Von Helden und neuen Typen
Vom 14. Juli bis zum 22. Oktober 2017 zeigt das Guggenheim-Museum in Bilbao die Werkserien des deutschen Malers und Bildhauers Georg Baselitz (*1938). Dabei handelt es sich um die Serien „Die Helden“, „Die neuen Typen“, Frakturbilder und „Remix“ – eine spezifische Aufarbeitung der menschlichen Folgen des Zweiten Weltkriegs. Georg Baselitz gilt als einer der bedeutendsten Künstler im Nachkriegs-Deutschland, der sich zu Beginn seines kreativen Schaffens mit den Kunstpäpsten in Ost und West anlegte.
Georg Baselitz' Bilderserie „Die Helden“ stellt die psychische und physische Verstümmelung der Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg dar, es ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Diktaturen jener Zeit. Ein provokatives Werk.
Um das Schaffen von Georg Baselitz zu verstehen, ist es notwendig, seine Kindheit und die Umstände des Beginns seiner künstlerischen Laufbahn zu kennen. Darauf legten die Ausstellungs-Kommissarinnen in Bilbao – Eva Mongi-Vollmer und Petra Joos – großen Wert. Georg Baselitz wurde 1938 im späteren Osten Deutschlands geboren, als der Nazismus seinen großen Krieg vorbereitete. Seine jungen Jahre waren vom Krieg geprägt, mit sechs Jahren erlebte er persönlich die schwere Bombardierung von Dresden durch die Alliierten. Als Deutschland geteilt wurde, traf ihn der sozialistische Teil, den er als autoritär und unkreativ empfand.
Kindheit und Jugend
Mit keinem der beiden Deutschländer konnte sich Baselitz identifizieren, er blieb auf der Flucht vor beiden politischen Systemen. Umso mehr, als der Kalte Krieg eine kreationsfeindliche Umgebung darstellte. „Was ich niemals vermeiden konnte war Deutschland und Deutscher zu sein“ – dieser Satz des Künstlers bringt sein Unwohlsein gegenüber seinem Ursprungsland zum Ausdruck. Baselitz empfand nicht nur den Krieg selbst, sondern auch die Nachkriegszeit als einen Zustand von kontinuierlicher Zerstörung. Alles war von Ideologie und dem Streit der politischen Systeme geprägt, auch die künstlerischen Ausdrucksformen. Er wurde zum Zweifler und versuchte, diesen Pessimismus in seinen Bildern zum Ausdruck zu bringen. Mehrfach verstieß er dabei gegen die ungeschriebenen Regeln der Zeit. Im deutschen Osten beengten ihn die Regeln der realsozialistischen Kunstmaschinerie, im Westen wollte niemand etwas von den Kriegserfahrungen wissen, deren Aufarbeitung für Baselitz jedoch essenziell war.
Künstlerische Laufbahn
Georg Baselitz wurde 1938 in Deutschbaselitz, Sachsen geboren, sein eigentlicher Name ist Hans-Georg Kern. „Nach Kindheit, Schule und Abitur in seiner Oberlausitzer Heimat begann er mit 18 Jahren ein Studium der Malerei an der Hochschule für bildende Künste in Berlin-Weißensee (Ost-Berlin). Bereits hier zeigte sich seine individuelle Persönlichkeit, die so gar nicht den sozialistischen Vorstellungen der DDR entsprach. Dies führte nach zwei Semestern zum Verweis von der Hochschule, wegen ‘gesellschaftspolitischer Unreife‘. 1957 setzte er sein Studium an der Hochschule der bildenden Künste in West-Berlin fort, dem 1958 der endgültige Umzug nach West-Berlin folgte. Hier setzte er sich verstärkt mit den Theorien von Kandinsky, Nay und Malewitsch auseinander“ (1).
Im Jahr 1961 nahm er den Künstlernamen Georg Baselitz an, angelehnt an seinen Geburtsort. Gemeinsam mit seinem Kollegen Eugen Schönebeck gestaltete er eine Ausstellung in Berlin. Auch im Westen entsprachen seine Werke nicht den gesellschaftlichen Werten und Normen, was 1963 zum Skandal führte. Seine bei der ersten Einzelausstellung gezeigten Bilder „Die große Nacht im Eimer“ und „Der nackte Mann“ waren Gegenstand eines inszenierten Skandals, der zur Beschlagnahmung zweier Werke durch die Staatsanwaltschaft führte.
Georg Baselitz’ Gemälde „Große Nacht im Eimer“ (1962‒1963) wurde erstmals im Oktober 1963 in der Galerie Werner & Katz ausgestellt und sorgte dort sofort für Empörung. Eine niedergeschlagen dreinblickende Figur unbestimmten Alters umklammert mit einer Hand ihren überproportional großen Penis, während ihr ebenfalls übergroßer, verstümmelter Kopf nach vorne, in Richtung des Betrachters, sackt. Der Phallus, traditionell ein Symbol von Macht und Manneskraft, wirkt hier schlaff und nutzlos und hängt aus einer kurzen braunen Hose, die ein offenkundiger Hinweis auf die Uniform der Hitlerjugend ist. Es wirkt so, als leide die Figur hier nicht nur an den Folgen einer bedrückenden Nacht, sondern als lasse sie sich auch als Verkörperung jener Desillusionierung deuten, die im Deutschland der Nachkriegszeit nach dem Untergang des Nationalsozialismus weit verbreitet war. Zwei Tage nach der Eröffnung der Ausstellung entfernten die Behörden das Bild aufgrund seines angeblich pornografischen Inhalts. Erst zwei Jahre später, nach einem langen Gerichtsverfahren, wurde es Baselitz zurückgegeben (2).
Bereits 1958 lernte er den abstrakten Expressionismus von Jackson Pollock kennen, der zu einer seiner künstlerischen Orientierungen wurde. Ein Stipendium in Florenz 1965 bedeutete für Baselitz zum einen Distanz zu einem Deutschland, das seine Art der Aufarbeitung des Krieges nicht duldete. Zum anderen hatte er die Gelegenheit, die italienischen Klassiker zu studieren. In den folgenden Jahren entstand die nun in Bilbao ausgestellte Serie „Die Helden“, die 1973 der Öffentlichkeit vorgestellt wurden.
Bilderserie: Die Helden
In den Jahren 1965 und 1966 – er war 29 Jahre alt – fertigte Baselitz ungefähr 60 Bilder und 130 Zeichnungen an, die unter den Bezeichnungen „Die Helden“ und „Die neuen Typen“ in die Geschichte der Kunst eingegangenen sind. Der von Baselitz für die Bilderserie gewählte Titel „Die Helden“ ist an sich schon ein Widerspruch oder Zynismus. Denn in Wirklichkeit handelt es sich um das genaue Gegenteil: Antihelden, gefallene Persönlichkeiten, denen nichts bleibt als die körperliche Masse und Grobschlächtigkeit, in der sie dargestellt sind. Der zweite Titel „Neue Typen“ ist als kritisch-sarkastischer Bezug auf den im Realsozialismus propagierten Begriff des „Neuen Menschen“ zu verstehen.
Die Bilbao-Ausstellung beginnt mit dem „Acker“ betitelten Bild aus dem Jahr 1962. Darauf sind zwei scheinbar in Verwesung befindliche Körper dargestellt vor einem dunklen und schlecht erkennbaren Hintergrund. Ein Bild voller Negativität und Pessimusmus, das die Zerstörung des Krieges wiedergibt und vom deutschen Publikum entsprechend aufgenommen wurde. „Die Deutschen wollten nicht zurückblicken auf die Ereignisse des Faschismus, sie wollten mit dieser Geschichte in Ruhe gelassen werden und nur nach vorne schauen“, erklärte Eva Mongi-Vollmer das Bild. Doch nicht nur die Darstellung rief Kritik hervor, auch die Art der Herstellung entsprach einem Akt des Protests: Baselitz benutzte dafür alte Farbreste, die er zu einem undefinierbaren Farbton mischte. Nur die leicht geöffneten Augen eines der beiden dargestellten Wesen lässt einen Rest von Hoffnung zu.
Bei den Werken handelt es sich um Männerfiguren, die Mehrheit mit schmutzigen und kaputten Militäruniformen bekleidet: widersprüchliche Figuren, die scheinbar vor Kraft strotzen und doch von Resignation und Scheitern geprägt sind. Es sind weder Kriegshelden, noch Helden des Lebens, sie kommen daher in Gestalt von Hirten, Rebellen, Guerrilleros oder Malern, alle von Einsamkeit geprägt. Vorbilder dieser kaputten Gestalten sind die vielen kriegsgeschundenen Flüchtlinge, die Georg Baselitz als Kind in den Nachkriegsjahren aus dem Osten in den Westen kommen sah.
Das einzig Lebendige der Gestalten sind die übergroßen Geschlechtsteile, die allen Helden aus den geöffneten Hosen hängen. Diese Mischung von Elementen stellte in den Augen der bundesdeutschen Öffentlichkeit eine Provokation dar, geschaffen von einem jungen Künstler, der gerade einmal 27 Jahre alt war, und der nicht nur die Männerwelt in Frage stellte, sondern die Gesellschaft insgesamt (3).
Die in mächtiger Erscheinung auf großen Leinwänden dargestellten Figuren sind in Wirklichkeit ohnmächtig. Baselitz ordnet sich keinem malerischen Stil unter, sondern mischt Realismus mit abstrakten Elementen. Zum Beispiel, wenn an einer Stelle das Hosenbein durchsichtig wird. Auf einigen Bildern sind die Gestalten durch Bäume oder Baumstümpfe ersetzt, an deren Seiten erneut schlaffe Penisse hängen. Die Farben sind aufdringlich und wild, die Hintergründe uneinheitlich weiß bis schwarz, Trümmer oder ein abgerissener Arm bilden die Bildhorizonte. Bei näherem Hinschauen sind landwirtschaftliche Gegenstände aus Baselitz' Jugendzeit erkennbar, Schubkarren oder ein brennendes Haus. (4)
Auf Nachfrage bestanden die Ausstellungs-Kommissarinnen bei der Pressekonferenz darauf, dass mit den männlichen Darstellungen nicht nur Männer gemeint seien, sondern auch Frauen. Als der Künstler kürzlich nach langer Zeit die Werke wiedersah, erkannte er in den Figuren seine Frau wieder, so eine der Erzählungen. „Auch wenn es vielleicht so scheinen mag, die Darstellungen haben keine pornografische Bedeutung“, sagte Eva Mongi-Vollmer. Trotz drastisch-provokativer Darstellung kommt dieser Eindruck an keiner Stelle auf.
Remix
Nach Baselitz entstehen Bilder nicht durch Interpretation eines Gegenstandes. Jeder Künstler muss die vorhergehenden Bilder verwerfen. Baselitz beginnt seine Bilder mit Disharmonie (Chaos, Handicaps, Tabubruch, Radikalität). Überraschenderweise stellt sich dann dennoch Harmonie in seinen Werken ein. Das Bild muss enthalten, was bisher noch nicht gesehen wurde. Auch nicht vor seinen eigenen „älteren“ Bildern macht Baselitz beim Verändern Halt. In seiner Phase des „Remix“ (2005-2008) gestaltete er Bilder, die er früher gemalt hatte, auf eine bessere, zeitnähere und schärfere Art, also gewissermaßen aus einer neuen Perspektive (1). Dabei erscheinen Hitler-Verschnitte und ein Hakenkreuz. Vier dieser Remix-Werke sind in der Ausstellung enthalten, ebenso wie eine Serie von kleinformatigen Drucken, die zum Helden-Zyklus zählen.
Ebenfalls Mitte der 1960er Jahre begann Baselitz, Bildmotive in Streifen zu malen und sie wieder zusammenzufügen. Die ersten Exemplare dieser sogenannten „Frakturbilder“ füllen einen zweiten Raum der Bilbao-Ausstellung. Auch über diese stilistische Methode, bei der Figuren erneut mit Bäumen gemischt werden, bringt Baselitz die Kaputtheit und Zerrissenheit der Menschen zum Ausdruck. Nach 1969 begann Baselitz, seine Bilder „auf den Kopf zu stellen“. Mit diesen Gemälden wurde er ab Mitte der 1970er Jahre weltweit berühmt. Wie auch in seinen früheren Werken wollte er dem Betrachter die Eigenständigkeit der Malerei gegenüber der herkömmlichen Wirklichkeit vor Augen führen (Wikipedia).
Georg Baselitz
Baselitz prägte mit seinen Werken die moderne Malerei seit den 1960er Jahren. Mit teils obszönen Darstellungen, vor allem zu Beginn seines Schaffens, wirkte er stark provokativ. Die in den 1960er Jahren als anstößig empfundenen Werke gelten heute als exemplarisch für die deutsche Kunst jener Zeit. Baselitz arbeitete zweifach als Hochschullehrer, in Karlsruhe (1977 bis 1983) und Berlin (1992 bis 2003). Seit 2013 lebt er im österreichischen Salzburg.
Die Guggenheim-Ausstellung
Die 68 Werke zählende Baselitz-Ausstellung dürfte vor allem für solche Betrachter*innen interessant sein, die bereit sind, sich auf den historischen Zusammenhang nach dem Zweiten Weltkrieg, dem Kalten Krieg und der Zeit vor der 1968er Revolte einzustellen. Oder solche Besucher*innen, die jene Zeit aus eigenem Erleben kennen.
Die Ausstellung wurde organisiert vom Städel Museum Frankfurt in Zusammenarbeit mit dem Guggenheim-Museum Bilbao, dem Moderna Museet Stockholm und dem Palazzo delle Esposizioni in Roma. Sie vereinigt zum ersten Mal 68 Gemälde, Zeichnungen und Entwürfe für eine Serie von monumentalen Figuren, die in ihrer Entstehungszeit eine kritische Gegenströmung zu den existierenden künstlerischen Tendenzen bedeuteten.
Baselitz-Ehrungen
1964: Villa-Romana-Preis. 1968: ars-viva-Preis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft. 1984–1992: Mitglied der Akademie der Künste (Berlin). 1986: Goslarer Kaiserring. 1987: Chevalier de l’Ordre des Arts et des Lettres. 1992: Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres. 1999: Ehrenmitglied der Royal Academy of Arts London. 1999: Rhenus-Kunstpreis Mönchengladbach. 2001: Julio González-Preis Valencia. 2002: Commandeur de l’Ordre des Arts et des Lettres. 2003: Niedersächsischer Staatspreis. 2004: Praemium Imperiale. 2004: Ehrenprofessur an der Accademia di Belle Arti Florenz. 2005: Österreichisches Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst. 2006: Ehrenbürgerwürde der Stadt Imperia. 2008: B.Z.-Kulturpreis. 2009: Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. 2009: Cologne-Fine-Art-Preis des Bundesverbands Deutscher Galerien und Editionen. (1)
ANMERKUNGEN:
(1) Georg Baselitz (Wikipedia)
(2) Skandal bei der ersten Einzelausstellung (Link)
(3) Pressemappe Guggenheim-Museum zur Ausstellungs-Eröffnung
(4) Fotoserie Ausstellungseröffnung (FAT)
ABBILDUNGEN:
(*) Georg Baselitz, Ausstellung Bilbao (FAT)