Hausgemachte Fußball-Hypothese
In Katar hat die umstrittenste Fußball-Weltmeisterschaft aller Zeiten begonnen. Frauenrechte, Menschenrechte – nicht nur die demokratische Welt, sogar WM-Kicker üben scharfe Kritik. Wer dabei ist, darf sich feiern lassen, aus verschiedenen Gründen trifft das auf einige Länder nicht zu. Die einen haben sich nicht qualifiziert, die andern dürfen nicht, weil sie nicht offiziell anerkannt sind. Die baskische Auswahl (Euskal Selekzioa) zum Beispiel. An fußballerischer Qualität würde es nicht fehlen.
Welche sportliche Rolle könnte eine hypothetische baskische Fußball-Auswahl – Euskal Selekzioa – auf internationaler Ebene spielen? Etwa bei einer Weltmeisterschaft? Diese Frage verfolgt eine Ministudie, mit dem Ziel, den sportlichen und ökonomischen Wert der baskischen Fußballwelt einzuschätzen.
Mehrere baskische Kicker und ein Trainer sind bei der seltsamen Weltmeisterschaft in Katar dabei, allerdings nicht im Trikot der Euskal Selekzioa. Immer wenn große internationale Turniere anstehen – Fußball oder was auch immer – beginnen im Baskenland die Überlegungen, ob eine baskische Auswahl wohl ebenfalls wettbewerbsfähig sein könnte. Im Fußball auf jeden Fall. Neidische Blicke richten sich in diesem Fall auf Wales, ein Sportverband, der zwar keinen Staat repräsentiert, aber dennoch dabei sein darf. Auch das um seine Unabhängigkeit kämpfende Schottland könnte in Katar dabei sein, wenn es denn mit der Qualifikation geklappt hätte. Nur das Baskenland – Euskal Herria – darf nicht auflaufen. Dafür sorgt ein spanisches Veto.
Dieses Veto ist nicht allumfassend. In marginalen Sportarten – Seilziehen, oder Taekwondo zum Beispiel – in denen es keine spanischen Verbände gibt, haben die baskischen Föderationen keine Probleme, in den internationalen Verbänden aufgenommen zu werden und an Weltmeisterschaften teilzunehmen, weil es dort keine politischen Ausschluss-Kriterien gibt. Doch sobald ein spanischer Verband in einer internationalen Föderation Mitglied ist, werden Vetos gegen Basken ausgesprochen. Dass es anders gehen könnte, haben die Verhandlungen zum spanischen Staatshaushalt von 2023 gezeigt. Im Handel für die Zustimmung haben baskische Kräfte der Zentralregierung die Zulassung der baskischen Verbände Surf und Pelota in internationalen Föderationen abgerungen. Dabei sticht der baskische Nationalsport Pelota besonders ins Auge: künftig wird somit bei internationalen Turnieren Euskadi gegen Spanien antreten können.
Wettbewerbsfähig?
Die ersten Spiele der 20. Fußball-Weltmeisterschaft im autokratisch frauen- und schwulenfeindlichen Emirat Katar sind bereits abgepfiffen, die Zuschauerränge bleiben erstaunlich leer. Das Baskenland ist zwar nicht unter den 32 Ländern, die um den Pokal kämpfen, aber einige Basken haben sich dennoch eingeschlichen, genau gesagt in drei verschiedenen Teams: Spanien, Frankreich und Ghana. Die folgende Überlegung ist hypothetisch: was wäre wenn … könnte ein Kader von 26 baskischen Spielern mit Teams anderer Länder mithalten, im Turnier eine gleichwertige Rolle spielen oder sogar für Überraschungen sorgen? In den vergangenen 30 Jahren konnte sich die Selezkioa in weihnachtlichen Freundschaftsspielen mit internationalen Größen messen und schnitt dabei überaus erfolgreich ab.
Um einen Eindruck zu erhalten, wie eine mögliche baskische Auswahl bei einer Weltmeisterschaft aktuell aussehen könnte, und mit dem Ziel, diese Betrachtung so objektiv wie möglich zu gestalten, hat sich ein Sportexperte im Internetportal Transfermarkt umgeschaut, um zu sehen, welche baskischen Spieler (an ihrem Marktwert gemessen) die Euskal Selekzioa ausmachen könnten.
Wer steht im Tor?
Mit den Torstehern beginnend sind drei Plätze klar definiert, auch die Reihenfolge ist derzeit eindeutig. Unai Simón von Athletic und Álex Remiro von La Real (beiden wird ein Marktwert von 25 Millionen Euro zugeschrieben) sind erste Kandidaten für die Startelf, während Chelsea-Keeper Kepa Arrizabalaga (15 Millionen Euro, vor gerade drei Jahren für 80 Millionen von Athletic an Chelsea verkauft) als dritter Torhüter zur Debatte stünde. In Anbetracht der guten Form von Simón gibt es wenig Zweifel: Hinter Remiro und Arrizabalaga wären Julen Arrizabala (5M) und Aitor Fernandez (2,5M) zu finden, die bei Athletic bzw. Osasuna auf der Reservebank sitzen.
Tore verhindern
David García (Osasuna, 20M) und Iñigo Martínez (Athletic, 18M) könnten in der Innenverteidigung ein Duo bilden, das von Andoni Gorosabel (La Real, 10M) und Aihen Muñoz (Osasuna, 6M) in der Außenverteidigung begleitet wird. Ersetzt werden könnten sie von Yeray Álvarez (Athletic) und Igor Zubeldia (La Real, beide 15M), daneben sollten CL-Gewinner Cesar Azpilicueta (Chelsea, 8M) und Kevin Rodrigues (Türkei, 2,2M) als Außenverteidiger zum Einsatz kommen.
In diesem Bereich zeichnet sich die Reserve durch ein beachtlich hohes Niveau aus. Hinter Yeray und Zubeldia stehen Aritz Elustondo (La Real) und Dani Vivian (Athletic, je 14M) im Kader der Basken, deutlich vor den 6M, die Transfermarkt für Unai Núñez (Celta) und Jon Pacheco (La Real) angibt. Ebenso schwierig wäre es, einen weiteren Rechtsverteidiger auszuwählen, in Frage kämen Álvaro Odriozola (Florenz, 6M) oder Iñigo Lekue (Athletic) und Álex Sola (La Real, je 3M), sowie Yuri Berchiche als Linksverteidiger (2M).
Die Fäden ziehen
In Bezug auf Qualität steht das fußballerische Mittelfeld einer möglichen Verteidigung in nichts nach. Von einer Dreierkette ausgehend wären hier Mikel Merino (La Real, 50M) und Martín Zubimendi (La Real, 40M) als Dreh- und Angelpunkt zu finden, daneben Oihan Sancet (Athletic, 20M). Auf der Bank auf ihre Chance warten müssten Iker Muniain und Unai Vencedor (beide Athletic, 14M), Jon Moncayola und Aimar Oroz (beide Osasuna, 12M / 6M), Mikel Vesga (Athletic, 5M) und Ander Guevara (La Real, 5M), alle ausreichend vielseitig, um die verschiedenen Positionen im Mittelfeld besetzen.
Für Tore zuständig
In einer hypothetischen 4-3-3-Formation wären die drei vordersten Positionen Mikel Oyarzabal (La Real, 60M) auf der linken Seite und den Brüdern Iñaki und Nico Williams (beide Athletic, je 25M) als Mittelstürmer und Rechtsaußen vorbehalten. Eine Offensivreihe, die bei der aktuellen Weltmeisterschaft einige der Favoriten mit Neid erfüllen könnte. Hinzu kämen Álex Berenguer (Athletic, 15M), Ander Barrenetxea und Jon Karrikaburu (beide La Real, 6M / 5M) auf der Bank. Auf Abruf stünden (dem Transfermarkt-Wert folgend) Kike Barja (Osasuna, 3M) und die Athletic-Kicker Jon Morcillo (3M), Raúl García, Asier Villalibre, Iñigo Córdoba und Nico Serrano (je 2,5M), Julen Lobete (La Real 2,3M) und Gorka Guruzeta (Athletic, 2M).
Baskische Präsenz im Emirat
Die große Mehrheit der baskischen Bevölkerung und der entsprechenden Fußballfans würde aus humanitären Gründen mit Sicherheit einen anderen WM- Schauplatz als das fragwürdige Katar bevorzugen, um eine baskische Auswahl im Einsatz zu sehen. Die wenigen aus dem Baskenland stammenden Balltreter bei ihrem Einsatz am Golf von Persien zu verfolgen, ist nicht ganz einfach, denn die Spiele der “La Roja“ (Die Rote, so der Spitzname der spanischen Auswahl) werden in der Öffentlichkeit häufig boykottiert oder ignoriert. Von den genannten Spielern sind in Katar Unai Simón, Cesar Azpilicueta und der Ghana-stämmige Nico Williams in den Reihen der spanischen Auswahl vertreten, Bruder Iñaki Williams hingegen im Team von Ghana.
Und sonst …
Die Definition, wer als Baske oder Baskin gilt und damit zu einem Aufgebot gezählt werden darf, ist nicht ganz einfach. Im Baskenland geboren zu sein wäre ein Kriterium zur Integration. Aber reicht es aus, hier zu leben und zu arbeiten? Reicht ein baskisches Elternteil? Der Club Athletic Bilbao, bei dem bekanntlich “nur Baskinnen und Basken“ spielen, hat eine eigene Definition gewählt. Neben den in den sieben historischen baskischen Provinzen Geborenen (beiderseits der Grenze) kommen auch solche zum Einsatz, die hier das Fußballspielen gelernt haben, die “hier ausgebildet“ wurden, egal ob in Nigeria, Norwegen oder Neu-Delhi geboren. Für eine baskische Auswahl geht diese Definition sicher zu weit.
Zwei weitere vom spanischen Teamchef Luis Enrique zur WM im Emirat geladene Spieler könnten ebenfalls zur Selekzioa gehören: Marco Asensio und Hugo Guillamón. Ersterer ist der Sohn eines baskischen Vaters und einer niederländischen Mutter, obwohl er in Palma geboren wurde und seine Jugend auf Mallorca verbrachte. Sein aus Barakaldo stammender Vater träumte davon, dass Marco für Athletic spielt und bot ihn erfolglos dem Bilbao-Verein an. Der Fall von Guillamón ist ähnlich. In Donostia geboren, kehrte er schon in jungen Jahren mit seinen Eltern nach Valencia zurück, wo er fußballerisch ausgebildet wurde und nach seiner Vertragsverlängerung bis 2026noch wenigstens dreieinhalb Jahre spielen wird.
Mögliche Übungsleiter
Für die baskische Trainerbank kann nicht auf Transfermarkt zurückgegriffen werden, weil Trainer keinen Marktwert haben und erst neuerdings gelegentlich Ablösesummen gezahlt werden, wenn ein Übungsleiter einen laufenden Vertrag verlässt. Gesucht wird ein baskischer Trainer, um ein Kontingent von 26 Spielern auf ein Turnier vorzubereiten. In der Primera División haben die drei baskischen Teams dank der Arbeit von Ernesto Valverde bei Athletic, Imanol Alguacil bei Real Sociedad und Jagoba Arrasate bei Osasuna (drei Basken) einen sehr guten Saisonstart hingelegt. Auch Andoni Iraola als Coach von Rayo Vallecano macht einen bemerkenswerten Job.
Derzeit wäre somit nicht zu erwarten, dass angesichts der guten Form ihrer Teams einer der drei seinen Posten verlassen würde, um die Euskal Selekzioa zu dirigieren. Auch nicht Didier Deschamps, der einzige baskische Trainer in Katar 2022. Seit 2012 trainiert der aus Bayonne (Baiona) stammende Ex-Fußballer die französische Auswahl, mit der er 2018 Weltmeister wurde. Die Liste möglicher Kandidaten verlängert sich, in Frage kämen auch Gaizka Garitano (Eibar), José Ángel Ziganda (Huesca), Joseba Etxeberria (Mirandés), Aitor Karanka (bei Granada entlassen) oder Imanol Idiakez (Leganés), alle aus der zweiten Liga. Optionen aus Europa wären Unai Emery (Aston Villa), Mikel Arteta (Arsenal), Julen Lopetegi (Wolverhampton) oder Xabi Alonso (Bayer Leverkusen), nicht zu vergessen Asier Garitano oder José Luis Mendilibar, die derzeit ohne Arbeit dastehen.
Bei einer WM
Es ist sicher keine Übertreibung, dass ein baskisches Auswahlteam angesichts der vorhandenen personellen Ressourcen bei jedem anstehenden Turnier eine bedeutende Rolle spielen könnte. Das legen zumindest die Namen der Betreffenden, ihre internationale Beachtung und die von Transfermarkt erstellten Zahlen nahe. Nach diesen Angaben würde die Euskal Selekzioa mit einem Marktwert von 461 Millionen Euro in die Top 10 der "wertvollsten" Teams der Weltmeisterschaft aufsteigen.
Das zehnt-teuerste Team ist derzeit Uruguay mit einem geschätzten Wert von 449 Millionen, das wären 11,5 Millionen weniger als eine hypothetische baskische Auswahl. Dass eine Euskal Selekzioa nicht an Weltmeisterschaften teilnimmt – lassen wir an dieser Stelle den Konjunktiv und wenden uns den Fakten zu – liegt eindeutig am mangelnden politischen Willen. Sowohl die konservative baskische Regierung wie auch die oppositionelle baskische Linke fordern schon seit Jahrzehnten eine eigene internationale Sportvertretung, weit über den Bereich Fußball hinaus. Und sei es ähnlich wie die walisische Auswahl, die in Katar bekanntlich dabei ist mit einem Kader, der in Bezug auf Namen und “Marktwert“ (160 Millionen, Platz 23 der wertvollsten Teams) deutlich niedriger angesiedelt ist als das hypothetische Team der Basken.
Auch ohne eigenen Staat gibt es Wege der Teilnahme an einer Weltmeisterschaft, im Falle von Wales reicht die Existenz eines walisischen Fußballverbands dafür aus. Dazu selbstverständlich die Akzeptanz der britischen Behörden, der britischen Regierung. Interessanterweise können Schottland, Wales und Nordirland zwar an internationalen Turnieren teilnehmen, nicht aber an den Olympischen Spielen. Olympia wiederum steht auch der US-Kolonie Puerto Rico zu, die überall dabei sein darf, nur nicht bei den Präsidentschaftswahlen.
Nirgendwo im Staat zwischen Cabo Gato, Finisterre und dem Drei-Königs-Tisch in den Pyrenäen ist das Interesse am größten Spektakel der Sportgeschichte geringer als im Baskenland (Euskal Herria). Dann schon lieber eine gute Partie Pelota (wie das Cuatro-y-Media-Finale zwischen Jokin Altuna und Joseba Ezkurdia - 21:22). Vorerst müssen sich die baskischen Fans für die Weltmeisterschaft andere Teams suchen, mit denen sie sich identifizieren können, etwa das Ghana von Iñaki Williams, oder im Fall katalanischer Fans das Argentinien von Leo Messi.
ANMERKUNGEN:
(1) “Una hipotética Euskal Selekzioa, en el Top 10, por delante de Uruguay” (Ein hypothetisches Baskisches Auswahlteam, in den Top 10 vor Uruguay), Tageszeitung Gara 2022-11-18 (LINK)
ABBILDUNGEN:
(1) EH Selekzioa (eitb)
(2) EH Selekzioa (naiz)
(3) EH Selekzioa (federazioa)
(4) EH Selekzioa (federazioa)
(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2022-11-25)