covid001Zwangs-Urlaub in Balkonien

Die Coronavirus-Pandemie ist noch lange nicht zu Ende. Nicht mit der ersten, zweiten oder dritten Impfung – nicht mit der vierten, fünften oder sechsten Welle. Von neuer Normalität zu sprechen, ist eine Lüge. Vieles wird anders, als wir gewohnt waren, was wir nicht im Traum für möglich gehalten haben. Veränderungen bei Lohnarbeit, Freizeit-Vergnügen, Lebensmittel-Produktion, Gesundheit und sozialen Beziehungen. Bitterer Rückblick auf teilweise surrealistische Ereignisse der vergangenen zwei Jahre.

Zwei Jahre Coronavirus-Pandemie, damit haben die wenigsten gerechnet. Dennoch ahnten einige, was auf uns zukommen könnte. Und schrieben darüber. Doch wurden sie weder gelesen noch gehört. Euskal Corona-Wahn (Teil 1).

Lockdown ist ein neuer Begriff in meinem fast sechzig Jahre alten Vokabular. Auch der Umstand, den er beschreibt, ist neu. Ausnahmezustand und Ausgangssperre kannte ich bisher nur aus Kriegserzählungen und Beschreibungen von Diktaturen. Innerhalb von zwei Jahren sind diese Worte zum festen Bestandteil jedes Straßen- oder Kneipengesprächs geworden. Auch zu einer Lebensrealität. Drei Monate lang haben wir das Nichts auf der Straße vom Balkon oder Fenster aus betrachtet. Falls eines von beidem überhaupt vorhanden war. Wir haben viel gelernt. Gesichtsmasken tragen und Abstand halten zum Beispiel. Kinder wurden schlechter behandelt als Hunde, Raucher bekamen Sonderausgang. Wir haben gelernt, die Funktionsweise der Impfstoffe zu unterscheiden. Wir waren erstaunt, wie schnell sie entwickelt wurden und nicht erstaunt, wieviel Unternehmens-Gewinne sie verursachen. Wir nahmen zur Kenntnis, dass Richter wichtigere Entscheidungen treffen als Politiker, und dass schon morgen nicht mehr gilt, was heute als einzig richtige Schutzmaßnahme bezeichnet wird. Die Schuld am Schlamassel haben wir den Chinesen gegeben, manche auch dem Golden Gates, gleichzeitig haben wir den Kapitalismus entschuldigt und nicht weiter nach den wirklichen Ursachen gefragt. Wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass unser Gesundheitssystem nicht mehr taugt als das in Simbabwe, wenn es auf die Probe gestellt wird. Unsere Tumor-, Hüft-, Meniskus- oder Augen-Operationen wurden bis auf Weiteres abgesagt wegen Kollaps in den Hospitälern. Wir alle könnten nun ein Buch schreiben über 14-Tage-Inzidenz, Reproduktionsfaktoren, Antigene, die Zuverlässigkeit von PCR-Tests, Übersterblichkeit und den Zusammenhang der Pandemie mit der Zunahme von Depression, Arzneimittel-Missbrauch und Suizid-Gefahr – aber wer soll das alles lesen!

covid002Der neue graue Alltag

Der Stadtteil Santuxtu – der kleine Heilige – wurde in den 1950er Jahren hochgezogen, als der Franquismus in Bilbao einen neuen industriellen Schub mit massiver Einwanderung aus spanischen Regionen in Szene setzte. Das Barrio besteht praktisch nur aus großen Wohnblocks. Später wurden diese Käfig-Behausungen mit Aufzügen ausgestattet, als die Bewohner*innen in Rente gingen und die Treppen nicht mehr bewältigen konnten.

Sechs Covid-Tote in einem Block sind erforderlich, bevor sich die baskischen Gesundheits-Behörden an die Arbeit machen, zu untersuchen, ob diese letale Häufung in einem Zusammenhang steht. Der Aufzug ist schuld, sagen Techniker, die es wissen müssen. Kleinster gemeinsamer Nenner der Hausbewohner*innen, pandemischer Mikrokosmos. Wer kann sich die Wohnlage heutzutage schon aussuchen …

Lange vor dieser tragischen Entdeckung muss ein Bewohner in meinem Block im Arbeiter-Viertel eine entsprechende Ahnung gehabt haben. Vielleicht hat er auch nur die Fernsehberichte über die Tröpfchen-Übertragung besonders genau studiert und daraus seine empirischen Konsequenzen gezogen. Lüften, was ein Jahr später den Schulen per Dekret verordnet wurde, ist seine Strategie. Stundenlang steht die Haustür offen, vor allem in Anbetracht der wenig gesundheits-konformen Drogenpartys, die regelmäßig im dritten Stock stattfinden. Die Portalpräsidentin vom vierten versteht als ständige Aufzugs-Fahrerin nicht den Sinn der offenen Tür und beschuldigt den Ausländer aus dem ersten dieser Nachlässigkeit. Wie immer der ideale Schuldige, der wahre Türöffner bleibt dennoch anonym.

Eine Nachbarin des Nachbarhauses desinfiziert weiterhin die Pfoten ihres Hundes, eine nach der anderen, jedes Mal, wenn sie vom Spaziergang zurückkommen und das Haus betreten. Eine Freundin, die als Prostituierte arbeitet, bekommt wieder Anrufe. Sie geht in die Kontaktwohnung und lutscht Schwänze, steckt ihre Finger in Ärsche und lässt sich penetrieren. Alles mit Kondom. Manchmal lacht sie und denkt, dass sie wie eine Krankenschwester erscheinen muss, mit ihrem Latex-Finger. Selbstverständlich ohne die vorschriftsmäßige “Individuelle Schutz-Ausrüstung“ und ohne vorgeschriebene Distanz. Iñaki, 87 Jahre alt, war Hauer in der Erzmine. Ein halbes Leben mit Staublunge. Nach hundert Tagen Einschluss geht er wieder auf die Straße. Von fünf bis sieben verlässt er das Altersheim, in dem er lebt. Er fürchtet das Virus, muss sich jedoch bewegen. Vor einem Jahr brach er sich die Hüfte. Zu viele John-Wayne-Filme, vom Bett aus gesehen, haben ihn schwerfällig gemacht. Er sagt, das Bein täte ihm weh. Er sagt auch, das Leben auf der Straße sei jetzt trauriger.

covid003Angst

Einige haben große Angst davor, über die Regionalgrenze hinaus zu reisen. Am Dienstag kam ein Zug aus Madrid nach Bilbao. Was für ein Horror. Ein Dutzend Zivilpolizisten auf dem Bahnhof. Zu unserer Sicherheit. In letzter Zeit häufen sich die Anzeigen gegen Polizisten wegen Gewalt gegen Schwarze. Angeblich ist Polizeigewalt die Schuld des rassistischen Donald Trump und seiner Untergebenen. So stand es auf Demo-Transparenten im Baskenland. Eine davon in Donostia. An jenem Tag bat die Frau mit dem T-Shirt von Amnesty International alle auf dem Platz Versammelten, sich mit einem Bein niederzuknien. Für ein Foto. Am Tag danach war in der Presse von Afro-Look und Menschenrechten in den USA die Rede. Unter den Personen, die in Bilbao aus dem Madrid-Zug stiegen, waren zwei schwarze Frauen. Nur sie wurden von den Zivilbullen zur Ausweiskontrolle gebeten. Eine davon am Arm gepackt und weggeschleppt. Ins Kommissariat. Weil sie schwarz ist und keine Papiere hatte. Sie wurde gezwungen, ihren Büstenhalter und die Schnürsenkel auszuziehen. Eine Polizistin filzte sie auf Drogen. In der Zelle gibt es keine Distanzregeln. Weil schwarz und ohne Papiere war sie verdächtig, mit Rauschgift zu dealen. Hunderttausend Verhaftungen in einem Jahr. 274 pro Tag. Das war ein Verhaftungs-Rekord nach dem Ausländer-Gesetz. Es stimmt, Donald Trump ist ein Faschist.

Nachdem die Stille der Straßen durch Militärfahrzeuge unterbrochen wurde, sind sie jetzt wieder mit Autos überschwemmt. Wir sehen sie nicht, weil sie mikroskopisch klein sind, aber die Schadstoff-Elemente sind wieder unterwegs. Mit jedem Atemzug dringen sie tief in die Lungen ein. Im spanischen Staat sterben jedes Jahr schätzungsweise 30.000 Personen vorzeitig wegen der Luftverschmutzung. Jetzt, wo wir die hochaktuellen Statistiken schlucken, hallen die Ziffern nach, wirklich: dreißigtausend?

Die baskische Bevölkerung atmet gewöhnlich verschmutzte Luft. Die Verantwortung liegt bei den Einzelnen. Setz dir eine Maske auf. Traktoren versprühen Desinfektionsmittel mit Waschlauge. Achthundert Tote als Folge der atmosphärischen Verschmutzung. Zwanzigtausend Bußgelder während des Alarmzustands. Ich kann mich nicht erinnern, dass der baskische Präsident oder der Regierungs-Abgesandte irgendetwas von Mikropartikeln gesagt hätten. Vielleicht haben sie deshalb ein Bußgeld verdient. In der Welt sterben jedes Jahr eine halbe Million Kinder durch Atem-Krankheiten, die durch die Luftverschmutzung verursacht wurden. Die meisten an Lungenentzündung. In der meistgelesenen baskischen Tageszeitung ist davon nicht die Rede. Eine Gesichtsmaske. Pass auf deine Gesundheit auf, das ist für uns alle nützlich. Wer sind wir alle?

covid004Was für ein Zoo?

Zoonose. Ein kompliziertes Wort. Der Schritt von Infektions-Krankheiten von Tieren auf menschliche Wesen (oder umgekehrt). Das Coronavirus ist Ergebnis einer Zoonose. Die Industrie-Viehhaltung ist eine der Ursachen der Ausbreitung von Zoonosen. Vogelgrippe, Schweinegrippe, unter anderem. Im spanischen Staat werden jedes Jahr 50 Millionen Schweine getötet. Fast die Hälfte in Katalonien. Im Staat wehen tausende und abertausende von gelb-roten Fahnen an den Balkonen. Jetzt gibt es Leute, die die Farben auch auf der Gesichtsmaske tragen. Wie eine Speichelbremse. Doch was die Makro-Viehhöfe anbelangt, wollen andere spanische Regionen dem Beispiel Kataloniens folgen. Über die Fahnen und Spuckbremsen hinaus. Die Regierung von Kastilien-Leon zum Beispiel, will die Genehmigungs-Verfahren vereinfachen. Für Anlagen, die Wasser verbrauchen wie eine ganze Stadt. Die Grundwasser verseuchen wie eine Mine. Die Gase verbreiten wie ein riesiger Kamin. Die Beantragung einer Umwelt-Lizenz ist überflüssige Bürokratie. In Nord-Soria ist eine solche Anlage in Betrieb, in Süd-Navarra soll eine entstehen, die mehr Tiere umfasst als in der ganzen Region.

Vor dem Alarmzustand existierten in der Welt siebzig Milliarden Tiere, in industriellen Farmen eingesperrt. Eine gigantischer Lockdown. Zusammengepferchte Wesen, misshandelt, gestresst und mit Antibiotika vollgestopft. Jetzt, in der neuen Normalität sind es – eine Million mehr oder weniger – gleich viele. Maske aufsetzen. Wir appellieren an deine individuelle Verantwortung. Auch unser Präsident hat das Thema nicht gestreift. Fast nicht. Als der Konsum-Minister vom Koalitionspartner Podemos in einem Interview bemerkte, es müsse überlegenswert sein, weniger Fleisch zu konsumieren und die Fleischindustrie empört reagierte, sagte sein “Chef“, er freue sich immer über ein gutes Schnitzel.

Dystopische Öko-Systeme

Fremdwörter sind Versteckspiele, weil die Mehrheit nicht versteht, was gemeint ist. Dystopien sind in der Zukunft spielende Erzählungen, in denen eine erschreckende oder nicht wünschenswerte Gesellschafts-Ordnung dargestellt wird, das Gegenteil von Utopie. Erklärt Wikipedia. Meinem Verständnis nach müssten Orwells “1984“ oder Huxleys “Schöne neue Welt“ somit Dystopien sein. Doch werden sie in der deutschen Quellversion nicht genannt. In der baskischen schon.

covid005In dystopischen Ökosystemen multipliziert sich die Wahrscheinlichkeit, dass ein Virus von einem Huhn oder Schwein auf ein menschliches Wesen überspringt. Wälder und Biovielfalt werden in großem Stil zerstört, um das in Käfig-Konserven gepackte Fleisch zu multiplizieren. Die überlebende wilde Tierwelt wird in immer entlegenere Winkel verdrängt. Doch in Wirklichkeit existieren diese entlegenen Winkel gar nicht mehr. Der Kontakt mit anderen Spezies und die Vermarktung der sogenannten wilden Tiere vervielfacht die Möglichkeiten von Zoonosen. Ebola, Coronavirus, unter anderen. Dass die Menschheit immer mehr Territorien urbanisiert, hilft auch nicht weiter. Städte breiten sich aus und töten oder vertreiben tierische Wesen. Auch wir Menschen sind tierische Spezies. Die meisten von uns leben nicht in Käfigen, aber immer mehr Leute arbeiten und bewegen sich in zusammengepferchter Form. Wenn sich die Zoonose ereignet, findet das Virus beste Bedingungen zu seiner Ausbreitung.

Der Schlachthof Litera Meat in der Nachbarprovinz Huesca, Aragon, wurde traurig berühmt während des Lockdown. Dass es in Schlachthöfen besonders viele Ansteckungen gibt, erscheint ein göttliches Zeichen. Meine Familie feierte das Ende des Alarmzustands mit einem Grillfest. Keine Küsse und Umarmungen. Hühnchenflügel, Schweinerippen und Paprikawurst. Der Schlachthof Litera Meat wurde gebaut, um dort 30.000 Schweine pro Tag zu töten. Das macht 10 Millionen pro Jahr. Um die Kadaver nach China zu exportieren. In dieser kalten und feuchten Fabrik hat die Arbeitsbrutalität die Verbreitung der Krankheit zusätzlich begünstigt. Hunderte wurden infiziert. Fast alle Migranten. Bis heute läuft die Todeskette von Litera Meat auf vollen Touren. Mehr Gesichtsmasken, mehr Seife und weiter in Höchstgeschwindigkeit Schweine töten. Die Ansteckungen in Schlachthöfen haben sich in den letzten Wochen vervielfacht. Auch unter den Saisonarbeiter*innen. Zehn Stunden Arbeit unter Stress in einem Gewächshaus. “Black Lives Matter“ in europäischer Version. An industriellen Förderbändern zusammengepferchte Migrant*innen. In Wohnungen und Baracken zusammengepfercht. Migrant*innen, die in Kartons auf der Straße schlafen.

Zur Erinnerung: wir werden dich weiter kontaminieren. Dich und deine Angehörigen. Also benutze eine Gesichtsmaske. Im Guten wie im Schlechten. Gewöhn dich daran. Wir versprechen dir ein 21. Jahrhundert voller Emotionen. Setze sie auf. Vielleicht wirst du sie niemals mehr los werden.

ABBILDUNGEN:

(1) Corona (economista)

(2) Corona (vanguardia)

(3) Corona (nat.geografic)

(4) Corona (cerquilho)

(5) Corona (razon)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2021-12-30)

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