es ist auch einer der wenigen Filme, der vor dem Spanienkrieg 1936 bis 1939 entstand und heute noch zu sehen ist“, beschreibt Eneko.(1)

musidora6Musidora

“Schließlich, und das ist meiner Meinung nach das Wichtigste“ – betont Eneko – “wurde der Film von der Figur der Musidora geschrieben, inszeniert und dirigiert. Jeanne Roques erlangte Ruhm für ihre Rolle in Louis Feuillades Film “Les Vampires“, in dem sie die Rolle der Bösewichtin Irma Vep spielte. Dabei handelte es sich um eine zehnteilige Stummfilm-Serie der Jahre 1915/16 über eine Verbrecherbande, die sich selbst als “die Vampire“ bezeichnete. Jeanne Roques wurde bald zur Muse der Surrealisten, daher ihr Spitzname “Musidora“.

Da sie sich nicht mit ihrer Rolle als Schauspielerin begnügen wollte, begann sie bald, eigene Filme zu produzieren und zu drehen, wobei sie die Landschaften des Baskenlandes sowie Südspaniens als Schauplätze für ihre Handlungen wählte. Die Filme “Vicenta“ und “Pour Don Carlos“drehte sie im Baskenland, “Soleil et ombre“ (1922) und “La terre des taureaux“ im Jahr 1924 in Andalusien. Heute ist sie in Frankreich eine historische Figur von großer Bedeutung und eine wichtige Pionierin in der Geschichte des Kinos.

In der Korrespondenz (die der Artikelautor einsehen konnte) war im mondänen Donostia-San Sebastián bereits im Jahr 1920 von den Dreharbeiten zu dem “berühmten Film“ die Rede. “Pour Don Carlos“ oder “La Capitana Alegría“ war damals ein gesellschaftliches Ereignis und ein Geschenk für das Baskenland jener Zeit. Dass dieser Film hundert Jahre nach seinem Erscheinen aus der Vergessenheit gerettet werden konnte, ist ein weiterer Baustein für das Mosaik der baskischen Kultur und Geschichte. (1)

Der Autor des Original-Artikels in spanischer Sprache ist Eneko Tuduri Zubillaga (1990, Donibane Lohizune, frz: Saint-Jean-de-Luz). Er hat einen Universitäts-Abschluss in Kunstgeschichte und promoviert derzeit an der Universität von Reno (Nevada) über mittelalterliche Wandmalerei in Navarra.


ANMERKUNGEN:

(1 ) Zitate aus dem Artikel “Cine-Euskal-Herria-Musidora“ (Kino-Baskenland-Musidora) von Eneko Tuduri Zubillaga, Tageszeitung Noticias de Navarra, 2020-10-11. (LINK)

(2) Karlismus, Wikipedia (LINK)

(3) Der spanische Filmtitel lautet “La Capitana Alegría”. Capitana wird direkt übersetzt mit dem seltsam klingenden, geschlechts-integrierenden Begriff “Hauptfrau”, in Anlehnung an das männliche “Hauptmann”. In der Übersetzung bevorzugen und benutzen wir den neutraleren Begriff “Befehlshaberin“.

ABBILDUNGEN:

(1) Musidora Collage (FAT)

(2) Filmplakat (cuartopoder)

(3) Don Carlos (vicente lopez)

(4) Musidora (wikipedia)

(5) Filmszene (diario de navarra)

(6) Musidora (film affinity)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2020-11-29)

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