Vierzig Jahre kulinarische Revolution
1976 wurde der Grundstein gelegt für die sogenannte Neue Baskische Küche, eine gastronomische Bewegung, die im Laufe der Jahre an Einfluss gewann und den Ausgangspunkt bildete für eine neue Art baskischer Gastronomie. Sie prägte eine Generation von Köchinnen, die bereits zu Legenden wurden, und machte Restaurants und Rezepte international berühmt. Nach wie vor stehen viele der Protagonisten von damals heute noch aktiv am Herd, mit derselben Energie wie vor vier Jahrzehnten und mit neuen Anregungen.
Das Baskenland ist bekannt für seine Gastronomie. Im Vordergrund stehen die appetitlichen kleinen Pintxos, den Hintergrund bildet das Konzept der Neuen Baskischen Küche.
Im ersten Artikel zum Thema Baskische Küche ging es um die Geschichte und die verschiedenen Einflüsse, die die baskische Gastronomie unter den Römern, den Arabern und in der Kolonialzeit erlebte; auch die Zeit der Industrialisierung hinterließ ihre Spuren: „Baskische Küche (1) – Ein Blick in die Geschichte“. (1)
Die Neue Baskische Küche ist weit verbreitet, und doch vielleicht nicht ausreichend bekannt, obwohl über baskische Gastronomie sehr viel geschrieben wurde und wird. Erzählungen zufolge wurde sie 1976 geboren, als im Monat April in Madrid ein Treffen der damals neuen und bahnbrechenden Zeitschrift „Club de Gourmets“ von Paco López-Canís stattfand, an dem Köche der gesamten Halbinsel teilnahmen. Darunter die Basken Juan Mari Arzak und Pedro Subijana. Sie lernten dort eine neue Welt kennen und kamen zu dem Schluss, dass etwas Ähnliches in Euskal Herria (Baskenland) unternommen werden sollte. Ähnlich der Entwicklung in Frankreich, wo Paul Bocuse und seine Zeitgenossen die Nouvelle Cousine geschaffen hatten. (2)
Zurück aus Madrid setzten sie sich mit Leuten wie Jesús Mangas, Patxiku Kintana, Luis Irizar, Pedro Gómez, Tatus Fombellida und Manolo Iza in Verbindung und begannen mit ihren Überlegungen. Gemeinsam versuchten sie, ein Konzept zu entwickeln, das von Originalität geprägt war und überlegten, wie die baskische Küche am Besten zu erneuern sei. Dazu gehörte auch der heute weit verbreitete Gesichtspunkt einer gesunden Ernährung.
Voller Illusion machten sich Pedro Subijana und Juan Mari Arzak als eine Art Botschafter auf den Weg nach Lyon zu Paul Bocuse, wo sie vierzehn Tage verbrachten – voller Anregungen und Eindrücke kamen sie zurück. Begeistert machten sie sich an die Arbeit, begannen gemäß neuer Kriterien zu denken und zu kochen. Zusammen mit einer Gruppe von Auszubildenden der Gastronomie-Schule Euromar wurde der Grundstein für die Neue Baskische Küche gelegt: Luis Irizar, Karlos Arguiñano, Ramon Roteta. Mit ihnen stiegen auch Tatus Fombellida (die einzige Frau), Juan Castillo, Manolo Iza, Xabier Zapiriain und die mittlerweile verstorbenen Ricardo Idiakez und Patxiku Kintana in dieses Projekt neuer baskischer Küche ein, das Pedro Subijana als reichlich improvisiert in Erinnerung hat.
An dieser Stelle sollte erwähnt werden, dass Paul Bocuse die Schlüsselfigur der Gastronomie der vergangenen 50 Jahre ist. Er hat höchst interessante Konzepte von großer Tragweite geschaffen, die diesem baskischen Abenteuer zugrunde liegen: da ist einmal seine „cuisine de marché“ (Küche des Markts) und damit verbunden das Konzept, das als „Nouvelle Cuisine“ bekannt wurde.
Zu diesem Konzept gehörten bereits wissenschaftliche und ernährungstechnische Kenntnisse, konzeptionelle Planung, Preise der Zutaten, der Jahreszeit entsprechende Produkte, das Erhalten von Geschmack und Aromen der Lebensmittel, Augenmerk auf Gewürze, leichte Soßen, Zusammensetzung der Soßen, sowie Konzepte, die den Kochpunkt von Fisch und Nudeln festlegten, oder einen Touch von Improvisation erlaubten, den persönlichen Stempel, weg von Manien, Rückkehr zur Einfachheit, weg vom Getue und vom Kitsch.
All das gehörte zum Weg, der zur Erneuerung der baskischen Küche eingeschlagen wurde. Jene vierzehn Tage bei Bocuse stellten letztlich den Ausgangspunkt dar für die Neue Baskische Küche, die auf größerem Bewusstsein und einer wachen Sensibilität gegenüber der eigenen Region basiert.
Der Wechsel
Der Schritt der Veränderung wurde gemeinsam beschlossen. Um festzulegen wie die neue baskische Küche aussehen könnte, orientierte sich die Gruppe an den Vorgängen in Frankreich. Sie orientierte sich an den dortigen Maßstäben und unternahm eine gastronomische Reise, die sie von der klassischen Eleganz hin zu einer Erneuerung der ursprünglichen Prinzipien führte, um die bis dahin gehobene Gastronomie in etwas Alltägliches zu verwandeln.
In einer gelungenen Kombination von Kultur, Küche und Land, begannen sie ihre Vorstöße mit Gerichten wie zum Beispiel „kokotxas de merluza“ (Halsstücke vom Seehecht), „bacalao a la bizkaina“ (Kabeljau nach bizkainischer Art), „porrusalda“ (Kartoffel-Lauch-Eintopf), „marmitako“ (Thunfisch-Kartoffel-Eintopf), „alubias de Tolosa“ (Bohneneintopf nach Tolosa-Art) und „txipirones en su tinta“ (Tintenfisch in schwarzer Soße), bis hin zu ausgefalleneren Gerichten wie „lomitos de salmonete“ (Lendenstücke der Meerbarbe), „lubina a la pimienta verde“ (Seebarsch in grüner Paprikasoße), „suflé de txangurro“ (Soufflé aus Meerspinne) und „makil goxo“ (Lakritze) mit Estragon, „crujiente de arroz“ (Knusperreis) oder „pastel de kabratxo“ (Drachenkopf-Pastete). Etwas später kamen weitere kulinarische Leckerbissen dazu wie „foie con caldo de garbanzos“ (Leberpastete mit Kichererbsenbrühe), „berza y panes fritos“ (Kohl mit fritiertem Brot) von Hilario Arbelaitz oder „milhojas de anguila ahumada con foie“, cerveza y manzana verde“ (Blätterteig mit Räucheraal und Leberpastete, Bier und grünem Apfel) von Martín Berasategui.
Arbeitstreffen
Nach den ersten Begegnungen traf sich diese Initiatorengruppe der neuen baskischen Küche regelmäßig einmal im Monat. Bei diesen monatlichen Treffen in verschiedenen Restaurants legten sie zuvor gemeinsam das Tagesmenü fest. Unter anderem bereiteten sie Abendessen für bis zu fünfzig Personen zu. Bei diesen Treffen wurden auch frühere und traditionelle Rezepte studiert, ausgetauscht und mit kleinen Veränderungen überarbeitet. Von diesen Meetings ausgehend wurden Rezepte bekannt, die dazu beitrugen, dass die Neue Baskische Küche Fuß fassen konnte und den notwendigen Grad an Beliebtheit gewann.
Einige dieser Rezepte haben eine eigene Geschichte. Das Menü vom 14. Juli 1977 im Restaurant Akelarre (3) beispielsweise hatte folgende Abfolge: Pisto (4), Seebarsch in grüner Paprikasoße, gegrillte Schweinshaxe mit Apfelmus und Cremespinat, baskischer Käse und gebratene Pflaumen mit Sahne. Am 9. August 1977 fand das Abendessen im Restaurant Panier Fleuri (5) in Renteria statt. Dabei gab es Creme aus Flusskrebsen, Petersfisch mit Algen und Eigelbsoße, gefüllte Hähnchenschlegel, selbstgemachte Nudeln, Käse der Region und Aprikosentorte. Am 20. Dezember 1978 traf sich die Gruppe bei Arzak in Donostia (San Sebastián). Diesmal gab es gratinierte Austern, heiße Gemüsepastete, Glasaal (angula) (6), mit Rotwein gegrilltes Wildschwein, Mandarinensorbet und Segura Torte, ein Jahrhunderte altes Familienrezept mit Eiern, Mandeln, Zitrone und Zimt.
Abendessen dieser Art fanden zwei Jahre lang statt. Neben der Entwicklung neuer Gerichte wurde ein Austausch über Gastronomie ins Leben gerufen. Diese Konferenzen unter dem Titel „regionale Küchen“ wurden organisiert von José María Busca Isusi, Raimundo González, Néstor Luján, Manuel Llano Gorostiza, Mateo Bosch, Pierre Troisgros, Michel Guérard, Luis Bettónica und vielen anderen. Bei diesen Tagungen wurde beschlossen, mit der neuen Gastronomie auch über die Grenzen Euskal Herrias hinauszugehen, so erreichte die Bewegung langsam den Rest der Welt.
Die Prinzipien
Die Neue Baskische Küche stützt sich auf Prinzipien wie Schlichtheit und eliminiert ästhetische Verkomplizierungen. Gemüse, Fleisch, Fisch, Krustentiere werden weniger gar gekocht, gesucht werden Parallelen zur asiatischen Kochkunst. Es handelt sich um eine Küche frischer Produkte, deutlich reduzierten Speisekarten, leichten Soßen (ohne Zutaten, die lediglich Verdickung suchen) und Qualitätsprodukten, die vorrangig aus der näheren Umgebung stammen, der Jahreszeit entsprechen und in Anlehnung an traditionelle Rezepte der Region gekocht werden. Darüber hinaus wird auf die Einbeziehung neuer Techniken gesetzt (mit Hilfe der Wissenschaft), um eine gesunde Ernährung zu erreichen, die auch neue Prozesse nutzt. All das basiert auf klassischen Gerichten, die zwar verändert wurden, deren Wesen aber erhalten blieb – das Erbe der baskischen Kultur, Ernährung und Gesellschaft, Erbe der Köche, Bauern, Schäfer und Fischer. Dies erlaubte den Erhalt von Rezepten, die kurz vor dem Verschwinden waren. In kurzer Zeit wurde die Neue Baskische Küche zur Avangarde der Gastronomie der iberischen Halbinsel.
Von Anfang an war klar, dass es bei der Neuen Baskischen Küche nicht allein darum ging, was zu tun war, sondern auch wo, wann und warum. Denn schließlich hat die Küche des südlichen Navarra (Ribera de Navarra) nichts gemein mit einem Eintopf aus Mungia (span: Munguia, im Herzen Bizkaias) oder der Grill-Tradition an der gipuzkoanischen Küste. Auch die Küche der baskischen Großmütter hat auffällige Veränderungen erlebt. Selbst die traditionellen „txipirones“ haben wenig zu tun mit den „begihaundi“ (lediglich ein anderer Name für denselben Tintenfisch) von Juan Mari Arzak, allein schon aufgrund der radikalen Verkürzung der Zubereitungszeit.
Die Köchinnen und Köche begannen, zwischen regionaler und traditioneller Küche zu unterscheiden. Erstere orientiert sich am Ort, zweitere an der Epoche. Sie machten sich ans Werk, ohne die Haute Cuisine der damaligen Hotels außer Acht zu lassen, die ausgesprochen viele Möglichkeiten hatten und vor allem über gut ausgebildete Köche verfügten. Ohne jedoch zu vergessen, dass Gastronomie geografisch verortet sein sollte und die Nahrungsmittel aus der näheren Umgebung stammen sollten. Diese Beziehung zwischen Ort und Zeit bedeutete, dass im August kein Wildschwein aufgetischt wurde und auch keine „pochas“ (navarrisches Bohnengericht) im November.
Für alle war klar, dass die Gastronomie sich verändern würde und müsste. Auch heute gibt es noch Gerichte wie vor fünfzig Jahren, aber eben vereinzelt. Tradition ist kein Wert an sich, wenn sie dazu beiträgt, den Fortschritt zu bremsen, wenn sie gleichbedeutend ist mit Stillstand und Unbeweglichkeit. Dennoch bricht niemand ein Zahn aus der Krone mit dem Eingeständnis, dass auch zu anderen Zeiten hervorragende Gerichte existierten, wie zum Beispiel gebackene Eier nach bretonischer Art, die sich in den 50 und 60er Jahren allgemeiner Beliebtheit erfreuten.
ANMERKUNGEN:
(1) Im ersten Artikel zum Thema „Baskische Küche“ ging es um die Geschichte und die verschiedenen Einflüsse, die die baskische Gastronomie unter den Römern, den Arabern und in der Kolonialzeit erlebte; auch die Zeit der Industrialisierung hinterließ ihre Spuren: „Baskische Küche (1) – Ein Blick in die Geschichte“. (Link)
(2) Der Original-Artikel trägt den Titel „Nueva Cocina Vasca – Cuarenta años de revolución culinaria“, von Mikel Zeberio (Neue baskische Küche – 40 Jahre kulinarische Revolution), in der Wochenendbeilage ON der Tageszeitung Deia vom 23. Dezember 2016. Der Autor, Mikel Zeberio, ist Gastronomie-Kritiker und arbeitet für verschiedene Medien. Er ist Herausgeber eines Wein-Führers, außerdem hat er als Käseproduzent, Hotelier und Koch gearbeitet.
(3) Akelarre ist ein baskisches Wort und bedeutet Hexentreffen. An dieser Stelle ist allerdings ein 1970 eröffnetes Restaurant in Donostia-San Sebastián gemeint, das seit 1975 unter der Leitung von Pedro Subijana steht. Im Jahr 1978 erhielt das Akelarre seinen ersten Michelin-Stern, 1982 den zweiten und 2007 den dritten.
(4) Pisto ist ein Gemüsegericht, das in allen Regionen des spanischen Staatsgebiets bekannt ist. Es wird aus Gemüsesorten der Saison zubereitet. Abhängig von der Jahreszeit, der Region und dem eigenen Geschmack kann das Gericht stark variieren. Zutaten sind in der Regel Zwiebeln, Tomaten, Zucchini, Paprika, Aubergine, Knoblauch und Olivenöl.
(5) Panier Fleuri. Von der Familie Fombellida seit 1916 geführtes Restaurant. Letzte Inhaberin war Maria Jesús Fombellina, bekannt unter dem Namen Tatus, die das Restaurant in Renteria aus gesundheitlichen Gründen im Jahr 2002 schließen musste. Sie ist die einzige Frau der Gruppe, die die Neue Baskische Küche entwickelt hat.
(6) Als Glasaale werden die Jungfische der Aale (Anguillidae) bezeichnet, weil sie in diesem Stadium eine durchscheinende Haut haben. Glasaale ziehen durch das Meer in die Unterläufe der Flüsse zu den Lebensräumen der erwachsenen Aale. Sie sind im Baskenland ein vor allem zu Weihnachten beliebtes Gericht, „angula“ genannt. In den letzten Jahren wurde wegen der hohen Preise ein Angula-Ersatz aus Fischprotein entwickelt. (Wikipedia)
FOTOS:
(1) Schnecken und Trauben – in Araba und Navarra (Foto Archiv Txeng)
(2) Baskischer Käse ist von Kühen, Schafen und Ziegen (Foto Archiv Txeng)
(3) Märkte sind nach wie vor wichtigster Ort zum Kauf (Foto Archiv Txeng)
(4) Alter Fleisch- und Käse-Laden in Bilbo (Foto Archiv Txeng)
(5) Nur für Schinken ist das Baskenland nicht besonders bekannt (Foto Archiv Txeng)