Touristifizierung Gentrifizierung Verdrängung
Bilbao verändert sich rasend schnell in eine Tourismus-Stadt. Wer den Ort vor 10 Jahren kennengelernt hat, sieht deutliche Unterschiede. Wer vor 20 Jahren zum ersten Mal hier war, erkennt ihn kaum mehr wieder. Und wer gar vor 30 oder mehr Jahren hier war, kommt sich heute vor wie in London, Paris oder Manhattan. Angefangen hat alles mit einem Museum, doch das ist heute fast Nebensache. Mittlerweile geht es um Hotels, internationale Großevents. Folge: die Stadt wird Schritt für Schritt unbewohnbar.
Die Metropolisierung und Gentrifizierung Bilbaos treibt immer buntere Blüten. Mit jedem Makroevent wird die Stadt teurer, unpersönlicher und unbewohnbarer. Dagegen formiert sich Widerstand. Mit der Initiative „Piztu Bilbo – Itzali MTV" zum Beispiel (Bilbao aktivieren – MTV ausschalten).
Konkreter Anlass für das Alternativ-Festival, das von Basis-Bewegungen aus verschiedenen Stadtteilen organisiert war (im Baskenland Volksbewegung genannt) ist der international bekannte Musikkanal MTV. Vor einem Jahr hatte das Rathaus Bilbao bekannt gegeben, dass die nächste MTV-Gala 2018 in Bilbao stattfinden werde. Später wurde bekannt, dass dafür viel Geld aus Bilbao in die MTV-Kassen geflossen war. Umsonst ist nichts. Schon gar nicht der Weltruhm, an dem die Stadt seit 20 Jahren eifrig arbeitet.
MTV ist nicht der erste Weltevent, den sich die Hauptstadt Bizkaias an Land gezogen hat. Vorher gab es schon Schach-Weltmeisterschaften, Brückensprung-Weltcups, Basketball-Weltmeisterschaften, den Award für die weltbesten Restaurants, die Finalspiele der Rugby-Championsleague, das bedeutendste Rockfestival des Staates und einiges mehr. „Von irgendwas müssen die Leute ja leben“ – ist ein gängiges Argument – „nachdem die Industrie den Bach runter gegangen ist“. Doch was sich überzeugend anhört wird schnell zur Seifenblase und entlarvt sich als Zweck-Propaganda. Denn die große Mehrheit der im Tourismus Beschäftigten lebt und arbeitet prekär. Ohne Garantien, mit befristetem Vertrag, mit schlechtestem Lohn und unerträglichen Arbeitszeiten. Das vielgelobte Guggenheim selbst hat im vergangenen Jahr 20 Mitarbeiter*innen entlassen, weil sie sich gegen diese unhaltbaren Bedingungen aufgelehnt hatten.
Die Folgen der Touristifizierung sind nicht nur für die Branchen-Beschäftigten verheerend. Auch die Lebensqualität der Bevölkerung nimmt mehr und mehr Schaden. Im vergangenen Jahr stiegen die Mieten in der Altstadt Bilbaos um 30% – sofern es auf dem Markt überhaupt noch Mietwohnungen gibt. Denn allemal lohnender ist es, die Immobilien über AIRBNB oder vergleichbare Agenturen auf den Tourismus-Markt zu werfen. Die Folge ist eine Verdrängung: angefangen bei den Schwächsten, den jungen leuten, die sich keine teuren Wohnungen leisten können; die nächsten sind alteingesessene Läden, denen die Miete plötzlich um ein Vielfaches erhöht wird und die somit zum Abwandern oder zur Aufgabe gezwungen werden. Den „Ersatz“ stellt in beiden Fällen der Tourismus.
Gentrifizierung: Kritik und Widerstand
Mit SOS Alde Zaharra (baskisch: SOS Altstadt) hat sich bereits vor zwei Jahren eine Initiative gegründet, die diese Probleme thematisiert. Vor allem von jungen Leuten ausgehend wurde zuerst eine Bestandsaufnahme gemacht, die bestätigte, dass Bilbao im Begriff ist, denselben Weg in die Irre zu gehen, den andere Städte wie Barcelona, Venedig oder Lisabon bereits vor ihr gemacht haben.
Das Festival „Piztu Bilbo – Itzali MTV“ hat den Protest gegen die Tourismus und Gentrifizierungs-Entwicklung in Bilbao zum ersten Mal einem breiteren Publikum vorgestellt. Beteiligt waren so gut wie alle sozialen Bewegungen, die in der Stadt aktiv sind – Ökologist*innen, Feminist*innen, Internationalist*innen, Lesben und Gays, ambulante Verkäufer aus Afrika (1), Studierende, anarchistische und marxistische Gruppen, Hausbesetzer*innen, Gefangenen-Unterstützer*innen, Infoläden, Antifaschist*innen und Aktivist*innen aus der Flüchtlingsbewegung Ongi Etorri Errefuxiatuak (2). Das Ergebnis war einerseits ein Infomarkt – Herri Azoka, Volks-Markt. In dreißig Ständen stellten die beteiligten Gruppen ihr Material und ihre Aktivitäten vor. Auf der Bühne gab es Programm für Kinder und Erwachsene, Musik, Theater, für das leibliche Wohl war ebenfalls gesorgt, das erledigten Gruppen von Migrant*innen aus Afrika und Lateinamerika. Ein komplettes Programm bei gutem Wetter: hier trafen sich die Ausgeschlossenen der Stadt, die Verdammten dieser Erde. Gemeinsames Thema der Kurzreferate der verschiedenen Gruppen waren die Auswirkungen der neuen Schaufensterstadt auf Leben und Arbeit. Die Gruppen versuchten, aus ihrer Sicht und Praxis Vorschläge zum Besseren zu machen, für eine lebensfreundliche Stadt.
„Tag der elf Löcher“
“Hamaika Botxo Eguna” wurde die Tagesveranstaltung genannt – dieser Begriff bedarf einer Erklärung für alle, die des Baskischen nicht mächtig sind: „hamaika“ bedeutet eigentlich „elf“, aber auch „viele“ – „Botxo“ bedeutet „Loch“ und ist historisch gesehen der liebevollste Begriff für die Stadt Bilbo, die zwischen Bergen und Hängen tatsächlich im Loch liegt. „Viele-Löcher-Tag“ könnte die Übersetzung also lauten. Verschiedene Aktionsgruppen hatten an der Vorbereitung teilgenommen, um dem Botxo-Loch den Protagonismus zukommen zu lassen und zum aktuellen Entwicklungsmodell ein klares NEIN zu formulieren. Mit diesem Programm war es verständlicherweise schwierig, bei den Behörden die nötigen Genehmigungen zu erhalten. Was unter einer „neoliberalen, patriarchalen und kolonialen Stadt“ zu verstehen ist, das machten die teilnehmenden Gruppen am Samstag 13. Oktober 2018 zwischen 11 und 20 Uhr deutlich.
„Vor einer Woche haben es unsere Freundinnen und Freunde von OkupaTu in Gasteiz bereits formuliert: wir leben mit einer Barrikade, es ist ziemlich klar, wer auf beiden Seiten steht“, hieß es im Flugblatt zum Botxo-Tag. (3) (4) „Auf der einen Seite stehen die bürgerlichen Parteien mit ihren Konzepten, die politischen Statthalter, die sich um die Interessen der baskisch-spanischen Oligarchie kümmern, um die Interessen von Iberdrola, Laboral Kutxa, Kutxabank, Lastour zu vertreten (5). Auf der anderen Seite stehen wir, das klassenbewusste Volk, die Initiativen aus der Nachbarschaft, die alternativen Lebensformen. All jene, die das Leben und das Baskenland ent-merkantilisieren, ent-patriarchalisieren und ent-kolonisieren wollen“.
„Die Positionen auf beiden Seiten der Barrikade stehen sich unversöhnlich gegenüber. Auf der einen Seite die politische, wirtschaftliche und finanzielle Macht, die unaufhörlich privatisiert und den öffentlichen Raum besetzt. Alle verfügbaren gesellschaftlichen Räume werden zum Geschäft gemacht, die Beziehungen in den Stadtteilen haben mehr und mehr patriarchalen und militaristischen Charakter. Auf der anderen Seite die Basis- oder Volksbewegung, die den öffentlichen Raum als gesellschaftliches Recht für alle einfordert und die diesen Raum nutzen will“. Diese Bewegungen treten ein für Modelle von Leben und Nachbarschaft, die nicht von kommerziellen Prämissen geprägt sind. Die vielfachen Aktivitäten auf dieser Seite sind Ausdruck eines alternativen Modells von Territorium, Stadt und Leben. Jeden Tag wird dieses Modell – vielleicht für viele unsichtbar – in die Wirklichkeit umgesetzt. Die neoliberale Seite der Barrikade versucht, die Stadt in einen riesigen Supermarkt unter freiem Himmel zu verwandeln. Der Tauschwert für einige wenige steht über dem Gebrauchswert der großen Mehrheit, die marginalisiert werden soll. Die sozialen Beziehungen werden zu puren Objekten, das Alltagsleben wird folklorisiert, um es verschachern zu können. Die Stadt mitsamt ihrer Bewohner*innen wird so zu einer Handelsware, deren Wert auf den internationalen (Tourismus)-Märkten steigt. Was zählt ist einzig und allein Geschäft und Profit, gemessen in Millionen-Einnahmen“.
Schaufensterstadt
Entstanden ist in den vergangenen Jahren tatsächlich eine Schaufensterstadt für den Gebrauch und Konsum durch zahlungskräftige Tourist*innen, vornehmlich aus dem Norden. Dafür wird ein Stadtteil nach dem anderen touristifiziert. Die vorher verschmähten und verachteten Barrios erscheinen plötzlich in Hochglanzbroschüren und in den Tourismus-Büros als Geheimtipps und exotische Ware. Diese Stadtteile werden zum Museum oder zum Zoo, um von den Reisenden konsumiert zu werden als Teil ihrer „Bilbao-Experience“. Dafür kaufen sie einen Teil der Folklore-Essenz als Souvenirs, oder nehmen die Experience gratis mit in Form von Fotos oder Selfies. Gleichzeitig werden mitten in den Lebensbarrios neue Mega-Hotels und Makro-Hostels eingerichtet, in der Altstadt derzeit drei zu gleicher Zeit, auch in Sanfrancisco. Dazu kommen vier weitere Hotel-Projekte in der Innnenstadt. Viele Nachbar*innen wissen nicht einmal, was in ihrer direkten Nachbarschaft gebaut wird, solche Planungen werden nicht an die große Glocke gehängt. Dazu kommt das Phänomen AIRBNB, das in einigen Stadtteilen den Markt für Mietwohnungen praktisch bereits zum Erliegen gebracht hat, weil alle Räume an Tourist*innen gehen.
Gentrifizierung
Die Organisator*innen von „11-Botxo-Eguna“, denen von den Behörden und der bürgerlichen Presse polemischerweise Tourismus-Phobie vorgeworfen wird, sprechen in ihrer Analyse davon, dass all diese Maßnahmen eine Art Klassenkampf von oben darstellen. In Anbetracht der Preisentwicklungen für die lebensnotwendigen Produkte ist bereits jetzt ein Marginalisierungs- und Verdrängungsprozess sichtbar. Dieser Prozess ist langsam, subtil und fast unsichtbar, nur der Vergleich über Jahre hinweg macht offenbar, welche Folgen die politischen Entscheidungen der Verwaltung haben. Deutlich spürbar ist der Anstieg der Mieten und der Lebenshaltungskosten, Entlassungen wurden von der Zentralregierung einfach und billig gemacht, neue Arbeit ist von Prekarität gekennzeichnet, Arbeitsverträge sind zu mehr als 90% befristet, beginnend bei einem Tag Vertragsdauer. Immer mehr Menschen sind in Anbetracht dieser Entwickungen auf soziale Unterstützung angewiesen und auch die wird eingeschränkt, bzw. der Zugang dazu wird schwierig oder unmöglich gemacht. Wenn von Wirtschaftskrise die Rede ist, sind die Leidtragenden immer die Ärmeren, die Bankenrettung hat Milliarden gekostet – ohne Rückzahlung, diese Mittel werden mit Kürzungen in Bildung, Gesundheit oder im sozialen Bereich ausgeglichen. Der Begriff Klassenkampf wird spürbar bei der Arbeit, auf der Straße, zu Hause und im Geldbeutel.
Eine Maßnahme auf dem Weg zur Touristifizierung ist der Kauf von internationalen Makroevents durch die Stadtverwaltung. Mit ihnen werden Hunderttausende oder Millionen Reisende angelockt und sei es nur für ein Wochenende. Es ist lange nicht mehr allein das berühmte Museum aus New York, das die Attraktion ausmacht. Vielmehr sind es die genannten Sport- und Musikevents, sowie Weltkongresse, mit denen die existierenden und entstehenden Hotels gefüllt werden. Denn Voraussetzung für den Zuschlag eines Makroevents ist neben der direkten Bezahlung, dass die Stadt so und so viele Übernachtungsplätze vorweisen kann. Das erklärt, weshalb in Bilbao derzeit insgesamt sieben Hotels eingerichtet werden – neben den bereits existierenden. Immer mehr wird zur Normalität, dass an einem Wochenende plötzlich 100.000 Besucher*innen auf der Matte stehen, mit einem gemeinsamen Interesse – Massentourismus. Von den Folgen betroffen ist neben der Innenstadt (die noch am ehesten von dieser Entwicklung lebt) seit 10 Jahren die Altstadt, die mittlerweile völlig überlaufen ist, wenn Dutzende von Reisebussen ihre Passagiere ausschütten.
Absehbar war, dass die Entwicklung eines Tages den Sprung über den Fluss in die Armenviertel machen würde – vor drei Jahren war es soweit. Heute sind auch diese Viertel mit Massentourismus konfrontiert, sie verändern sich, ihre Struktur wird angegriffen, die bisherigen Bewohner*innen langsam verdrängt. Der Alltag verändert sich, die Ladenstruktur ebenfalls, AIRBNB hat auch hier längst Einzug gehalten. Das Bild dieser Arbeiter- oder Armenviertel wird „gesäubert“ und verziert: zum Beispiel mit einem Dutzend riesiger Graffitis, die von namhaften internationalen Künstlern für viel Geld angefertigt wurden. Alles für den Konsum der Tourist*innen. Für jene Menschen hinter den Kulissen oder hinter den Theken bleibt lediglich ein Hungerlohn, sowie die Invasion und Disneyisierung der eigenen Lebenswelt. Die Erstinvestition erfolgt über die Steuerkasse, die Gewinne fahren gewiefte Unternehmer oder Multis ein, etwaige Verluste werden vergesellschaftet.
MTV abschalten
Vor diesem Panorama wirft der kommende Event – die MTV-Gala – lange Schatten. European Music Awards – EMAS – wird das Spektakel auch genannt. Organisiert wird es vom bekannten Sender MTV, der sich durch Fernsehmüll, Vermarktung von Kultur und Gehirnwäsche für die Jugend einen Namen gemacht hat. Für seine Kritiker*innen ist MTV mehr als nur ein Makroevent: „Es ist die Vorstellung eines Kulturmodells und einer Lebensform, deren Hegemonie gesichert werden soll: bürgerlich, individualistisch, patriarchal und kolonial. Es ist die Diktatur der Ästhetik, des existenziellen Elends, der Porno-Beziehungen, die von jeglicher Erotik entleert sind. Es ist Ausdruck von Macht, Geld und Konsum“. Dabei ist naheliegend, dass dieses Modell nie für alle gedacht ist, das wäre gar nicht möglich. Denn es basiert auf Ausbeutung, die irgendwo mit irgendwem stattfinden muss. Dennoch ist die Anziehungskraft solcher Events stark genug, auch jenen die Sinne zu vernebeln, die die Rechnung zahlen müssen. MTV und vergleichbare Events sind eine Welt ohne Inhalt, eine Ästhetik ohne Ethik. Es ist der amerikanische Traum, bei dem sich der Traum eines einzelnen zum Alptraum vieler verwandelt. Das „Just do it“, die Welt des Egoismus, des ICH, das sich über das WIR erhebt und es beschädigt. „Es handelt sich um eine Welt, die die Pluralität der vielen Welten zum Schweigen bringen soll, indem diese Welten auf ein konformistisches und globalisiertes Bild reduziert werden. MTV ist mehr als ein Modell, das allen übergestülpt werden soll. Es ist eine Lebensform – zu der mehr Form und weniger Leben gehört“.
Auf diese Karte setzt die Stadtverwaltung. Bilbao war einst eine der schmutzigsten Städte auf dem Kontinent, die Stadt der Bergwerke und Industrie, aber auch die Stadt der Arbeiterbewegung, der Generalstreiks, der starken Gewerkschaften – eine Stadt mit Charakter. Dieser Charakter soll dem glitzernden, inhaltsleeren und ausschließenden Kommerz-Modell Platz machen. Wozu brauchen die Menschen Janet Jackson, wenn das Geld nicht zum Monatsende reicht. „Die Reichen und Mächtigen der Stadt setzen auf dieses Modell, sie setzen auf MTV wie sie auf jeden Großevent setzen, um viel Geld zu verdienen und das Publikum mit ‚Brot und Spielen‘ zu betäuben. Bilbao zuerst und danach das Baskenland sollen zu einer kleinen us-amerikanischen Kolonie gemacht werden: kulturell und existenziell“.
Gegenbewegung
Dagegen wehren sich bisher wenige. Denn die Stammtisch-Formel „von irgendwas müssen wir ja leben“ zog wirksam ihre Kreise. Doch langsam werden es mehr. Weil sich die Erkenntnis durchsetzt, dass Massentourismus und Makroevents keine wirklich würdige Zukunft darstellen, weder für die Arbeit noch für das Leben. Deshalb haben die sozialen Bewegungen der Stadt „Hamaika Botxo Eguna“ organisiert. Um deutlich zu machen, dass sich der Widerstand organisiert, dass sie sich dagegen wehren, zu Waren und Folklore degradiert zu werden. Ihnen geht es um die Identität der Stadtteile, um kulturelle Vielfalt, um Lebensformen ohne kommerzielle Zwänge. So erklärt sich die Barrikade.
„Unser Modell ist der Antagonismus, der Gegensatz. Wir sind nicht kompatibel und lassen uns nicht ins Schaufenster stellen. Wir wenden uns gegen die Unterdrückung, die Enteignung und den Egoismus, gegen eine Welt, die aus vereinzelten Ameisen besteht, die zusammenprallen ohne sich zu treffen, die sich gemeinsam in einem Raum befinden, ohne ihn gemeinsam zu nutzen. Die Geld, Blicke und Meinungen austauschen, ohne Emotionen, Freundschaften und Erfahrungen mit einzubeziehen. Unsere Welt ist die Solidarität, die gegenseitige Hilfe, der Protagonismus der einfachen Leute, die Welt der kulturellen und subjektiven Vielfalt“.
Große Worte, die die aktuellen Entwicklungen und die Aussichten für die Zukunft treffend beschreiben. Es ist nicht besonders schwierig, sich die Zukunft Bilbaos unter den Vorzeichen von Massentourismus und Gentrifizierung vorzustellen. Dazu reicht ein Blick nach Barcelona, Venedig oder Mallorca. In einigen dieser Orte wurde aufgrund der Exzesse und der unerträglichen Situation bereits die Notbremse gezogen. Bilbao ist noch nicht so weit. Hier reicht nicht das warnende Beispiel anderer. Alle einzeln müssen den Zeigefinger in die Flamme halten um sich zu verbrennen.
Barcelona ist zur Partystadt geworden, in der niemand mehr schläft. In Mallorca ist kein Fußbreit Boden mehr frei neben Millionen von Ballermännern und deutsch-englischen Rentner*innen. Venedig geht unter, nicht zuletzt im Kreuzfahrboom: ökologisch, sozial, mental. Solange Tourismus und Reisekultur von diesen Antagonismen bestimmt werden, müssen sie bekämpft werden: „Piztu Bilbo – Itzali MTV“ – „Bilbao aktivieren – MTV ausschalten“.
Die MTV-Gala findet an einem Abend statt, dennoch hat sie ein Vorspiel von einer Woche. Dafür sorgt die Stadtverwaltung von Bilbao mit einer Reihe von Veranstaltungen und Konzerten. Zum Warmlaufen. Im Fußballstadion findet ein Großkonzert statt mit international bekannten Gruppen. Bereits im Vorfeld berichtete die Presse, dass der Stadt ein bislang ungekanntes Sicherheits-Volumen bevorsteht. Drone werden über der Stadt kreisen, Scharfschützen werden platziert, denn passieren darf auf keinen Fall etwas. Gleichzeitig sind gerade solche Events für etwaige Anschläge besonders attraktiv, das hat die Vergangenheit gezeigt. Deshalb wird Bilbao in diesen Tagen bis an die Dachrinnen bewaffnet und militarisiert. Damit erklärt sich auch der letzte Kritikpunkt der Botxo-Organisator*innen.
Nächste Großevents
Es liegt in der Logik der Dinge, dass MTV nicht der letzte Makro-Event in Bilbao sein wird, den sich die Stadtväter auf die Fahnen geschrieben haben. Im Jahr 2019 wird es erneut eine Reihe von Weltkongressen geben, Gastronomie, Medizin, Architektur. Dazu hat die Stadt den Europäischen Gay-Pride-Tag eingekauft – den ausgerechnet die baskische Bewegung der Lesben, Gays, Bis und Trans scharf kritisiert, weil er ihrer Meinung nach ein großes „Pinkwashing“ darstellt, einen rein kommerziellen Charakter hat und die Bewegung instrumentalisiert (6). Das haben Vertreter*innen der Bewegung beim „11-Botxo-Eguna“ deutlich gemacht. Gleichzeitig geht der Blick der Stadtverwaltung bereits über 2019 hinaus. In absehbarer Zeit soll die Startetappe der Tour de France in Bilbao stattfinden. Viel Arbeit für SOS Alde Zaharra.
(Publikation: Baskultur.info 2018-10-21)
ANMERKUNGEN:
(1) Weil afrikanische und lateinamerikanische Migrant*innen ihre Waren auf großen Tüchern in den Straßen verkaufen, werden sie im Volksmund „Top-Manta“ genannt: „manta“ ist der Teppich. Der Verkauf wird als illegal betrachtet und von der Polizei verfolgt, häufig werden die Waren beschlagnahmt.
(2) Ongi Etorri Errefuxiatuak (Herzlich Willkommen Flüchtlinge) ist eine in Bilbao entstandene Bewegung, die die Aufnahme von Flüchtlingen fordert und dabei teilweise von Institutionen unterstützt wird. Ähnliche Gruppen gibt es mittlerweile auch in anderen Städten.
(3) Alle Zitate aus dem Flugblatt der Gruppe SOS Alde Zaharra, verteilt beim Protest-Festival „Hamaika Botxo Eguna“
(4) Okupatu – war ein im Oktober 2018 durchgeführter Protesttag von vier besetzten Einrichtungen der baskischen Hauptstadt Gasteiz (span: Vitoria): das anfangs illegale und später freie Radio Hala Bedi (35 Jahre), das besetzte Gaztetxe-Jugendhaus (30 Jahre), ein besetzter Frontón (10 Jahre) und der besetzte Stadtteil Errekaleor (5 Jahre). Siehe dazu Baskultur-Artikel „Hausbesetzung in Gasteiz“ (Link)
(5) Iberdrola, Laboral Kutxa, Kutxabank, Lastour – ein multinationales Energie-Unternehmen mit Sitz in Bilbao; zwei Banken und ein Unternehmen, das sich auf die Durchführung von Makroevents aller Art spezialisiert hat, unter anderem das Kobetamendi-Rock-Festival von Bilbao
(6) Pinkwashing setzt sich aus den Begriffen Pink und Whitewashing zusammen. Im Kontext von LGBT-Rechten fasst der Begriff Marketing- und politische Strategien zusammen, die Produkte vermarkten, Länder, Menschen oder Organisationen gut darstellen wollen, indem sie sich mit der LGBT-Bewegung identifizieren. Damit wollen sie erreichen, als modern, fortschrittlich und tolerant zu gelten. (Link) Pinkwashing passiert, wenn LGBTQI Rechte dazu genutzt werden, eine komplett andere Agenda zu promoten, die in der Realität nichts mit diesen Rechten gemein hat, sondern sich um Politik und Macht dreht. Diese Art von falscher Unterstützung kann von Firmen, Institutionen oder Regierungen genutzt werden. Viele Regierungen nutzen zum Beispiel LGBTQI Rechte als Zeichen für ihre Modernität und Progressivität, während jemand, der anders ist, als unzivilisiert und homophob dargestellt wird. Diese Strategie wird von vielen westlichen Ländern genutzt, wenn diese darin einen Mehrwert für sich selbst sehen. Es ist dabei nichts weiter als eigennütziger Rassismus und fügt der LGBTQI Gemeinschaft erheblichen Schaden zu. Israel (und seine Verbündeten) benutzen Pinkwashing, um von den Menschenrechts-Verletzungen in den besetzten palästinensischen Gebieten abzulenken. (Link)
ABBILDUNGEN:
(*) Piztu Bilbo Fest (FAT)