erdbeben01Keine Hilfe für Aleviten und Jeziden

Erdbeben in der Türkei und Syrien. Ausgerechnet der kurdische Teil der Türkei und die von kurdischen Befreiungskräften kontrollierten syrischen Gebiete wurden zum Zentrum des Bebens. Wer die Situation in Kurdistan kennt und dazu die totalitäre antikurdische Haltung der Regierung in Ankara, musste Schlimmes befürchten. Internationale Helfer sind unterwegs, doch Kurden und Aleviten erhalten keine Hilfe. Mit Blockade werden die Minderheiten extra geschädigt, wir sprechen von Völkermord. Ein ANF-Bericht.

Die türkische Regierung nutzt das Erdbeben, um in den von Kurdinnen und Kurden bewohnten Gebieten Hilfe zu blockieren, Hilfsgüter zu beschlagnahmen und sie mit dem Ausnahmezustand zu belegen. Nach dem tektonischen kommt das politische Beben.

Türkische Regierung unterbindet zivile Katastrophenhilfe

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat in zehn vom Erdbeben betroffenen Provinzen den Ausnahme-Zustand verhängt. Dadurch wird sowohl zivile Selbsthilfe verhindert als auch transparente Berichterstattung unterbunden. Bei den Erdbeben in zehn Provinzen in der Türkei, deren Epizentren die Bezirke Markaz (türkisch: Pazarcik) und Elbistan in der Provinz Gurgum (Maras) waren, kamen Tausende Menschen ums Leben, die Zahl der unter den Trümmern eingeschlossenen Menschen ist unbekannt. Selbst zwei Tage nach dem Erdbeben gibt es Siedlungen, die noch keine staatliche Hilfe erreicht hat. Die Menschen versuchen, die unter den Trümmern Eingeschlossenen mit ihren eigenen Mitteln zu retten. Doch anstatt die zivile Katastrophenhilfe zu stärken und weitere Hilfsmaßnahmen für die Erdbebenopfer zu planen, hat die türkische Regierung am zweiten Tag nach dem Beben den Ausnahme-Zustand ausgerufen. (1)

Der türkische Präsident Erdogan sagte in einer Rede an die Nation: “Das Ausmaß der Erdbeben-Katastrophe und ihre Auswirkungen machen es für uns zwingend erforderlich, außergewöhnliche Maßnahmen zu ergreifen. Wir erklären zehn Provinzen, in denen sich das Erdbeben ereignet hat, zu Katastrophengebieten.“ Weiter sagte er: “Wir haben beschlossen, auf der Grundlage der uns durch die Verfassung verliehenen Befugnisse in den am stärksten von dem Erdbeben betroffenen Provinzen für die Dauer von drei Monaten den Ausnahme-Zustand zu verhängen, um sicherzustellen, dass die Such- und Rettungs-Maßnahmen und die anschließenden Arbeiten schnell durchgeführt werden können."

Erdogans Wahlkampf verhindert lebensrettende Hilfsmaßnahmen

erdbeben02Es ist zu befürchten, dass Erdogan das Erdbeben und die Verhängung des Ausnahme-Zustands ausnutzen wird, um vor allem oppositionelle Kräfte daran zu hindern, die dringend notwendige Selbsthilfe in den betroffenen Gebieten zu organisieren. So will Erdogan die Gunst der Stunde nutzen und die Katastrophe als Vorwand dafür verwenden, die bevorstehenden Wahlen in den kurdischen Gebieten unter Bedingungen des Ausnahme-Zustands durchzuführen.

Bereits kurz nach dem ersten Beben organisierten zivilgesellschaftliche Organisationen, politische Parteien und die Zivilbevölkerung in den betroffenen Gebieten Hilfe mit ihren eigenen Mitteln, während die zuständigen staatlichen Stellen untätig blieben. Mit der Verhängung des Ausnahme-Zustands wird die selbstorganisierte Hilfe verhindert oder stark eingeschränkt.

Eingeschränkte Berichterstattung aus den Katastrophengebieten

Darüber hinaus ist zu erwarten, dass durch den Ausnahme-Zustand die Berichterstattung aus den Gebieten stark eingeschränkt wird und damit die verheerenden Auswirkungen der Katastrophe und das Versagen der staatlichen Nothilfe verschleiert wird. Vor allem in den kurdischen Gebieten ist durch die Erfahrungen nach dem schweren Erdbeben in Wan 2011 das Misstrauen in die staatliche Katastrophenhilfe berechtigterweise groß. Auch nach dem Beben vom 6. Februar 2023 zeigt sich, dass der Einsatz der Rettungskräfte unzureichend und die Bereitstellung von Hilfsgütern für die Betroffenen fraglich ist.

Die Türkei befindet sich mitten im Wahlkampf, darum ist es gerade jetzt für Erdogan und seine AKP/MHP-Regierung wichtig, kritische Stimmen zum Verstummen zu bringen. Vor allem bezüglich des Ausmaßes der Zerstörung und der Zahl der Opfer gehen die offizielle Berichterstattung, Augenzeugenberichte und die Angaben Betroffener weit auseinander. Während die Regierung so tut, als habe sie die Lage im Griff, berichten Menschen aus den Katastrophen-Gebieten, dass sie noch gar keine Hilfe bekommen hätten. Bilder und Berichte der Menschen vor Ort, der NGOs und der Oppositions-Parteien sind unerwünscht und sollen nun durch die Verhängung des Ausnahme-Zustands verhindert werden.

Erdbeben ist Schicksal, die Folgen von Menschen verursacht

Schon jetzt wird die Frage gestellt, ob das Ausmaß der bei dem Beben entstandenen Zerstörung nicht durch eine stabilere Bauweise hätte eingeschränkt werden können. Es ist allgemein bekannt, dass die Türkei Erdbebengebiet ist, in den vergangenen Jahren gab es immer wieder Beben. Kritisiert wird, dass in den letzten Jahren vor allem die Neubauten in einer so schlechten Qualität hochgezogen wurden, dass sie beim Beben in sich zusammenstürzten wie Kartenhäuser. Davon sollen vor allem die Wohnblock-Siedlungen der staatlichen Baubehörde TOKI betroffen gewesen sein.

Zivile Katastrophenhilfe wird unterbunden

Der Minister für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel sagte: “Wir werden keine andere Koordinierung als die durch die staatliche Katastrophenhilfe zulassen." Auch Sach- und Geldspenden dürfen nur über AFAD gesammelt werden. Mit dieser Begründung werden die von NGOs gesammelten Hilfsgüter für die Erdbebenopfer beschlagnahmt. (1)

Hatay: “Es wurde keine Hilfe geschickt, weil wir Aleviten sind"

erdbeben03Die Lage in Hatay, einer vom Erdbeben stark betroffenen Provinz mit einem großen alevitischen Bevölkerungsanteil in der Südtürkei, ist katastrophal. Die Menschen fühlen sich vom Staat und der Regierung in jeder Hinsicht allein gelassen. (2) In einem der Ort, in dem die verheerenden Auswirkungen des Erdbebens am mit stärksten zu spüren sind, wurden die Menschen ihrem Schicksal überlassen. Die staatliche Katastrophenschutz-Behörde AFAD behauptet zwar, alle vom Erdbeben betroffenen Gebiete mit Hilfsgütern zu versorgen, aber die Lage ist katastrophal. Die Menschen kämpften tagelang darum, ihre Angehörigen aus den Trümmern zu befreien, ohne Strom, Wasser und hygienische Bedingungen. Da Baumaschinen nicht rechtzeitig in die Region geliefert wurden, starben viele verschüttete Menschen, deren Stimmen unter den Trümmern noch zu hören waren.

Die Leichenhallen sind überfüllt und die Toten werden in Decken eingewickelt in den zerstörten Wohnvierteln aufbewahrt. Die Menschen fühlen sich vom Staat und der Regierung in jeder Hinsicht allein gelassen. Dank der Hilfe zahlreicher politischer Parteien wie HDP, TÖP, TKP, TİP und weiterer Organisationen, die zur Mobilisierung aufgerufen hatten, konnten Lebensmittel und Versorgungsgüter geliefert werden.

Erst 56 Stunden nach dem Erdbeben trafen Baumaschinen in der Region ein. Viele Menschen, darunter auch Kinder, wurden nach stundenlangen intensiven Bemühungen einer kleinen Zahl von Rettungsteams lebend aus den Trümmern geborgen. Gegenüber ANF erklärten Menschen aus Hatay: “Es wurde keine Hilfe geschickt, weil wir Aleviten sind."

“Die Menschen sind gestorben, weil keine Hilfe kam“

Ein Team der Partei für Soziale Freiheit (TÖP), die sich mit der HDP und weiteren Parteien im Bündnis für Arbeit und Freiheit zusammengeschlossen hat, kam 48 Stunden nach dem Erdbeben ins Viertel Kücükdalyan in Hatay. Das Wohnviertel gehört zu den Gegenden, in denen der Staat keine Hilfe geleistet hat.

Sami Demir, einer unserer Gesprächspartner in Hatay, wies darauf hin, dass Kücükdalyan eines der am stärksten zerstörten Viertel sei, aber bisher keine staatliche Einrichtung vor Ort gewesen sei. Alle Leichen befänden sich weiterhin unter den Trümmern: “Obwohl es sich um das erste Viertel am Eingang der Stadt handelt, sind weder die Gendarmerie noch die Polizei oder AFAD hier gewesen. Es gibt mindestens 500 Tote in der Nachbarschaft. Ich sah die Füße der Tochter meiner Tante in den Trümmern, aber ich konnte das Gebäude aus Angst nicht berühren. Hätten sie wenigstens einen Bagger geschickt, hätten wir ein paar Menschenleben retten können, aber niemand ist gekommen, um die Trümmer zu beseitigen. Sie haben uns kein Wasser gegeben, sie haben nicht einmal Suppe ausgeteilt. Niemand kam vorbei. Ich habe drei Tage lang nicht geschlafen und schließlich die Fenster zum Markt eingeschlagen, um Essen für die Kinder zu holen."

“Der Staat ist nicht für Aleviten da“

Die ausgebliebene Hilfe sei darauf zurückzuführen, dass Kücükdalyan ein alevitisches Viertel ist, erklärte Demir: “Genau das ist der Grund, warum keine Hilfe geleistet wurde. Meine Tochter hat mir Medikamente aus Mersin geschickt, aber der Staat hat uns keine Medikamente geschickt. DA wurde nicht gefragt, ob wir tot oder lebendig sind. Außerdem besteht die Hälfte des Viertels aus älteren Menschen. Verdammt sei ein solches System. Der Staat ist nicht für Aleviten da."

Der Großteil der Bevölkerung von Hatay ist alevitisch

Das Subasi-Viertel, das wir besuchten, befand sich in derselben Situation. Der Strom ist ausgefallen und die Menschen waren wütend. Hüseyin Kus, einer der Überlebenden, sagte, dass weder der Staat noch AFAD das Viertel besucht hätten. Kus erklärte, das achtstöckige Gebäude, in dem er wohnte, sei dem Erdboden gleichgemacht worden und seit drei Tagen sei keine Hilfe eingetroffen.

Sergen Kus bestätigte die Aussagen seines Vaters und sagte: “80 bis 90 Prozent der Bevölkerung von Hatay sind Aleviten, und deshalb stehen wir an dritter oder vierter Stelle, was die Hilfe angeht. Das ist nicht neu, das ist schon seit Jahrhunderten so. Es kam keine Hilfe und es wurden weder Lebensmittel noch Zelte geliefert. Wir schlafen auf der Straße und machen ein Feuer, um uns warm zu halten. Wir haben einen Supermarkt, vor dem wir Wache halten müssen, um zu verhindern, dass er geplündert wird.“ (2)

HDP-Krisenkoordination: “Kein Schicksal, sondern Mord“

Die Demokratische Partei der Völker (HDP) hat nach dem Erdbeben in der Türkei ein Krisen-Koordinations-Zentrum eingerichtet und auf einer Pressekonferenz in Ankara über die bisherige Arbeit und die Defizite vor Ort informiert. “Wir arbeiten ununterbrochen. Unsere Koordinierungs-Stellen vor Ort sind rund um die Uhr telefonisch erreichbar. Wir versuchen, alle zu erreichen, die in den Erdbebengebieten Hilfe benötigen, und informieren die Katastrophenschutz-Behörde AFAD unverzüglich.“ (3)

“Die Regierung lügt“

“Was in der Erdbebenregion geschieht, steht im krassen Gegensatz zu dem, was die AKP/MHP-Regierung sagt. Die Realität sieht ganz anders aus, sie ist entsetzlich. Es gibt Bezirke, Dörfer und Siedlungen, die noch nicht erreicht wurden und in denen noch nicht einmal die geringste Hilfe geleistet wurde. Bei uns gehen viele Anrufe ein. Nach unseren Informationen befinden sich Tausende unter den Trümmern. Die Interventionen sind völlig unzureichend und die Menschen unter den Trümmern werden ihrem Schicksal überlassen.

Aufbau von Solidaritätsnetzwerken

Neben unserer Koordination gibt es Delegationen, die in das Erdbeben-Gebiet gereist sind, wir organisieren auch direkte Hilfe vor Ort: Unsere Mitglieder und die Parteijugend beteiligen sich mit der Bevölkerung an Rettungsarbeiten. Wir haben eine Nothilfeliste für benötigte Materialien erstellt, die wir über unsere Social-Media-Accounts weithin bekannt gemacht haben. Damit haben wir Solidaritätsnetze aufgebaut, um die Wunden des Erdbebens gemeinsam zu heilen. Wir bauen dieses Netz mit Unterstützung aus dem In- und Ausland weiter aus.

“Kein Schicksal, sondern Mord“

erdbeben04Wir haben es mit einer Regierung zu tun, die den Tod als Schicksal betrachtet und die Öffentlichkeit bedroht. Die weltweiten Erfahrungen zeigen uns, dass Naturkatastrophen kein Schicksal sind. Die Todesfälle, die nach Katastrophen auftreten, sind das Ergebnis einer falschen Urbanisierung und eines auf Profit basierenden Systems.

Ist es Schicksal, die eingenommenen Erdbeben-Steuern zu verschleudern und in mehrspurige Straßen zu investieren? Gehört es zum Schicksal, nicht auf die Wissenschaft zu hören und keine Vorkehrungen gegen eine vorhersehbare Katastrophe zu treffen? Ist es schicksalhaft, Bauaufträge an bevorzugte Auftragnehmer zu vergeben und Gebäude an ungeeigneten Orten zu errichten? Gehört es zum Schicksal, in Kanonen und Panzer zu investieren und Milliarden Dollar für den Krieg auszugeben, aber zu verschwinden, wenn es um die Beseitigung der Trümmer geht? Ist es Teil des Schicksals, Einkaufszentren an Orten zu bauen, die als Erdbebengebiete ausgewiesen sind? Nein! Deshalb sagen wir, dass dies kein Schicksal, sondern Mord ist“. (3)

Lügen aus dem türkischen Verteidigungs-Ministerium

Die Befreiungskräfte Efrins (Hêzên Rizgariya Efrînê, HRE) haben eine Meldung des türkischen Verteidigungsministeriums dementiert. Das Ministerium hatte behauptet, dass die Volksverteidigungs-Einheiten YPG von Tel Rifat aus die türkische Militärbasis Öncüpinar mit Artilleriegranaten angegriffen haben. Die HRE teilen dazu mit (4):

“Das Verteidigungs-Ministerium des türkischen Besatzerstaats hat heute eine Erklärung abgegeben und behauptet, dass die YPG die Basis der türkischen Armee in Öncüpinar von Tel Rifat aus mit schweren Waffen angegriffen haben. Die YPG haben jedoch keine Einheiten in Tel Rifat. In dem Gebiet sind nur unsere Kräfte. Und unsere Kräfte haben in dieser Zeit, in der unser Volk von einem schweren Erdbeben getroffen wurde, keinen Angriff auf feindliche Stützpunkte durchgeführt. Die Behauptung der türkischen Besatzungsmacht ist unwahr“.

“Vielmehr haben die türkischen Besatzungstruppen unsere Gebiete angegriffen. Die türkische Armee hat am 6. Februar die Region um Tel Rifat bombardiert. Tel Rifat ist ein vom Erdbeben betroffenes Gebiet. Unser Volk wird von der türkischen Armee selbst in einer solchen Situation angegriffen. Die Behauptungen des türkischen Verteidigungs-Ministeriums sind erlogen und werden in Umlauf gebracht, um die Realität zu verzerren.“ (4)

ANMERKUNGEN:

(1) “Türkische Regierung verhindert zivile Katastrophenhilfe“, ANF, 2023-02-09 (LINK)

(2) “Hatay: Es wurde keine Hilfe geschickt, weil wir Aleviten sind", ANF, 2023-02-08 (LINK)

(3) HDP-Krisenkoordination: “Kein Schicksal, sondern Mord“, ANF, 2023-02-09 (LINK)

(4) “HRE: Das türkische Verteidigungsministerium lügt“, ANF, 2023-02-07 (LINK)

ABBILDUNGEN:

(*) Erdbeben Kurdistan (anf)

(PUBLIKATION BASKULTUR.INFO 2023-02-09)

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