2.606 Aktionen, 758 Tote
In ihrer letzten internen Schrift vom April 2018 legte die baskische Untergrund-Organisation ETA Zahlen ihres bewaffneten Kampfes vor. Sie erklärte sich verantwortlich für 758 Tote. Das sind einige Dutzend weniger, als das spanische Innenministerium oder einige spanische Opferverbände behaupten. ETA nutzte die Publikation außerdem für eine Beschreibung ihrer jeweiligen Strategie und deren Änderung über die Jahrzehnte. Dazu nannte sie Kriterien für die Auswahl von Zielen ihrer Attacken und Attentate.
In ihrer letzten internen Verlautbarung – der illegalen Zeitschrift Zutabe – zog die mittlerweile aufgelöste baskische Untergund-Organisation ETA (Euskadi Ta Askatasuna – Baskenland und Freiheit) im April 2018 eine nüchterne Bilanz über die Zahl ihrer Aktionen und Opfer, sowie über die Strategien, die jeweils vorherrschten.
Im Widerspruch zum spanischen Staat, der nie über die Zahlen der durch Polizeikräfte und Rechtsradikale provozierten Opfer und Toten spricht, zieht ETA eine offene Bilanz. Nüchtern und mit Selbstkritik verbunden, aber auch mit Erfolgsmeldungen für jene Situationen, in denen sie für ihre Aktionen Beifall erhielt. Dagegen beiben die Opfer staatlicher Gewalt weiterhin in der Dunkelzone. Auch hier geht es um Hunderte von Toten, um Tausende von Verletzten und Traumatisierten. Doch nach der Auslegung staatlicher Stellen gibt es diese Opfer nicht. Es gab keine Folter, schon gar nicht systematisch wie viele Bask*innen sagen. Tote und Verletzte durch Polizeischüsse werden entweder zu Opfern in Selbstverteidigung oder sie werden als tragische Unfälle bezeichnet. Ihre Zahl und ihr Schicksal zu dokumentieren und damit nicht dem geschichtlichen Vergessen preiszugeben, das haben sich private Organisationen zur Aufgabe gemacht, wie die Stiftung Euskal Memoria oder die Initiative Argentinische Klage.
In den sechs Jahrzehnten ihrer Existenz gab die baskische Untergrund-Organisation ETA in unregelmäßigen Abständen eine interne Zeitschrift heraus: Zutabe, baskisch: Kolumne oder Kolonne. Zutabe war insbesondere an das eigene Umfeld gerichtet, mit dem nicht ganz ungewollten Nebeneffekt, dass auch der politische Gegner oder Feind früher oder später ein Exemplar in die Hände bekam. Selbstverständlich war die Zutabe illegal und wurde nur „unter dem Ladentisch“ weitergegeben.
In der letzten Ausgabe vom April 2018 – einem Monat vor der Bekanntgabe der Auflösung der Organisation – publizierte ETA ein Dokument, in dem die Dimension ihrer bewaffneten Aktionen sowie der Charakter ihrer verschiedenen Strategien beschrieben wurden. Eine Art Bilanz, die auf der einen Seite für die Kenner*innen der Geschichte nicht viel Neues bringt. Die aber andererseits ein paar Details liefert, die sich von der offiziellen staatlichen Version der Ereignisse abheben, bzw. ihr widersprechen. Im Hintergrund dieser unterschiedlichen Beschreibungen steht die künftige geschichtliche Darstellung bzw Bewertung der vergangenen 60 Jahre von ETA. „Relato“ wird dies auf Spanisch genannt, übersetzt am ehesten mit „Erzählung“.
Wie fast alle historischen Ereignisse wird die Laufbahn von ETA Einzug in die Geschichtsbücher halten, bereits heute gibt es an Schulen Unterrichtseinheiten über den baskisch-spanischen Konflikt – die Gretchenfrage ist, was da erzählt werden soll. Über diese Frage herrscht ein regelrechter Interpretationskrieg, in den sogar die baskische Regierung verwickelt ist, weil sie bisher eine relativ nüchtern-neutrale Position einnahm. War ETA nun eine antifranquistische Widerstands-Organisation oder eine terroristische Vereinigung? Ein Konsens in dieser Frage ist nicht in Sicht. Dass von staatlicher Seite, wenn es um Zahlen geht, kräftig manipuliert wird, ist – zumindest im Baskenland – hinlänglich bekannt. Ein ultrarechter Politiker der PP sagte einst: „ETA tötet, aber ETA lügt nicht“ – damit traf er den Nagel auf den Kopf. Tatsache ist, dass sich ETA in ihrer Geschichte immer zu ihren Aktionen bekannte und versuchte, sie zu erklären oder zu rechtfertigen. Oder fast immer – wie aus dem folgenden Text zu erfahren ist, denn zumindest zwei Attentate bilden eine Ausnahme.
Es ist naheliegend, sich in diesem Ausnahmefall an den Satz des Ultrarechten zu halten. Im Gegensatz zu staatlichen Stellen führte ETA den Kampf mit offenem Visier, ließ nie Zweifel an ihrer jeweiligen Strategie und an den Angriffszielen. Durchgeführte Aktionen wurden anerkannt, ob sie gut oder schlecht ankamen. In Anbetracht von 758 Toten gibt es keinen Grund anzunehmen, dass zwei, zehn oder 50 Tote mehr eine große Differenz darstellen – so zynisch das vielleicht klingen mag. Wozu sollte die Organisation – im Rückblick und nach ihrer Auflösung – noch Unwahrheiten verbreiten.
„Falsche Attentate"
Die gegnerische Seite sieht das anders. Praktisch seit ihrem Bestehen wurden ETA verschiedene Aktionen zugeschrieben, die nichts mit ihr zu tun hatten. Um nicht auf ein Dementierungs-Spiel einzugehen, wurden die „falschen“ Attentate und Aktionen von ETA selbst nie kommentiert. Sogar in der letzten Ausgabe der Zutabe-Zeitschrift glänzen sie durch Abwesenheit. Die Praxis der gegnerischen Seite sah anders aus. Mehrfach wurden Mordkommandos oder Todesschwadrone zusammengestellt, Abertzale, Linke und solche, die dessen verdächtig waren, wurden ermordet, verschleppt, entführt, gefoltert. Zu diesen Aktionen bekannten sich jeweils Gruppen, die alle paar Jahre den Namen wechselten. Sie setzten sich zusammen aus Faschisten, Militärs, Polizei und Söldnern. Und waren von Regierungsstellen gesteuert.
Zumindest in einem Fall wurde dies sogar von der sonst parteiischen spanischen Justiz selbst festgestellt. Ansonsten wurde in das Dunkel dieser Art von Terror nie Licht gelassen. Wenn davon die Rede ist, „den verursachten Schaden anzuerkennen“ sind immer ETA und ihr Umfeld, ihre Sympathisant*innen gemeint. Nie die Rechte, die ähnlichen Terror ohne offene Bekenntnisse betrieb. Unermüdlich sind die Versuche, den Konflikt ETA-Staat nicht als Konflikt darzustellen, sondern als einseitigen „verbrecherischen Angriff von Terroristen gegen Demokraten“. Der Franquismus wird ausgeblendet. Derzeit ist am politischen Horizont keine entscheidende Änderung erkennbar. Deshalb kommt dem ETA-Dokument eine gewisse Bedeutung zu auf dem Weg zu einer rationalen Analyse und Aufarbeitung der Geschichte.
Das ETA-Dokument
„Am 9. August 2009 um 18 Uhr brachte ETA ihren letzten Sprengsatz am Plaza Mayor von Mallorca zur Explosion“, heißt es in der April-Ausgabe von Zutabe. Der Text ist die Zusammenfassung einer ausführlicheren Dokumentation. Er liefert relevante Daten, die zur Feststellung der realen Ereignisse im spanisch-baskischen Konflikt beitragen können. Unter anderem räumt ETA ein, 758 Personen getötet zu haben. Das sind 60 bis 80 weniger als das spanische Innenministerium und einige „Verbände der Opfer des Terrorismus“ behaupten. Sie sprechen von 853 bzw. 829 tödlichen Opfern. (1)
Schon lange ist bekannt, das Opferverbände wie AVT oder COVITE (2) in diese Liste auch „falsche“ Attentate aufgenommen haben. Das sind Ereignisse, die nichts mit ETA zu tun haben, wie zum Beispiel der Brand in einem Hotel in Aragon, bei dem 1979 dreiundachtzig Opfer zu beklagen waren. Dazu kommen Opfer von Attentaten anderer bewaffneter Organisationen – ETA war auf der linken Seite lange nicht die einzige seit den 1960er Jahren – diese Opfer werden ebenfalls ETA zugeschlagen und verlängern die Liste. Der bekannteste Fall ist der des Babys Begoña Urroz, das 1961 bei einem Bahnhofsattentat ums Leben kam und von den Opferverbänden als erstes ETA-Opfer bezeichnet wird. Interessant an diesem Fall ist, dass er die Zeit der Anschläge der Organisation um 7 Jahre verlängern würde, fast bis zum Beginn ihrer Existenz. Auch Opfer aus dem „schmutzigen Krieg“ sind da fälschlicherweise aufgelistet.
ETA hat im Laufe ihres Bestehens nach eigenen Angaben 2.604 bewaffnete Aktionen durchgeführt. In diesem kurz vor der definitiven Auflösung ETAs publizierten Schreiben werden auch zwei Attentate aufgeführt, für die es seinerzeit keine Bekennerschreiben gab. Zum einen der Tod von drei Personen in Tolosa 1981, die mit Polizisten verwechselt wurden; zum anderen die Explosion in einer Cafeteria in der Straße Correo in Madrid im Jahr 1974 (Franquismus), bei dem 13 Menschen umkamen. „Nur zwei der Toten hatten eine Verbindung zur nahe gelegenen Generaldirektion für Sicherheit (Dirección General de Segurudad), heißt es im Text lakonisch.
Einige der Attentats-Kampagnen der vergangenen fünf Jahrzehnte werden mit aussagekräftigen Zahlen verdeutlicht. So stellt ETA in ihrem Text fest, gegen die Guardia Civil 365 Attentate verübt und dabei 186 Beamte getötet zu haben; 215 Aktionen galten der spanischen Nationalpolizei mit 135 Toten; und in 147 Aktionen wurden die Streitkräfte angegriffen, wobei 101 Militärs zu Tode kamen – darunter ein Admiral, zwei Vizeadmiräle, 12 Generäle, 31 Oberste, 7 Kapitäne und elf Kommandanten; daneben elf zivile Beamte der Armee.
Der Text beschreibt die Entwicklung der bewaffneten Organisation hauptsächlich aus einer operativen Perspektive. Gleichzeitig wird in besagter Zutabe-Ausgabe die Erklärung abgedruckt, mit der ETA „den Schaden eingestand, den ihre bewaffneten Aktionen verursachten“. Der Text spricht von einer „direkten Verantwortung“ und „bringt zum Ausdruck, dass all das niemals hätte geschehen und sich nicht so lange hätte hinziehen dürfen, weil dieser politisch-historische Konflikt auf demokratische und gerechte Weise gelöst werden müsste“.
Neben den Zahlen und Daten sind in der Dokumentation auch Abschnitte enthalten, die sich auf die Auswahl der Ziele der bewaffneten Aktionen beziehen, sowie auf die angewandten Methoden. Dabei wird nicht auf Selbstkritik verzichtet. Die Beschreibung beginnt mit einer Aktion, bei der 1961 ein mit Franquisten beladener Zug zum Entgleisen gebracht wurde, die Rede ist vom Versuch, Franco 1962 in Donostia (San Sebastián) umzubringen. „Die Dynamik Aktion-Repression-Aktion erhöhte die Anerkennung der Bevölkerung gegenüber ETA und ihren Kampfformen, schließlich war ETA in jener Zeit die einzige Organisation, die dem Regime einen entschiedenen Widerstand entgegensetzte“.
Entscheidungen nach Franco
Nach dem Tod Francos „wurde die Theorie des bewaffneten Aufstands aufgegeben, die in den ersten Jahren ihrer Existenz die Strategie bestimmt hatte, die bewaffnete Aktion richtete sich nun auf das Erreichen eines Minimums an demokratischen Rechten für Euskal Herria (Baskenland)“. Es folgten Kampagnen gegen franquistische Bürgermeister oder der Beginn einer permanenten Offensive gegen die Guardia Civil und die spanische Polizei.
Ausgeführt wird, dass „zwischen 1975 und 1982 mehr als 800 bewaffnete Aktionen stattfanden. Gleichzeitig wird festgestellt: „doch wir haben es nicht geschafft, den demokratischen Bruch zu provozieren“. Die Antwort der gegnerischen Seite waren der Plan ZEN (3) oder die GAL-Todesschwadrone (4). „Als wir kapierten, dass die grundsätzlichen Spielregeln bezüglich des Rechts auf Selbstbestimmung sich nicht verändert hatten, beschlossen wir, den bewaffneten Kampf auch in Zeiten der Pseudo-Demokratie weiterzuführen. Tatsächlich war der bewaffnete Kampf von ETA der entscheidende Faktor, der verhinderte, dass das Projekt Spanien seine Normalisierung erlebte. In diesem Kontext wurde verhindert, dass der baskische Unabhängigkeits-Kampf assimiliert wurde. Es war keine einfache Entscheidung“, so der Text weiter.
Die anschließende Phase Anfang und Mitte der 1980er Jahre war geprägt von der „Sammlung von Kräften als Voraussetzung für Verhandlungen“. In jenen Jahren „erlangte ETA militärisch und logistisch ein relativ hohes Niveau, das ihr ermöglichte, den Strukturen des Staates ständig Schläge zu versetzen“. Dazu gehörten Attentate gegen die Armee, die Guardia Civil, das Justizsystem, sowie wirtschaftliche und touristische Objekte. „Damals waren Magnetbomben und Autobomben angesagt“, heißt es. Ab 1987 kam die Nutzung von Granaten, Paketbomben und Briefbomben hinzu, die allesamt von ETA selbst hergestellt wurden“.
„Nach einer Dekade von harter militärischer Aktivität mit 827 Aktionen zwischen 1982 und 1989“ kam der Moment der Verhandlungen von Algier, so der Text. Nach Vorgesprächen verkündete ETA im Januar 1989 einen bis März anberaumten Waffenstillstand, den ersten in ihrer Geschichte. Daraufhin begannen Verhandlungen mit der damaligen Regierung Gonzalez in der algerischen Hauptstadt Algier. Auf Seiten der Regierung verhandelte der Chef der Staatssicherheit, Rafael Vera, der später wegen der Organisation von Todesschwadronen zu mehrjähriger Haft verurteilt wurde. Auf ETAs Seite saßen Ignacio Arkama, Belén González Peñalva und Eugenio Etxebeste „Antxon“ am Verhandlungstisch. Nach anfänglich gutem Verlauf der Gespräche mit der Option einer Verlängerung des Waffenstillstands, scheiterten die Verhandlungen im April 1989. ETA ging wieder zu Attentaten über. Das Scheitern von Algier bedeutete keine große Änderung der Situation. Ein „heftiger Rückschlag“ hingegen war aus ETA-Sicht die Festnahme der Führungsgruppe der Organisation in Bidart 1992, als französische Spezialkräfte 20 Kilometer hinter der Grenze in einer Wohnung Francisco Múgica Garmendia, José Luis Álvarez Santacristina und Joseba Arregi Erostarbe festnahmen. „Das führte bei ETA zu einer Erneuerung ihrer politischen Linie. Es begann eine intensive Reflexion über die politisch-militärische Strategie“.
In der Folge setzte ETA nicht mehr auf das Erreichen von Verhandlungen mit dem Staat, sondern „auf den nationalen Aufbau und die Miteinbeziehung der Bevölkerung in Entscheidungsprozesse. Das hatte auch Konsequenzen bei der künftigen Auswahl von Attentatsobjekten“. Erstes Ziel war Jose Maria Aznar, der wenig später spanischer Ministerpräsident werden sollte; hohe juristische Amtsträger, sowie Dutzende von gewählten Politikern. „Wir hielten die Spannung aufrecht bis 1998, als die Grundlagen für eine neue politische Situation geschaffen waren“. In jenem Jahr kam es zum sogenannten Lizarra-Garazi-Pakt, an dem verschiedene baskische Parteien unterschiedlicher Couleur beteiligt waren, von der christdemokratisch-natonalistischen PNV über die baskische Linke bis hin zur Vereinigten Linken. ETA verkündete einen unbefristeten Waffenstillstand. Dies bedeutete das Ende der Isolation der baskischen Linken, verschiedene neue Institutionen wurden geschaffen. „Die Vorzeichen der Konfrontation änderten sich. Vorher hieß das Panorama ‘Demokraten gegen Radikale‘, nun hieß es ‘Euskal Herria versus Spanien‘.“
In Richtung Auflösung
Nach dem Scheitern des Paktes von Lizarra-Garazi erscheint ein weiterer Abschnitt mit Selbstkritik. „ETA zeigte enorme Fähigkeiten im militärischen Bereich, doch fehlte das Gleichgewicht mit der politischen Initiative. Zahlreiche Sektoren der Bevölkerung sahen im Lizarra-Garazi-Pakt, dass ein anderer Weg möglich war und brachten nach dessen Scheitern ihre Zweifel gegenüber des bewaffneten Kampfes zum Ausdruck“. Ergänzt wird im Text, dass nach dem Beginn der Illegalisierung der baskischen Linken die ETA-Strategien wirkungslos wurden, „weil ETA nicht in der Lage war, diese Konjunktur mit bewaffneten Aktionen zu markieren“.
Der islamistische Anschlag am 11. März 2004 in Madrid verschärfte diese Situation. Danach versuchte die Organisation, bei ihren Aktionen weniger Sprengstoff zu benutzen und ihnen einen eher symbolischen Charakter zu geben. Einige Angriffs-Fronten wurden beendet. „Wesentliches Ziel von ETA war der demokratische Prozess, der im Baskenland entwickelt werden sollte und der ein geeignetes Dialog-Ambiente schaffen sollte“.
Auf diesem Weg kam es zu Verhandlungen mit der Zapatero-Regierung zwischen 2005 und 2007. Auch diese blieben letztendlich ergebnislos. Bekanntermaßen bedeutete der Anschlag auf das T4-Parkhaus im Flughafen in Madrid das symbolische Ende dieser Verhandlungen. Die folgenden Entscheidungen der Organisation führten schließlich erst zum definitiven Waffenstillstand, dann zur Waffenabgabe und schließlich zur Auflösung. Das wurde bereits in anderen Dokumenten beschrieben und an dieser Stelle folgendermaßen resümiert: „ETA hatte jahrzehntelang die Funktion, im Befreiungskampf Fortschritte zu provozieren. Irgendwann ging die Fähigkeit verloren, über bewaffnete Aktionen neue politische Szenarien zu schaffen was die Frage der baskischen Selbstbestimmung anbelangt. In Anbetracht dieser Ermüdungsanzeichen und um gefährliche Blockadesituationen zu verhindern, wurden die Überlegungen verstärkt, den bewaffneten Kampf zu beenden“.
Geschichte in groben Zügen
In groben Zügen und mit Jahres-Sprüngen überfliegt der Text die ETA-Geschichte. Vor allem für außenstehende Beobachter*innen wären mehr Details notwendig, um die Dynamik der Auseinandersetzungen besser verstehen zu können. Dies ist an dieser Stelle nicht ausreichend möglich. Interessant ist die Analyse auch deshalb, weil sich Teile, insbesondere der letzte, deutlich abheben vom Diskurs der heutzutage offiziellen baskischen Linken, die sich in der Partei Sortu neu organisiert hat. In dieser Partei herrscht ein optimistischer Diskurs vor, der von Erfolgen spricht und vom richtigen Moment des „Paradigmen-Wechsels“, das heißt vom Wechsel der Strategie des bewaffneten Kampfes zur institutionellen Arbeit. Im ETA-Text liest sich dieselbe Phase eher wie eine Niederlage.
Erinnert sei zum Beispiel daran, dass bei den Verhandlungen von 2006 vonseiten der baskischen Linken die Rücknahme des spanischen Parteiengesetzes im Mittelpunkt stand, jene Brechstange, mit der die Mehrzahl der Organisationen der baskischen Linken illegalisiert und zerschlagen worden war. Eine Rücknahme konnte nicht erreicht werden. Stattdessen wurde die neue Partei Sortu innerhalb der politischen Limitationen eben dieses Gesetzes gegründet – ein politischer Schwenk um 180 Grad, der nicht von Stärke zeugt und von vielen an der politischen Basis nicht nachvollzogen werden konnte. Von der aktuellen Situation der verbleibenden politischen Gefangenen – weit entfernt vom Baskenland weggeschlossen, ohne Aussicht auf vorzeitige Haftentlassung – ganz zu schweigen.
Von Manzanas zu Aznar – Erläuterungen
Der in der letzten Ausgabe von ETAs Zutabe-Zeitschrift publizierte Text trägt den Titel „Entwicklung der bewaffneten Aktion von ETA, ein mit dem Befreiungsprozess verbundener Werdegang“. Er beinhaltet neue und relevante Details über Aktionen und Angriffs-Kampagnen. Im Folgenden einige Auszüge. (1)
Meliton Manzanas, der erste und nicht zufällig
„Der Tod des ETA-Kämpfers Txabi Etxebarrieta im Jahr 1968 hinterließ in der baskischen Gesellschaft einen tiefen Eindruck. Die kurz darauf folgende Aktion gegen Manzanas wurde als Antwort oder Racheaktion wegen Txabi Etxebarrieta interpretiert. Doch war die Entscheidung für die Aktion bereits vor Txabis Tod getroffen worden, als allgemeine Antwort auf den franquistischen Terror“. – Meliton Manzanas war ein in Donostia eingesetzter spanischer Polizist und berüchtigter Folterer, dessen Gräueltaten viele Bask*innen erlitten. Manazanas hatte auch mit der Gestapo der Nazis kollaboriert. Er war verhasst wie kaum ein anderer Franquist und wurde zu einem „logischen“ Attentatsziel für ETA. – Der aus Bilbao stammende Txabi Etxebarrieta war trotz seiner nur 24 Jahre einer der Strategen von ETA, er starb bei einer Kontrolle der Guardia Civil nahe Tolosa, nachdem zuvor ein Guardia zu Tode gekommen war.
Carrero, politischer Einfluss und Prestige-Gewinn
„Im Dezember 1973 versetzte ETA dem Regime den bis dahin wirkungsvollsten Schlag: die Aktion gegen Carrero Blanco, spanischer Präsident und designierter Nachfolger Francos, beschleunigte das Ende des Franquismus. Das Attentat machte deutlich, dass ETA bei den politischen Veränderungen als wichtiger Faktor zu sehen war. Die Aktion brachte ETA ein großes Prestige, in den Augen vieler wurde sie zum Symbol des Kampfes für Demokratie und Freiheit, nicht nur im Baskenland“. – Carrero Blanco (1904-1973) war ein spanischer Militär-Admiral, der bereits im Krieg von 1936 teilgenommen hatte und von Franco im Juni 1973 zu seinem Nachfolger bestimmt wurde. ETA sprengte sein gepanzertes Fahrzeug am 20.12.1973 über einen Madrider Häuserblock hinweg.
Lemoiz, die Schlacht, die das Volk gewann
Lemoiz war eines von drei AKWs, die das Franco-Regime im Baskenland geplant hatte. Der Bau wurde zur Geburtsstunde der baskisch-spanischen Anti-AKW-Bewegung. Während der Konstruktion gab es immer wieder Angriffe und Sabotageaktionen, ETA entführte zwei führende Ingenieure und brachte sie um. Obwohl so gut wie fertig wurde Lemoiz nie in Betrieb genommen, Betreiberfirma und Zentralregierung verzichteten 1984 definitiv. „Das Eingreifen ETAs in den Kampf gegen Lemoiz war ein wichtiger Beitrag bei jenem Erfolg der Volksbewegung. Lemoiz stellte in den Augen vieler Sektoren der Bewegung die Wirksamkeit des bewaffneten Kampfes unter Beweis und machte deutlich, dass bei solcherart Bewegungen verschiedene Formen des Kampfes zusammen wirken“. – Dennoch gab es viele kritische Stimmen aus der Bewegung, die gegen ETAs Eingreifen waren, weil dies in ihren Augen den ökologischen Kampf in Misskredit brachte.
Hipercor: größter Irrtum, größtes Unglück
Am 19. Juni 1987 brachte ETA nach verschiedenen Warnungen einen Sprengsatz im Kaufhaus Hipercor von Barcelona zur Explosion. Dabei starben 21 Personen. „Hipercor war der größte Irrtum und die schlimmste Konsequenz der bewaffneten Aktion von ETA. Obwohl ETA wie üblich die Verantwortlichen bei der Polizei und in der Verwaltung mehrfach über den Sprengsatz informierte, entschieden diese Stellen, das Gebäude nicht zu evakuieren. Die Aktion hinterließ einen langen Schatten. Sie hatte nicht nur unermesslichen menschlichen Schaden zur Folge, sondern weckte auch viele Zweifel über den Charakter des bewaffneten Kampfes. Dass ETA die Verantwortung übernahm und Selbstkritik übte vermindert nicht die negativen Folgen des Attentats“. – Tatsächlich wurde viel später von einem Gericht festgestellt, dass die Behörden falsch agiert hatten und das Gebäude hätte geräumt werden müssen, nachdem ETA mehrfach und bei verschiedenen Stellen auf die Bombe hingewiesen hatte.
Gegen Aznar, bis zu vier Mal
„Der Strategiewechsel von 1994-1995 räumte qualitativen Aspekten eine größere Bedeutung ein als quantitativen. Das Attentat von 1995 gegen den kurz danach gewählten spanischen Ministerpräsidenten Jose Maria Aznar, der Attentatsversuch gegen den spanischen König 1995 in Mallorca … Im Jahr 2001 wurden drei weitere Versuche gegen Aznar unternommen, darunter mit einer Rakete, als er in einem Flugzeug saß“.
Lange Entführungen in den 1990er Jahren
„Die Entführungen mit dem Ziel, Lösegelder zu erpressen, verwandelten sich zum Fokus einer harten Auseinandersetzung. Die Entführungen des Unternehmers Jose Maria Aldaia (342 Tage) und des Oligarchen Cosme Delclaux (232 Tage) verlängerten sich wegen technischer und operativer Probleme, die durch den Druck der Polizei entstanden“. – Beide Entführte wurden am Ende freigelassen, der Gefängnisbeamte Jose Antonio Ortega Lara wurde nach insgesamt 532 Tagen von der Polizei befreit.
(Publikation: baskultur.info 2018-11-12)
ANMERKUNGEN:
(1) Alle Zitate und Basis-Information aus: „ETA asumió en su último Zutabe 2.606 acciones y 758 muertes” (In ihrem letzten Bulletín, genannt Zutabe, erklärt sich ETA verantwortlich für 2.606 Aktionen und 758 Tote), Tageszeitung Gara 2018-11-06
(2) AVT, COVITE: „Asociación de Víctimas del Terrorismo” und „Comité de Victimas del Terrorismo” sind die beiden größten Opferverbände, die sich ausschließlich auf ETA beziehen. Sie vertreten nicht nur die Opfer bzw. deren Angehörige, sondern haben sich zu einer ultrarechten politischen Lobby entwickelt, die ständig Strafverschärfungen fordert, die protestiert, wenn kranke Gefangenen „legal“ entlassen werden etc. Andere Opferverbände (zum Beispiel Betroffene der islamistischen Attentate von 2004 in Madrid) werden von den beiden erstgenannten Organisationen mitunter diffamiert, weil sie sich dem ultrarechten Diskurs nicht anschließen. Auch im Baskenland selbst gibt es einige Opfergruppen, die sich von AVT und COVITE deutlich abgrenzen, bzw. die an sog. Versöhnungsinitiativen arbeiten und teilweise sogar die Haftentlassung von ETA-Gefangenen fordern.
(3) Plan ZEN: Ein vom spanischen Innenministerium ausgearbeiteter Plan zur Aufstandsbekämpfung im Baskenland. Er wurde 1983 vom später wegen Staatsterrorismus verurteilten Innenminister Barrionuevo von der Sozialistischen Partei PSOE vorgestellt. Zu gleicher Zeit organisierte das Ministerium Todesschwadrone im Nordbaskenland.
(4) GAL: Grupos Antiterroristas de Liberación – deutsch: Antiterroristische Befreiungsgruppen. Aus Neonazis, Polizei, Armee und Söldnern bestehende Todesschwadrone, zwischen 1983 und 1987 im Nordbaskenland aktiv, von der PSOE-Regierung beauftragt und bezahlt (Link)
ABBILDUNGEN:
(1) Zutabe Zeitung
(2) Txabi Etxebarrieta Plakat
(3) Meliton Manzanas (Zeitung)
(4) ETA-Erklärung
(5) Carrero-Attentat (europapress)
(6) AKW Lemoiz (vanguardia)
(7) Hipercor-Attentat (vanguardia)
(8) Luis Carrero Blanco
(9) Txabi Etxebarrieta